28.

Am Montag fasste Sina spontan den Entschluss, allein einkaufen zu fahren. Smilla war stets zur Stelle, wenn sie sie brauchte, und half ihr wirklich gern. Doch Sina wollte wenigstens versuchen, es auch ohne Hilfe zu schaffen. Schließlich konnte es nicht endlos so weitergehen. Ihr Plan sah vor, nur wenige Artikel zu besorgen, damit sie den Laden schnell wieder verlassen konnte. Seit dem Verschwinden von Bent hatte sich der Bedarf an Lebensmitteln für Udo und sie deutlich reduziert. Sie aßen nur noch, weil es sein musste, Appetit hatten sie beide nicht.

Sina parkte vor dem Einkaufszentrum und begab sich auf dem kürzesten Wege in die Lebensmittelabteilung. Sie packte Müsli und Knäckebrot in den Wagen, außerdem zwei Packungen Kaffee. Jetzt fehlten nur noch Sauerrahm und Milch, dann sollte es für heute reichen. Sie spähte zu den Kassen, um herauszufinden, wo die wenigsten Kunden anstanden. Zum Glück waren keine Kinder in der Nähe. Die Angst, der Vorfall vom letzten Mal könnte sich wiederholen, trieb ihr den kalten Schweiß auf die Stirn. Vor einer der Kassen war es fast leer, eine einzelne Kundin packte gerade ihre Sachen vom Band in einen Korb. Zielstrebig ging Sina darauf zu. Sie musste am Regal mit den Zeitschriften vorbei, rasch wandte sie den Blick ab. Plötzlich Bents Bild auf einer Titelseite zu entdecken wäre mehr, als sie ertragen konnte. Dabei übersah sie einen Aufsteller mit Taschenbüchern und stieß dagegen. Er geriet ins Wanken, einige der Bücher fielen zu Boden. Erschrocken stellte Sina ihren Einkaufswagen ab, sammelte die Bücher auf und stopfte sie irgendwo in die Lücken. Nun bloß weg von hier, der Gang vor der Kasse war zum Glück immer noch leer. Sie schaffte es, als Erste dort zu sein, gleich darauf stellten sich zwei weitere Kunden hinter ihr an. Die Kassiererin trug ihr leuchtend blau gefärbtes Haar zu einem Bob frisiert. In ihrem rechten Nasenflügel steckte ein goldfarbener Ring. Sina packte ihre Einkäufe auf das Band und stutzte, als sie das Taschenbuch sah. Wie kam das in ihren Einkaufswagen? Es gab nur eine Erklärung, es musste unbemerkt hineingefallen sein, als sie gegen den Aufsteller mit den Büchern gestoßen war. Nun war es zu spät, es zurückzubringen. Die Kassiererin, die alle anderen Artikel bereits mit atemberaubender Geschwindigkeit eingetippt hatte, schaute Sina erwartungsvoll an. Hinter ihr hatten sich bereits weitere Kunden angestellt. Sina sah keine andere Möglichkeit, als das Buch auf das Band zu legen. Sie ärgerte sich über die unnütze Ausgabe, aber die paar Kronen musste sie verschmerzen. Auf keinen Fall wollte sie Aufsehen erregen. Nachdem sie den Laden verlassen hatte und wieder in ihrem Auto saß, atmete sie auf. Sie war stolz auf sich, weil sie es geschafft hatte. Zu Hause packte sie ihre Einkäufe aus und räumte alles ein. Dabei fiel ihr das Taschenbuch wieder in die Hände, sie schaute es sich zum ersten Mal richtig an. Es handelte sich um einen Liebesroman, auf dessen Cover eine junge Frau verträumt den Blick in die Ferne richtete. Wir werden uns wiedersehen lautete der Titel. Sofort spürte Sina einen Stich in der Brust. Würde sie Bent, ihren geliebten Sohn, jemals wiedersehen? Mit zitternden Händen blätterte sie durch das Buch. Als Kinder hatten sie und ihre Freundinnen manchmal Buchorakel gespielt. Man stellte eine Frage und schlug dann in einem Buch eine beliebige Seite auf. Der erste Satz, der dort ganz oben stand, musste laut vorgelesen werden. Er passte fast nie, doch sie hatten ernsthafte Debatten darüber geführt, wie sich die Antwort des Orakels dennoch deuten ließe. Es war eine herrlich unbeschwerte Zeit gewesen.

Das Buch entglitt Sinas Händen, es fiel zu Boden und blieb aufgeschlagen liegen. Drei grellrote Markierungen wurden sichtbar. Als sie das Buch aufhob und sich die Seite näher ansah, verschwamm alles vor ihren Augen und sie musste sich setzen. Sinas Atem ging keuchend, sie presste die Hände gegen ihr heftig klopfendes Herz. Was war das, was sie soeben gesehen hatte? Eine Täuschung, eine Halluzination? Kaum wagte sie hinzuschauen, aus Furcht, die Unterstreichungen könnten verschwunden sein, genau wie damals die Website mit Bents Foto. Aber das war diesmal nicht der Fall, drei Worte waren mit Textmarker hervorgehoben: dein – Sohn – lebt . Nun erkannte sie auch, dass sich das Buch nicht zufällig an dieser Stelle geöffnet hatte. Der Buchrücken wies einen hauchdünnen Knick auf. Sina machte einen Versuch, indem sie das Buch schloss und erneut fallen ließ. Wieder öffnete es sich an exakt der gleichen Stelle. Nun gab es für sie keinen Zweifel mehr. Jemand wollte ihr eine Nachricht zukommen lassen und derjenige wusste auch, wo Bent sich befand. Bent, ihr Bent lebte! Sie weinte vor Glück und Dankbarkeit, erst nach einer Weile konnte sie wieder klar denken. Unzählige Gedanken und Fragen schossen ihr durch den Kopf, sie versuchte, sie irgendwie zu ordnen. Jemand wusste, wo Bent sich befand und dieser jemand ließ ihr Botschaften zukommen. Wer war er? Der Entführer selbst, der sich einen Funken Menschlichkeit und Mitleid bewahrt hatte? Oder eine Person, die den Entführer kannte, aber nicht wagte, ihn zu verraten? Wer auch immer er war, weshalb wählte er so ungewöhnliche Wege, um seine Botschaften zu senden? Aus Angst, enttarnt zu werden? Das war eine mögliche Erklärung, heute beim Einkaufen musste er ihr jedoch sehr nahegekommen sein. Hätte sie nur mehr auf ihre Umgebung geachtet, statt mit gesenktem Blick durch die Gänge zu eilen und so schnell wie möglich ihren Einkauf zu erledigen. Sie konnte sich an keine einzige Person im Laden erinnern, nur die Kassiererin mit den blauen Haaren war ihr aufgefallen. Sina versuchte nachzuvollziehen, was genau sich abgespielt haben könnte. Jemand wusste, wer sie war und beobachtete sie. War er ihr in den Laden gefolgt oder hatte er sie zufällig dort gesehen? Beides war möglich. In der Zeit, die sie gebraucht hatte, um ihre Einkäufe zusammenzustellen, hatte er das Buch aus dem Aufsteller genommen und präpariert. Oder hatte er es schon länger mit sich herumgetragen und auf eine Möglichkeit gewartet, es ihr unbemerkt zuzustecken?

Sina ging zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Wasser heraus und goss sich ein Glas ein. Egal wie er es angestellt hatte, sie musste diese Person finden, sagte sie sich. Diesmal hatte sie einen handfesten Beweis, den auch Udo anerkennen musste. Sie beschloss, keine Zeit zu verlieren, und rief in Udos Praxis an. Frauke war am Telefon und wollte sie vertrösten, weil Udo gerade eine Patientin behandelte. Doch Sina bestand darauf, ihn sofort zu sprechen. Er wirkte anfangs leicht ungehalten, lauschte dann aber aufmerksam und unterbrach sie kein einziges Mal. Erst als sie ihren Bericht beendet hatte, begann er Fragen zu stellen, ging jede Einzelheit mit ihr durch. Wo und um welche Zeit hatte sie eingekauft? Wie lautete der Titel des Buches? Wie genau sahen die Markierungen aus? Sina beantwortete alles geduldig. „Ich komme nach Hause, so schnell ich kann“, sagte er dann. „Sprich bis dahin mit niemandem darüber.“