30.

In der Nacht quälten Sina unruhige Träume. Die meisten waren verschwommen und ließen sich nicht festhalten, doch einer war ganz klar und kehrte mehrmals wieder: Bent fuhr vor dem Haus mit seinem kleinen Fahrrad auf und ab. Es war mit Stützrädern versehen und Bent bewegte sich darauf sehr sicher und geschickt. Dann kam Udo auf die Idee, die Stützräder zu entfernen. Im ersten Moment wackelte Bent ein wenig hin und her, doch dann nahm er Fahrt auf und fuhr davon, als hätte er es nie anders gemacht. Mama, rief er stolz, Mama, wo bist du?

Plötzlich war Sina hellwach. Sie erinnerte sich deutlich an die Situation, die sie kürzlich genauso erlebt hatte. Vom Fenster aus hatte sie Bents Fahrkünste beobachtet. Weil er sie nicht sah, hatte er nach ihr gerufen und fröhlich gelacht, als er sie schließlich entdeckte. Udo hatte die Szene mit seinem Handy gefilmt. Es waren exakt die gleichen Worte von Bent und sein Lachen gewesen, die sie neulich im Haus gehört hatte. Angesichts dieser Erkenntnis wurde ihr eiskalt.

„Hast du gut geschlafen?“ Udo kam mit einem Frühstückstablett ins Zimmer und stellte es neben ihrem Bett ab. „Ich dachte mir, ich verwöhne dich mal ein bisschen.“

„Gehst du heute nicht in die Praxis?“, fragte Sina.

Udo schaute auf seine Armbanduhr. „Ich muss gleich los. Aber vorher wollte ich dir sagen, wie leid es mir tut, wenn du mich gestern falsch verstanden haben solltest. Natürlich verdächtige ich dich nicht, ich meinte nur, andere könnten auf den Gedanken kommen. Lass uns heute Abend in Ruhe darüber reden.“ Er küsste sie auf die Stirn und verließ das Haus. Sina hörte, wie er die Haustür hinter sich schloss und atmete auf. Sie wollte allein sein, um darüber nachzudenken, was gestern geschehen war. Weder war sie verrückt, noch versuchte sie, andere zu täuschen. Doch es gab jemanden, der sie als verrückt hinstellen wollte. Ein vager Verdacht, wie alles zusammenhing, war ihr bereits gestern in den Sinn gekommen. Sie war lediglich viel zu schockiert gewesen, um ihn in Worte zu fassen. Jetzt war ihr Kopf klar, und Schritt für Schritt ging sie die Ereignisse von dem Moment an durch, als sie Udo angerufen und ihm von dem Buch mit der Nachricht erzählt hatte. Udo hatte ganz genaue Angaben verlangt, auch was das Aussehen der Markierungen in dem Buch betraf. Sie sind dick rot unterstrichen, vermutlich mit einem Textmarker. Das waren ihre Worte gewesen. Hatte Frauke mitgehört oder hatte Udo es ihr erzählt? Auf jeden Fall war sie im Bilde gewesen. Als sie dann später die Handschuhe aus der Küche geholt hatte, musste sie den Stift in den Abfallbehälter geworfen haben, und zwar so, dass Udo ihn nicht übersehen konnte.

Sina nahm einen Schluck von dem Kaffee, den Udo ihr gebracht hatte. Er war sehr stark und schmeckte bitter. Sie schob das Tablett weg und hing weiter ihren Gedanken nach, die sich um Frauke drehten. Deutlich sah sie Udos Assistentin vor sich, elegant, geheimnisvoll und verführerisch mit ihren langen dunklen Haaren und den schräg stehenden Katzenaugen. Diese Frau wollte ihr Udo wegnehmen. Hatte sie auch Bent entführt? Angesichts der Ungeheuerlichkeit dieser Vermutung stockte Sina der Atem, sie gab einen keuchenden Laut von sich. Hatte Frauke erst das Kind ihrer Rivalin aus dem Weg geräumt, um sie dann nach und nach in den Wahnsinn zu treiben? Sie war darin ziemlich erfolgreich, denn Udo glaubte ihr. An diesem Punkt ihrer Überlegungen stutzte Sina. Übersah sie nicht etwas Wesentliches, wenn sie die Schuld allein bei Frauke suchte? Sie dachte an Udos lange Arbeitstage und an seine häufigen Abwesenheiten. Nie hatte sie an seinen Erklärungen gezweifelt, Vertrauen war für sie das unverzichtbare Fundament einer guten Ehe. Wie es jetzt aussah, war ihr das zum Verhängnis geworden. Planten Udo und Frauke längst ein gemeinsames Leben ohne sie? Spielten sie beide ein perfides Spiel, an dessen Ende sie aus dem Weg geräumt werden sollte? Udo wollte Frauke mit nach Lund nehmen, wenn er seine neue Stelle dort antrat, das hatte er bereits erklärt. Eine so gute Arzthelferin würde er nicht wieder finden, lautete seine Erklärung. Die beiden waren sehr vertraut miteinander, schon immer gewesen. Was wenn sie die Sache gestern Abend gemeinsam geplant und inszeniert hatten? Bei dem Gedanken daran, wie Frauke sie gegen die Anschuldigungen von Udo in Schutz genommen hatte, wurde Sina übel. Was für eine unerträgliche Schmierenkomödie führte diese Frau auf? Frauke war unten in der Küche gewesen, als Sina vor einigen Tagen Bents Stimme gehört hatte. Es war keine Sinnestäuschung, sondern das Abspielen einer Aufzeichnung gewesen, davon war sie überzeugt. Wieder und wieder, wie in einer Endlosschleife hörte sie die Sequenz in ihrem Kopf ablaufen. Mama, wo bist du? Mama! Und dann Bents glückliches Lachen. Nur Udo konnte Frauke das Video gegeben haben. Sina hatte das Gefühl, das Bett unter ihr würde schwanken wie ein Schiff auf hoher See. Sie legte sich flach auf den Rücken und versuchte, ruhig zu atmen. Sie durfte jetzt auf keinen Fall schlappmachen, dann war sie verloren. Aber was konnte sie tun? Weglaufen und sich verstecken? Udo mit ihren Erkenntnissen konfrontieren? Das würde nichts bringen, er würde es als weiteres Zeichen für ihre psychische Labilität werten. Udo hatte Verbindungen zu zahlreichen Ärztekollegen, sicher fand sich da leicht jemand, der ihre Einweisung in die Psychiatrie veranlassen würde. Sie durfte sich nichts anmerken lassen, solange sie keine Beweise für ihre Vermutungen hatte. Allein würde sie es nicht schaffen, sie brauchte jemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. In ihrer Verzweiflung wählte Sina die Nummer von Smilla.