35.

„Ich lasse mich nicht einfach abwimmeln. Ich will sofort mit einem Verantwortlichen von der Kriminalpolizei sprechen.“ Alva hörte den lauten Wortwechsel auf dem Flur und schaute nach, was los war. Eine uniformierte Beamtin versuchte, eine sichtlich erregte Frau aufzuhalten, was sich als unmöglich erwies. Die Frau war sehr groß, kräftig gebaut, und wild entschlossen, ihr Ziel zu erreichen. Als sie Alva entdeckte, steuerte sie direkt auf sie zu. „Sind Sie von der Kriminalpolizei?“

„So geht das nicht, Sie müssen sich ordnungsgemäß anmelden.“ Die Beamtin griff nach dem Arm der Frau, doch diese schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt.

„Schon gut“, sagte Alva, um die Situation nicht eskalieren zu lassen, „ich bin von der Kriminalpolizei. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich komme wegen meiner verstorbenen Bekannten Erika Frans. Ich will wissen, weshalb man ihre Leiche nicht zur Beerdigung freigibt.“

Alva bereute augenblicklich, sich auf die Frau eingelassen zu haben. Die Leiche von Erika Frans war nach ihrem Verschwinden aus der Rechtsmedizin nicht wieder aufgetaucht. Zum Glück war das bisher nicht an die Öffentlichkeit gedrungen. Irgendwie musste sie die heikle Situation nun bewältigen.

„Kommen Sie bitte mit in mein Büro“, sagte sie freundlich. Alva ließ die Frau am Besuchertisch Platz nehmen und bot ihr Kaffee an. Jördis und Caroline arbeiteten unbeeindruckt weiter, doch Sven warf Alva einen fragenden Blick zu. Sie gab ihm ein Zeichen, sich zu ihr und der Besucherin zu setzen.

„Sagen Sie mir bitte erst einmal Ihren Namen“, forderte sie die Frau auf.

„Foss, Sophie Foss.“

„Frau Foss, woher kennen Sie Frau Frans?“ Bei der Nennung des Namens hoben auch Jördis und Caroline die Köpfe.

„Aus unserem Chor, sie war noch nicht lange dabei. Aber das spielt keine Rolle, da sie keine Verwandten hat, wollen wir ihr das letzte Geleit geben. Wir sind eine Gemeinschaft, die zusammenhält. Dazu müssen wir aber wissen, wann die Beisetzung endlich stattfinden kann. Soweit ich weiß, hatte sie einen Unfall, ist in ihrem Haus gestürzt. Weshalb dauert die Untersuchung so lange, wenn das doch klar ist?“

Erika Frans hatte also in einem Chor gesungen, das war Alva neu. Keiner ihrer Nachbarn und Arbeitskollegen, die nach ihrem Tod befragt worden waren, hatte das erwähnt. Offenbar wussten sie nichts davon, weil Erika Frans erst kürzlich damit angefangen hatte.

„Ein Unfall ist kein natürlicher Todesfall, deshalb muss die Todesursache genau festgestellt werden. Bei einem Sturz stellt sich die Frage, ob der Verunfallte an den Verletzungen starb, die er sich dabei zugezogen hat, oder ob er möglicherweise einen tödlichen Infarkt erlitten hatte, der erst zu dem Sturz führte. Wenn kein Fremdverschulden vorliegt, hat die Obduktion keinen Vorrang und es kann sich hinziehen. Die Rechtsmediziner haben viel zu tun, manchmal entsteht da ein gewisser Stau.“ Alva hoffte, die Besucherin würde sich mit dieser Auskunft zufriedengeben. Das war jedoch nicht der Fall.

„Das mag alles sein, aber so lange wie bei der Erika kann das doch unmöglich dauern. Wir hatten erst vor gut einem halben Jahr einen anderen Todesfall in unseren Reihen, da ging es viel schneller mit der Freigabe.“

Alva horchte auf. „Ein anderes Mitglied Ihres Chors ist ebenfalls verstorben und wurde obduziert?“, fragte sie.

„Ja, das war schon tragisch.“ Sophie Foss seufzte. „Wir haben Mitglieder, die gesundheitlich angeschlagen sind, da kommt das natürlich vor. Wir sind ein integratives Projekt, es gibt Menschen mit leichten Behinderungen unter uns. Marie litt unter Epilepsie, sie hatte in der Badewanne einen Anfall und ist ertrunken. Bei ihr ging das mit der Freigabe zur Beisetzung wesentlich schneller.“

„Ich kann Ihnen leider nicht sagen, woran es liegt, dass es dieses Mal länger dauert. Aber vielleicht können Sie mir eine Frage in Bezug auf Erika Frans beantworten. Sie war kurz vor ihrem Tod für längere Zeit verreist. Wissen Sie, wohin sie gefahren war?“

„Nein, darüber kann ich Ihnen leider nichts sagen. Wir kannten uns schließlich noch nicht lange, sie war erst dreimal bei den Proben gewesen. Nach ihrer Reise hat sie nur angerufen und gesagt, sie käme beim nächsten Mal wieder. Aber dazu ist es nicht mehr gekommen.“ Sophie Foss legte den Kopf schief und schien nachzudenken. „Seltsam“, sagte sie plötzlich.

„Was war seltsam?“, hakte Alva nach.

„Mir fiel da gerade etwas ein. Auch Marie hatte vor ihrem Tod eine längere Reise unternommen, über die sie hinterher nicht reden wollte. Das hat uns alle sehr verwundert, sie war sonst offen und ließ uns an ihrem Leben teilhaben. Aber sie verriet niemandem, wo sie gewesen war.“

Im Raum wurde es sehr still, alle schienen den Atem anzuhalten.

„Frau Foss, wie lautet der vollständige Name von Marie?“, fragte Alva.

„Granlund, Marie Granlund.“