38.

Sina nutzte den Nachmittag, um Vorbereitungen für ihr Untertauchen zu treffen. Da sie gerade von einem Kurztrip zurückgekehrt war, hatte sie die notwendigsten Dinge dabei, doch für einen längeren Zeitraum würde das nicht ausreichen. Bei einem Discounter erstand sie haltbare Lebensmittel und Konserven, die für etwa vierzehn Tage reichen sollten, außerdem Hygieneartikel und eine billige Perücke. Sina hatte überlegt, dass es zweckmäßig wäre, ihr Aussehen zu verändern, falls sie das Haus doch einmal verlassen musste. Die Perücke war dunkelbraun, es würde ausreichen, einige Haare davon unter der Mütze hervorschauen zu lassen. Falls die Polizei eine Beschreibung von ihr herausgeben sollte, würde man nach einer Frau mit schulterlangem blondem Haar suchen. Vorsichtshalber kaufte sie sich auch einen dunkelblauen Parka, der sich von dem beigen Modell, das sie gerade trug, deutlich unterschied. Zum Schluss hob sie an einem Automaten einen größeren Geldbetrag ab. Sie würde Bargeld brauchen, denn ihre Kreditkarte durfte sie ab sofort nicht mehr benutzen. Man würde nach ihrem Untertauchen überprüfen, wann damit zuletzt eingekauft und Geld abgehoben worden war. Ob ihre heutigen Einkäufe und die Abhebung Misstrauen erregen würden? Deckte man sich noch mit Lebensmitteln, Kleidung und Bargeld ein, wenn man vorhatte, aus dem Leben zu scheiden? Sina musste das Risiko eingehen. Sie würde Udo die Nachricht so spät wie möglich zukommen lassen und danach den Akku aus ihrem Handy nehmen. Wann genau sie Klarheit über seine Beziehung zu Frauke erlangt hatte, würde daraus nicht ersichtlich werden. Demnach könnte sie, während sie eingekauft hatte, noch arglos gewesen sein. Sina hoffte, ihre Rechnung würde aufgehen. Das gebrauchte Handy und die nicht registrierte SIM-Karte, die sie ganz zuletzt erwarb, bezahlte sie bereits bar. Der Inhaber des unaufgeräumten Gebrauchtwarenladens war dafür bekannt, keine Fragen zu stellen. Danach kehrte sie in die Wohnung von Smilla zurück, die kurz darauf eintraf. Als sie die Einkaufstüten im Flur sah, musste Sina nichts mehr erklären.

„Du hast dich entschieden, das ist gut“, sagte sie. „Ich habe damit gerechnet, es ist die beste Lösung. Lass uns eine Kleinigkeit essen, danach brechen wir gleich auf. Bis Lidköping sind es knapp zwei Stunden, ich möchte dir das Haus und die Umgebung zeigen, bevor es dunkel wird.“

Der Eifer, mit dem Smilla sich für sie einsetzte, rührte Sina. Smilla war selbst in einer schwierigen Situation, sie litt unter dem brutalen Mord an ihrer Mutter, bei dessen Aufklärung es keine Fortschritte gab. Vielleicht lenkte es sie auch von ihrem eigenen Kummer ab, wenn sie anderen helfen konnte. Sie schien einer dieser selbstlosen Menschen zu sein, deren Güte leider allzu oft ausgenutzt wurde. Sina hoffte, sich eines Tages revanchieren zu können, indem sie etwas für Smilla tat.

Während Smilla Brote schmierte und Kaffeewasser aufsetzte, brachte Sina ihre Reisetasche und ihre Einkäufe zum Auto und verstaute alles im Kofferraum. Dabei schaute sie sich nach allen Seiten um, ob sie eventuell beobachtet wurde, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Zurück in der Wohnung, setzte sie sich zu Smilla an den Tisch, schaffte es aber kaum, etwas zu essen. Ihr Plan kam ihr ungeheuer tollkühn vor. Smilla bemerkte ihre Unruhe.

„Es geht bestimmt alles gut“, tröstete sie Sina. „Das Ferienhaus hat eine tolle Lage und ist mit allem Notwendigen ausgestattet. Es wird dir an nichts fehlen und du kannst erst einmal zur Ruhe kommen. Niemand wird dich dort vermuten. Wie wollen wir Kontakt halten?“

Sina erzählte ihr von dem gebrauchten Handy und der nicht registrierten Karte. Smilla nickte zufrieden. Sie trank den letzten Schluck aus ihrer Tasse und stellte sie dann in die Spüle. „Lass uns aufbrechen“, sagte sie. „Ich fahre mit meinem Wagen voraus, du folgst mir. Es ist eine unkomplizierte Strecke von hier bis Lidköping, da kann nichts schiefgehen.“

Sina war bisher nur ein einziges Mal in Lidköping gewesen und das lag lange zurück. Damals war sie zehn Jahre alt gewesen und hatte mit ihren Eltern das Schloss Läckö besucht. Ihr Vater hatte ein Faible für alte Gemäuer gehabt und behauptet, in dem nicht zugänglichen Teil des Schlosses würde es noch eine Originaltür aus dem Mittelalter geben. Damals hatte sich Sina herzlich wenig dafür interessiert und sie wunderte sich, wieso ihr das ausgerechnet jetzt einfiel. Sie stieg in ihren Wagen und folgte Smillas Mini aus der Stadt hinaus auf den Europaväg 45, der um diese Zeit stark befahren war. Je weiter sie nach Norden kamen, umso mehr ließ der Verkehr jedoch nach. Sina war nervös, sie blickte immer wieder in den Rückspiegel und hielt Ausschau nach einem schwarzen Peugeot. Doch bis zur Ausfahrt nach Lidköping geschah nichts Auffälliges und allmählich wurde sie ruhiger. Smilla hatte ihr gesagt, das Haus würde auf einem Berg mit Blick auf den Vänernsee liegen. Sie umfuhren die Stadt in einem Bogen und Smilla drosselte das Tempo. Der Weg wurde schmal und stieg steil an. Sina erschrak, als sie auf nackten Felsen eine winzige Hütte hoch über einem Abgrund entdeckte. Schon der Anblick machte sie ganz schwindlig. Doch Smilla fuhr weiter, der Weg wurde wieder ebener und dann bog ihr Mini auf einen befestigten Platz neben einem weißen Holzhaus ein. Vor Sina tat sich ein weiter Blick über den See auf, das Panorama war atemberaubend. Sie parkte neben Smilla, die bereits ausgestiegen war. „Wie gefällt es dir?“, fragte sie und schaute Sina erwartungsvoll an.

„Es ist wunderschön, aber nicht unbedingt für Menschen mit Höhenangst geeignet“, sagte sie. Das Haus lag ziemlich hoch und davor fielen die Felsen steil zum Wasser hin ab.

„Hast du Höhenangst?“, fragte Smilla.

„Ja, aber das ist im Moment wirklich mein geringstes Problem.“ Sie folgte Smilla, die nun die Haustür aufschloss. Im Inneren des Hauses war es kühl.

„Ich drehe gleich die Heizung auf, dann wird es schnell warm“, sagte Smilla. Die Wände des Hauses waren auch drinnen schlicht weiß gehalten und die Einrichtung sehr gemütlich. Neben der Küchenzeile stand ein Esstisch mit vier antiken Stühlen. Vor der breiten Fensterfront mit Blick auf den See luden zwei bequeme Sessel zum Entspannen ein. Sina sah erst jetzt, dass sich ein Stück tiefer eine Terrasse vor dem Haus befand, die von einem gerade mal kniehohen Mäuerchen begrenzt wurde. Dahinter ging es steil nach unten. Für einen Aufenthalt mit einem kleinen Kind war dieses Haus eher nicht geeignet, schoss es Sina durch den Kopf. Bent war ständig in ihren Gedanken.

„Das Bad ist hinter der Küche und die Schlafzimmer sind oben. Komm mit, ich zeige sie dir.“ Smilla ging auf einer Wendeltreppe voran. Es gab zwei Schlafzimmer, jedes war mit einem bequemen breiten Bett ausgestattet.

„Du kannst dir aussuchen, wo du schlafen möchtest. Das rechte Zimmer war das meiner Mutter. Wenn wir beide hier waren, habe ich das andere Zimmer benutzt.“ Sie wandte sich rasch ab, um ihren Schmerz zu verbergen. Die Erinnerung schien sie zu überwältigen.

Sina wollte etwas Tröstendes sagen, doch Smilla wechselte bereits das Thema. „Wenn du etwas brauchst, ruf mich auf deinem Zweithandy an. Ich bringe es dir dann. Es gibt einen kleinen ICA-Markt nicht weit von hier, aber dort solltest du nur im Notfall hinfahren. Der Weg dorthin führt an der Hütte vorbei, die dir vorhin vielleicht aufgefallen ist, und dann immer geradeaus. Du kannst es nicht verfehlen.“

„Die Hütte ist mir aufgefallen, ich dachte schon, es wäre dein Sommerhaus.“

„Da warst du sicher erschrocken.“ Smilla gelang ein schiefes Grinsen. „Dort möchte nicht mal ich wohnen, obwohl ich keine Höhenangst habe. Nach zwei Schritten aus der Tür steht man da an der Abbruchkante. Außerdem rankt sich um die Hütte eine schaurige Geschichte, es soll dort spuken.“

„Tatsächlich?“ Sina stellte die Frage mehr der Höflichkeit halber, sie glaubte nicht an Spukgeschichten.

„Dort hatte sich ein Ehepaar einquartiert, beide waren passionierte Angler. Nach einer stürmischen Nacht fand man ihre Leichen unten im See am Bootssteg. Vermutlich waren sie aus dem Haus gegangen, um es gegen den Sturm zu sichern. Dabei wurden sie von einer Böe erfasst, glitten auf dem nassen Fels aus und stürzten in die Tiefe. Trotz dieser logischen Erklärung machten bald Gerüchte die Runde. Die Toten hätten Würgemale aufgewiesen, hieß es. Eine Gruppe Jugendlicher übernachtete ein halbes Jahr später in dem leer stehenden Haus, sie fassten es als Mutprobe auf. Leider ging das furchtbar schief, mitten in der Nacht stürzten sie in Panik nach draußen, weil sie angeblich von etwas in dem Haus angegriffen worden waren. Einer wäre fast abgestürzt, zum Glück bekamen seine Freunde ihn gerade noch so zu fassen. Er kam mit Prellungen und Schürfwunden davon. Seitdem steht die Hütte leer.“

„Ich glaube, das hat andere Gründe“, sagte Sina. „Die Hütte sieht nicht gerade einladend aus. Aber dieses Haus ist wirklich schön, ich danke dir sehr für deine Hilfe.“

Smilla winkte ab. „Keine Ursache. Ich wünsche mir so sehr, dass dein Plan gelingt.“ Sie half Sina, das Gepäck ins Haus zu bringen, bevor sie sich auf den Rückweg nach Göteborg machte. Sobald sie dort angekommen wäre, würde sie von einem Ort am Stadtrand aus Sinas Nachricht an Udo abschicken. Sie würde dazu deren Handy benutzen und es dann wieder außer Betrieb setzen. Niemand sollte auf Sinas letzten Aufenthaltsort schließen können und auf ihren aktuellen schon gar nicht.