47.

Obwohl Smilla Sundin ihr in ihrer Zerbrechlichkeit leidtat, schlug Alva diesmal gleich zu Anfang eine schärfere Tonart an. „Sie haben uns nicht alles gesagt, was Sie wissen. Einige Ihrer Behauptungen waren sogar unwahr.“

Auf der zarten Haut von Smilla bildeten sich rote Flecke. „Das stimmt nicht, ich habe nicht gelogen“, stammelte sie.

„Sie haben behauptet, Sina Lindell hielt sich seit Montagnachmittag in Ihrem Ferienhaus auf. Von dort habe sie dann am Abend eine Nachricht an ihren Mann geschickt. Wie wir aber inzwischen wissen, wurde diese Nachricht nicht in Lidköping, sondern in Göteborg abgesendet. Wo hielt sich Frau Lindell zu diesem Zeitpunkt tatsächlich auf? Und wo waren Sie?“

Smilla schluckte, Tränen traten ihr in die Augen. „Sina war in Lidköping, sie hat mir ihr Handy mitgegeben, damit ich die Nachricht von Göteborg aus abschicke. Ihr Mann sollte nicht herausfinden, wo sie sich aufhält.“

Das klang plausibel, passte aber nicht zu dem Besuch von Frauke Roos dort. Noch wusste Smilla nicht, wer die Tote war.

„Sind Sie sicher, dass Frau Lindell nicht doch jemandem ihren Aufenthaltsort mitgeteilt hat?“

„Auf keinen Fall hat sie das getan, dann hätten doch all ihre Vorsichtsmaßnahmen keinen Sinn gehabt“, erwiderte Smilla im Brustton tiefster Überzeugung.

„Ich frage mich natürlich, weshalb man derartige Vorsichtsmaßnahmen überhaupt ergreift.“ Alva fing Smillas Blick ein und hielt ihn fest. „Sie sagten, Frau Lindell wollte zur Ruhe kommen und Abstand gewinnen. Mir reicht das als Begründung nicht aus. Viel eher vermute ich Angst als Grund und ich frage mich, wovor sie Angst hatte. Außerdem bin ich überzeugt, Sie wissen es. Frau Sundin, das ist hier kein Versteckspiel, die Sache ist ernst. Vor Ihrem Ferienhaus wurde eine Leiche gefunden. Sina Lindell ist verschwunden und vielleicht ist sie in Gefahr. Wenn Sie ihr helfen wollen, sollten Sie jetzt alles sagen, was Sie wissen.“

Tränen liefen über Smillas Gesicht und tropften auf ihren Schoß. Mit einer unbeholfenen Geste wischte sie sie ab. Alva kam sie wie ein gescholtenes Kind vor, doch sie musste jetzt hart bleiben, um Antworten zu bekommen. Tatsächlich begann Smilla zu reden. „Sina hat Angst vor ihrem Mann und vor Frauke Roos, seiner Assistentin. Erst am Sonntag hat sie herausgefunden, dass die beiden ein Verhältnis haben. Sogar ein gemeinsames Haus in Lund haben sie schon bezogen. Sina hat den Verdacht, die beiden wollen sie loswerden. Sie glaubt sogar, sie stecken hinter der Entführung von Bent, haben das alles nur inszeniert, um sie in den Wahnsinn oder in den Selbstmord zu treiben. Und um Bent anschließend für sich zu haben.“

„Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte dafür?“, fragte Alva.

„Es sind merkwürdige Dinge passiert. Sina hat Nachrichten erhalten, die Bent betrafen. Aber Udo meinte, sie würde sich das alles nur einbilden. Sie hat im Haus plötzlich die Stimme von Bent gehört. In dem Falle war sie sich hinterher ganz sicher, wie das zustande kam. Frauke hat eine alte Tonaufnahme von Bent abgespielt und dann so getan, als hätte sie nichts gehört. Danach wurde Sina zum ersten Mal misstrauisch.“

Alva ließ sich auch die anderen Vorfälle schildern und Smilla gab sich sichtlich Mühe, jedes Detail genau wiederzugeben.

„Was werden Sie jetzt tun?“, fragte sie zum Schluss. „Sie müssen Sina finden.“

„Wir tun alles, was in unserer Macht steht“, sagte Alva und schämte sich im gleichen Moment wegen dieser hohlen Floskel. Wie oft hatte sie das in den vergangenen Wochen bereits gesagt? Wir tun alles, um den Jungen zu finden. Wir tun alles, um den Mörder Ihrer Mutter zu finden. Und was hatten sie erreicht? Einfach nichts. Dieser Fall rann ihnen wie Wasser durch die Finger und wurde immer verworrener.