49.

„So, da wären wir.“ Sven parkte den Wagen vor dem Institut für Rechtsmedizin. Caroline war die ganze Fahrt über sehr still gewesen und schien jetzt aus einem Traum zu erwachen. Sven musterte sie besorgt.

„Du musst nicht mit reinkommen, wenn du nicht möchtest, ich erledige das auch allein“, sagte er.

„Nein, wie kommst du denn darauf?“ Caroline löste ihren Gurt.

„Du bist blass um die Nasenspitze, vielleicht brütest du eine Erkältung aus. Kein Wunder bei dem Wetter, überall wird geschnieft und gehustet. Guck dir bloß Rurik an, der hält sich nur mühsam aufrecht. Außerdem warst du nie scharf auf Termine in der Rechtsmedizin.“

„Das stimmt so nicht“, widersprach Caroline. „Wir alle haben immer Alva den Vortritt gelassen, weil sie ein besonders gutes Verhältnis zu Brigitte hat. Wenn sie nicht Lindell befragen müsste, wäre sie jetzt hier.“

„Da ist was dran, dann wollen wir sie heute mal würdig vertreten. Auf geht es.“ Sven ließ Caroline den Vortritt. Auf dem Flur des Instituts kam ihnen ein junger Mann in einem grünen Kittel entgegen. Sven fragte ihn nach Brigitte Wallenius.

„Sektionssaal 2, ich komme gleich mit. Ich assistiere heute nämlich.“ Eifrig lief er ihnen voran. Sven konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der Junge war offenbar ein Student im Praxissemester, der sich in seiner Rolle sehr wichtig vorkam. Brigitte Wallenius stand neben einem der Stahltische und sortierte die Instrumente.

„Da seid ihr ja, dann können wir loslegen“, begrüßte sie Sven und Caroline. Sie nickte dem jungen Mann zu. „Wir obduzieren heute eine Frauenleiche, Sturz aus großer Höhe. Du kannst sie gleich herbringen, Erik. Sie liegt in der 5.“

Erik machte sich auf den Weg, die Gummisohlen seiner Schuhe gaben auf dem gefliesten Boden ein quietschendes Geräusch von sich.

„Ihr zwei wart lange nicht hier“, sagte Brigitte. „Eigentlich hatte ich mit Alva gerechnet.“

„Vermutlich wäre sie auch gekommen, wenn sie nicht gerade ein paar wichtige Befragungen durchführen müsste. Im Moment staut sich eine Menge an, zu allem Überfluss ist Rurik auch noch gesundheitlich angeschlagen.“

Brigitte nickte. „Wir haben hier ebenfalls krankheitsbedingte Ausfälle. Ich halte die Stellung, Bakterien und Viren mögen offenbar kein Nikotin. Ich räuchere sie aus.“

„Du hast ja tolle Rechtfertigungen für dein Laster.“ Sven grinste. „Lass das bloß nicht deine Kollegen aus der Pneumologie hören. Die sind da garantiert anderer Meinung.“

Brigitte warf einen Blick zur Tür. „Wo bleibt denn Erik mit der Leiche? Kriegt der die Tür vom Kühlfach nicht auf, oder was ist da los? Umgekippt wird er ja wohl nicht sein, er macht das hier schon seit ein paar Wochen.“ Kopfschüttelnd ging sie los, um nachzusehen.

„Hoffentlich wurde die Leiche nicht ebenfalls geklaut wie die von Erika Frans“, raunte Sven Caroline zu. Er folgte Brigitte in den Raum mit den Kühlfächern. Dort bot sich ein merkwürdiger Anblick. Wie versteinert stand Erik da und starrte auf die Tote vor ihm auf der Bahre.

„Erik, was ist los? Ist dir nicht gut?“ Brigitte berührte ihn an der Schulter und schüttelte ihn leicht.

„Ich kenne sie, ich kenne die Tote“, flüsterte der junge Mann. „Das ist eine Studentin, die hier auch ihr Praktikum gemacht hat.“

„Nein, du irrst dich. Sie hat als Arzthelferin gearbeitet, aber nicht hier in der Klinik, sondern im Ärztehaus in einer gynäkologischen Praxis.“ Brigitte hatte sich die Akte von Frauke Roos gründlich angesehen.

Erik schüttelte stumm den Kopf, er sah aus, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen. Sven, dem eine böse Ahnung kam, mischte sich ein.

„Wie und wo haben Sie die Frau kennengelernt? Erzählen Sie mal, Erik.“

Erik schluckte. „Auf einer Feier der medizinischen Fakultät. Wir sind danach zweimal miteinander ausgegangen. Sie heißt Svenja.“

„Hat Svenja Sie auch hier an Ihrem Arbeitsplatz besucht?“, fragte Sven.

Die Gesichtsfarbe von Erik wechselte von bleich zu tiefem Rot, er antwortete nicht. Caroline gab Sven ein Zeichen, der ihr daraufhin das Sprechen überließ.

„Erik, niemand macht Ihnen einen Vorwurf, aber es ist sehr wichtig, dass Sie ehrlich antworten“, sagte sie. „Wollte Svenja sich hier unten mal umsehen? Zu einem Zeitpunkt, als Sie ganz allein waren?“

Er nickte. „Ja, es war doch nichts dabei, sie war schließlich ebenfalls Medizinstudentin. Einmal hat sie mich sogar für zwei Stunden beim Nachtdienst vertreten. Ein Kumpel hatte mich angerufen, er war mit dem Auto liegen geblieben. Ich bin los, um ihm zu helfen. Svenja hat hier die Stellung gehalten. Es war nichts los in der Nacht.“

Oh doch, dachte Sven, in jener Nacht war eine Menge los gewesen. Und da die Obduktion von Erika Frans keinen Vorrang hatte, wurde das Verschwinden ihrer Leiche erst Tage später bemerkt. Niemand hatte das mit einem Pflichtversäumnis des Praktikanten in Verbindung gebracht. Doch nun wussten sie, wie alles zusammenhing.