51.

Unruhig wanderte Smilla in ihrer Wohnung umher, nahm Dinge in die Hand und legte sie wieder zurück. Bei der Arbeit war sie heute derart unkonzentriert gewesen, dass ihr gleich mehrere Missgeschicke passiert waren. Sie hatte Teller fallen lassen, war über ein Spielzeug gestolpert und am Ende völlig unmotiviert in Tränen ausgebrochen, nur weil sie den Speiseplan für die kommende Woche nicht gleich gefunden hatte. Ihre Kollegin hatte sie früher nach Hause geschickt und ihr geraten, erst einmal zur Ruhe zu kommen. Aber wie sollte sie Ruhe finden, wenn sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen und die Angst ihr die Brust zusammenschnürte. Beim Frühstück war sie auf den Zeitungsartikel gestoßen: Bei der unterhalb eines Ferienhauses in Lidköping aufgefundenen Frauenleiche handelt es sich um Frauke R., eine Arzthelferin aus Göteborg. Frauke Roos, die Frau, vor der Sina sich fürchtete, hatte sie in ihrem Versteck aufgespürt. Smilla fragte sich, wie das möglich war. Waren sie auf der Fahrt zum Haus verfolgt worden? Weder ihr noch Sina war etwas in der Richtung aufgefallen. Die Frage, die Smilla am meisten bewegte, war die nach Sinas Verbleib. Nur ein einziges Mal hatten sie miteinander telefoniert, das war am Dienstagabend gewesen. Seitdem war der Kontakt zu Sina vollständig abgebrochen, weder hatte sie sich erneut gemeldet, noch konnte Smilla sie erreichen. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch war in dem Ferienhaus etwas passiert, aber was? Hatte es einen Kampf gegeben, bei dem Frauke vom Felsen gestürzt und gestorben war? Aber was war mit Sina geschehen? War sie ebenfalls tot und man hatte ihre Leiche nur noch nicht gefunden? Ein kalter Schauer lief über Smillas Rücken. Sie fühlte sich unendlich hilflos und wünschte sehnlichst, sie könnte etwas tun. Der Kaffee, den sie sich vorhin eingegossen hatte, war kalt geworden und schmeckte bitter. Sie wollte die Tasse in die Küche tragen, dabei rutschte sie ihr aus der Hand und die Flüssigkeit hinterließ einen hässlichen Fleck auf dem hellen Teppich. Smilla fluchte leise, sie ging ins Bad, um einen Eimer und Reinigungsmittel zu holen. Dabei fiel ihr Blick auf den Chrysanthemenstrauß in der Badewanne. Auch das noch, sie hatte völlig vergessen, dass sie die Blumen auf das Grab ihrer Mutter bringen wollte. In einer Stunde würde es dunkel sein, aber wenn sie sich beeilte, konnte sie es gerade noch schaffen. Smilla langte nach der Flasche mit dem Fleckentferner, sie weichte den Kaffeefleck ein, griff sich dann ihren Parka und die Blumen und verließ in aller Eile das Haus. Draußen wurde sie von einem Schwall eisiger Luft empfangen. In der Nacht würde es Frost geben. Wenn es nicht schon so spät wäre, würde sie zu Fuß zum Friedhof gehen, nun entschied sie sich aber, das Auto zu nehmen. Gut zehn Minuten später parkte sie vor dem Friedhofstor und betrat kurz darauf das weite Gelände. Friedhöfe hatten eine ganz eigene Atmosphäre, das hatte Smilla schon immer so empfunden. Es herrschte eine feierliche Stille, alle Geräusche waren gedämpft und sogar das Licht war anders. Unter den Bäumen und zwischen den hohen Hecken dämmerte es bereits. Auf dem Grab von Smillas Mutter hatte jemand frische Blumen abgestellt, dunkelrote Gerbera. Smilla vermutete, dass sie von einem Kollegen stammten, der an der Beisetzung nicht teilnehmen konnte und ihr nun nachträglich die Ehre erweisen wollte. Sie steckte ihre weißen Chrysanthemen einfach dazu, der Farbkontrast wirkte dramatisch, wie Blut auf frisch gefallenem Schnee. Eine Weile stand Smilla einfach nur stumm da und dachte an ihre Mutter. Als sie sich gerade abwenden wollte, hörte sie Stimmen, einen Mann und eine Frau, die sich leise unterhielten. Der Mann sprach einen schwer verständlichen Dialekt, aber die Frauenstimme kam ihr bekannt vor. Das war zweifellos Malena, die da sprach. Sie und der Mann mussten direkt hinter dem großen Findling auf der gegenüberliegenden Seite des Weges stehen. Smilla beschloss, Malena zu begrüßen, sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich seit Tagen nicht bei ihr gemeldet hatte. Als sie auf den Stein zuging, kam ein grauer Schatten auf sie zugeschossen und stieß ein lautes Bellen aus. Das geschah derart unvermittelt, dass Smilla vor Schreck aufschrie. Ein Mann kam hinter dem Stein hervor. Er war groß, hatte wettergegerbte Haut und schlohweißes Haar. „Veikko, komm her!“, rief er dem Hund zu, der sofort gehorchte. „Tut mir leid, dass er sie erschreckt hat“, beruhigte er Smilla. Malena, die nun ebenfalls auftauchte, wirkte fast noch erschrockener als Smilla.

„Wo kommst du her?“, fragte sie und fuhr sich dann über die Stirn, als wollte sie einen lästigen Gedanken verscheuchen. Sie wandte sich dem Mann zu. „Also viel Erfolg, ich hoffe, Sie finden den Weg jetzt“, sagte sie.

„Ja, danke für die Auskunft“, erwiderte er. Mit dem Hund an seiner Seite verschwand er zwischen den hohen Hecken.

„Wer war das?“, fragte Smilla.

Malena zuckte mit den Schultern. „Irgendein Däne, der sich in Göteborg nicht auskennt. Er hat sich nach einigen Sehenswürdigkeiten erkundigt.“

„Du meinst, er ist Däne?“

„Ich habe ihn nicht gefragt, aber seiner Aussprache nach vermute ich das mal.“

„Für mich klang das eher nach einem Dialekt, wie er in Dalarna gesprochen wird.“ Smilla erinnerte sich an eine Cousine ihrer Mutter, die von dort stammte und so gesprochen hatte. Sie hatte Smilla ein für die Region typisches Holzpferdchen geschenkt, das noch immer in ihrem Bücherregal stand.

„Schon möglich, ich kenne mich da nicht so gut aus. Aber es ist auch unwichtig, woher er kam.“ Malena hakte sich bei Smilla unter. „Ich freue mich jedenfalls, dich zu treffen. Wie geht es dir?“

Smilla schluckte, sie beschloss, keine Ausflüchte zu machen. „Ich habe ein Riesenproblem“, sagte sie. „Können wir reden?“