Birger reagierte erfreut auf Alvas Vorschlag, nach Lund zu fahren. „Dort war ich schon lange nicht mehr“, sagte er. „Das ist eine wunderschöne Stadt mit einem regen Studentenleben.“
„Aber du hast doch in Stockholm studiert“, bemerkte Alva verwundert.
„Schon, aber ein Freund von mir studierte in Lund und ich habe ihn dort öfter mal besucht. Übrigens sind die Hälfte der Einwohner von Lund Studierende, in den Semesterferien wirkt die Stadt plötzlich wie ausgestorben. Dafür ist zu den anderen Zeiten umso mehr los. Der Karneval, mit dem die Studenten den Frühling begrüßen, ist ein ganz besonderes Ereignis. Leider findet er nur alle vier Jahre statt, aber so umfangreich, wie die Vorbereitungen dafür sind, wäre es auch gar nicht anders möglich. Es gibt dann einen großen Festumzug mit aufwändig gestalteten Mottowagen und praktisch jeder in der Stadt ist kostümiert. Es lohnt sich, das mitzuerleben.“
„Das glaube ich dir. Aber ich will mir nur eine Privatklinik anschauen, in der man mich vermutlich nicht mit offenen Armen empfangen wird. Ich weiß auch noch nicht richtig, wie ich es anstellen soll, etwas herauszufinden.“
„Es kommt ganz darauf an, wonach du suchst.“ Birger machte sich daran, den Tisch abzuräumen. Sie hatten bei ihm in der Wohnung zu Abend gegessen, wo Alva heute auch übernachten würde. Ein Teil ihrer Sachen befand sich inzwischen ständig hier, so wie einige Kleidungsstücke und Hygieneartikel von Birger inzwischen in ihrer Wohnung gelandet waren. Es war ein Zustand, mit dem sie sich beide arrangiert hatten.
Alva folgte Birger in die Küche und bereitete Kaffee zu, während er die Spülmaschine einräumte. Anschließend setzten sie sich mit ihren Tassen in die gemütliche Sofaecke. Hinter der Scheibe des Kaminofens tanzten Flammen und verbreiteten eine behagliche Atmosphäre.
„Du hast da neulich etwas angedeutet im Zusammenhang mit den beiden Frauen, denen die Gebärmutter entfernt wurde“, sagte Alva. „Das heißt, nur bei der einen wissen wir es genau, bei der anderen können wir es nur vermuten, weil ihre Leiche nach wie vor verschwunden ist. Aber zweifellos soll da etwas vertuscht werden. Du hast da irgendeinen Zusammenhang mit ihren Behinderungen gesehen.“
Birger schien sich nicht gleich zu erinnern, worauf sie hinauswollte, doch dann hellte sich seine Miene auf. „Ich glaube, ich weiß, was es war. Aber es hat keine Bedeutung, es war nur eine spontane Assoziation.“
„Ich liebe spontane Assoziationen.“ Alva lehnte sich entspannt zurück. „Und ich höre dir gern zu.“
„Schön wenn das so ist. Aber es handelt sich um keine erbauliche Geschichte, sondern um eine ziemlich tragische.“ Er stellte seine Tasse auf dem Tisch ab und faltete die Hände. „Es war gleich im ersten Jahr meiner Tätigkeit als niedergelassener Psychologe. Damals kam ein Patient von Mitte siebzig zu mir, der unter depressiven Schüben litt. Nach und nach vertraute er mir seine Lebensgeschichte an. Er stammte aus einfachen Verhältnissen und hatte als Siebzehnjähriger ein Kind gezeugt. Einer Arbeit ging er nicht nach, konnte sich lange nicht für einen Berufsweg entscheiden. Das führte zu seiner Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt.“
„Er wurde nur aufgrund der Tatsache, dass er nicht arbeitete, in die Psychiatrie eingewiesen?“, fragte Alva ungläubig.
„Genauso war es. Man legte ihm das als krankhaft bedingte Asozialität aus. Dass er bereits ein Kind hatte, kam erschwerend hinzu. Sein behandelnder Arzt erklärte, es sei zu befürchten, er würde weitere Kinder zeugen, die er dann nicht versorgen könne. Seine Entlassung aus der Psychiatrie sei nur zu verantworten, wenn er die Zustimmung zur Sterilisation geben würde. Aus Angst, für immer weggesperrt zu werden, stimmte er zu. Damals war er erst neunzehn Jahre alt. Diese Erfahrung und der anschließende Eingriff, der ihm seine Zeugungsfähigkeit nahm, haben sein Leben zerstört.“
„Ich habe von diesen früheren Praktiken gehört“, sagte Alva. „Aber das kam mir so weit weg vor, weil es lange zurückliegt.“
„So lange her ist das leider nicht“, entgegnete Birger. „Das Gesetz, das Zwangssterilisationen von geistig behinderten und sozial unangepassten Personen ermöglichte, wurde offiziell erst 1976 abgeschafft. Von seiner Einführung 1941 bis zu seiner Abschaffung wurden in Schweden rund 13 000 Personen sterilisiert, 9000 Frauen und 4000 Männer. Sie waren zum Teil noch minderjährig oder ihre Einwilligung wurde wie im Falle meines Patienten erpresst.“
„Und das in unserem Land, man möchte es kaum glauben.“ Alva fröstelte.
„Inzwischen wurde das Unrecht aufgearbeitet, man hat die Sterilisationen als staatlichen Übergriff eingestuft und den Betroffenen steht eine Entschädigung zu. Die erlittenen psychischen Schäden lassen sich dadurch leider nicht heilen. Auch meinem Patienten hat das nicht wirklich geholfen.“
Das Feuer im Kamin flackerte hell auf und draußen heulte der Wind. Alva griff nach der Decke, die auf der Couch lag und wickelte sie um ihre Knie. „Das ist ein düsteres Kapitel, aber es ist zum Glück überwunden. Wie bist du im Zusammenhang mit den beiden Frauen darauf gekommen? Marie Granlund war Epileptikerin und Erika Frans hatte geistige Einschränkungen, die auf den Alkoholkonsum ihrer Mutter in der Schwangerschaft zurückzuführen waren. Wir hatten unter den Kollegen bereits die Möglichkeit diskutiert, jemand könnte sie ausgewählt haben, weil sie leicht zu manipulieren waren. Um sie dann zu einer illegalen Organspende zu überreden. Gebärmuttertransplantationen sind zunehmend gefragt und irgendwoher müssen die Spenderorgane schließlich kommen. Aber es dürfte kaum darum gegangen sein, zu verhindern, dass sie selbst Kinder bekommen.“
„Alles, was wir hier gerade diskutieren, ist reine Spekulation.“ Birger griff nach seiner Tasse. „Aber in manchen Köpfen spukt immer noch altes Gedankengut herum. Als man das Gesetz damals erließ, ging man von der Vererbung geistiger Behinderungen aus, ebenso hielt man Alkoholismus, Prostitution und asoziales Verhalten für vererbbar. Eine Begründung lautete, man müsse die Gesellschaft vor den Lasten schützen, die auf sie zukämen, wenn diese Bevölkerungsgruppen Kinder in die Welt setzen. Es gibt Menschen, die auch heute wieder so denken. Aber du hast recht, mit euren Fällen hat das sicher nichts zu tun. Wie gesagt, es war nur eine spontane Assoziation von mir.“ Er trank den Rest seines Kaffees aus. „Was hältst du davon, wenn wir schlafen gehen? Morgen stehen wir rechtzeitig auf und machen uns auf den Weg nach Lund.“