56.

Sie hatten sich entschieden, den Zug zu nehmen, der sie in zweieinhalb Stunden von Göteborg nach Lund brachte. Alva liebte diese Art des Reisens, sie schaute aus dem Fenster und hing ihren Gedanken nach. Noch immer hatte sie keinen Plan, wie sie in der Klinik genau vorgehen wollte. Da sie nicht allein im Abteil waren, sprachen sie und Birger wenig und nur über Belangloses.

„Weißt du schon genau, wie du dort hinkommst?“, fragte Birger, kurz bevor sie aussteigen mussten.

Alva nickte, sie hatte sich im Vorfeld informiert. Die Hedmann-Klinik lag zwischen Lund und Dalby, es gab eine Busverbindung dorthin. Birger schlug vor, nach der Ankunft in Lund erst einmal in Ruhe zu frühstücken. Alva war einverstanden, denn sie hatten morgens nur in aller Eile eine Tasse Kaffee getrunken. Sie war fasziniert von der malerischen Stadt, in der Birger sich bestens auskannte. Zielsicher führte er sie zum zentralen Marktplatz, um den herum sich eine Vielzahl von Cafés gruppierte. Birger hatte sogar ein Lieblingscafé, es war klein und gemütlich. Das freundliche Personal servierte ihnen ein ausgezeichnetes Frühstück. Während sie drinnen die Ruhe genossen, herrschte draußen geschäftiges Treiben, denn gerade öffneten die Stände des Blumen- und Gemüsemarktes.

„Wie willst du jetzt vorgehen?“, fragte Birger und faltete seine Serviette zusammen.

„Ich nehme den nächsten Bus nach Dalby, ein Stück muss ich dann sicher noch zu Fuß gehen. Ich denke nicht, dass er direkt an der Klinik hält. Willst du dir inzwischen die Stadt ansehen?“

Birger schüttelte den Kopf. „Kommt nicht infrage. Erstens kenne ich die Stadt und zweitens lasse ich dich nicht allein fahren. Während du dich in der Klinik umsiehst, mache ich einen Spaziergang in der Umgebung. Im Dalby-See haben mein Freund und ich im Sommer oft gebadet. Das ist eine wildromantische Badestelle in einem alten Steinbruch, so etwas findet man nicht überall. Man kann dort von den bis zu zehn Meter hohen Steinwänden direkt ins Wasser springen.“

„Zum Baden ist es heute nun aber wirklich zu kalt“, bemerkte Alva trocken. Die Luft war klar und die Temperatur lag nur knapp über sieben Grad. Wenigstens regnete es nicht.

Sie hatten Glück, der nächste Bus fuhr gerade vor, als sie die Haltestelle erreichten. Eine Viertelstunde später waren sie am Ziel und fanden die Klinik schnell. Birger musterte den grauen Betonklotz abfällig. „Bloß gut, dass sie so weit draußen gebaut haben. Der Bau ist eine architektonische Gewalttat.“ Alva gab ihm recht. Lund bestand aus einer Ansammlung unterschiedlicher Baustile, die vom Mittelalter bis zur Postmoderne reichten und trotzdem ein erstaunlich harmonisches Gesamtbild ergaben. Diese Klinik hätte da wie ein Fremdkörper gewirkt.

„Viel Erfolg, ich halte mich in der Nähe auf“, verabschiedete sich Birger. Alva ging auf den Eingang des Gebäudes zu, die schweren Glastüren glitten automatisch zur Seite. Gleichzeitig mit ihr betrat eine junge Frau in einem knöchellangen Mantel die Eingangshalle. Ihr Haar hatte sie unter einem eng anliegenden Kopftuch verborgen und sie trug einen Korb in der Hand, über den ein weißes Tuch gebreitet war. Hinter dem imposanten Empfangstresen in Marmoroptik saß niemand, die junge Frau mit dem Korb wandte sich zielstrebig nach rechts. Kurzentschlossen folgte Alva ihr. Sie gingen einen langen Gang entlang, vor einer Metalltür zog die Frau eine Karte aus ihrer Tasche und steckte sie in einen Schlitz oben in der Tür. Es ertönte ein sirrendes Geräusch und die Tür schwang auf. Bevor sie sich wieder schloss, zwängte Alva sich hinter der Frau mit hindurch, deren erschrockenen Blick geflissentlich ignorierend. Der Boden des Bereiches, in dem sie sich nun befanden, war mit dicken Läufern ausgelegt, die jedes Geräusch erstickten. Die Frau mit dem Korb huschte lautlos durch eine weitere Glastür, Alva blieb davor stehen und spähte in den Raum dahinter. Was sie erblickte, glich eher einem orientalischen Salon als einem Krankenhauszimmer. Neben einem breiten Bett mit prunkvoll geschnitztem Kopfteil standen kunstvoll verzierte Tischchen mit üppigen Blumenarrangements und funkelnden Karaffen. Auf dem Bett lag eine Frau mit langem schwarzem Haar, die in ein weites cremefarbenes Gewand gehüllt war. Die Kopftuchfrau verneigte sich ehrerbietig vor ihr. Sie stellte den Korb auf einem der Tische ab und zog sich rückwärtsgehend zurück. Alva kam aus dem Staunen nicht heraus. Wer war die Frau auf dem Bett? Eine Prinzessin aus einem arabischen Land? Die andere Frau war offenbar eine persönliche Bedienstete von ihr.

„Wer sind Sie, was machen Sie hier?“ Eine Hand krallte sich von hinten fest in Alvas Schulter. Sie drehte sich um und sah sich einer hageren Frau gegenüber, die sie aus tief liegenden Augen empört anfunkelte.

„Wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?“, zischte die Hagere wütend.

„Die Tür war offen und die Rezeption nicht besetzt“, erwiderte Alva. Sollte die Frau ihr doch erst einmal das Gegenteil beweisen.

„Kein Unbefugter darf diesen Bereich betreten.“

„Dann sollten Sie ihn besser sichern. Es gibt nicht einmal ein Schild, das den Zutritt verbietet. Außerdem sollte jemand am Empfang sitzen, damit Besucher nicht umherirren müssen.“ Etwas an der Frau, das Alva nicht näher benennen konnte, reizte sie. Deren Reaktion ließ nicht auf sich warten.

„Was fällt Ihnen ein, derart anmaßend aufzutreten? Wer sind Sie überhaupt?“

„Alva Claesson, Polizei.“ Alva zückte ihren Ausweis und hielt ihn der Frau unter die Nase. Die Wirkung war verblüffend, sie wurde blass und trat einen Schritt zurück.

„Was wollen Sie hier?“

„Ich muss mit Dr. Karl Hedmann sprechen.“

„Das ist nicht möglich, er operiert gerade. Sie müssen mit mir vorliebnehmen.“

„Würden Sie sich bitte vorstellen?“

„Runa Hedmann, ich bin die Ehefrau von Dr. Hedmann. Kommen Sie mit.“ Sie führte Alva in ein Büro mit viel Stahl und Glas. Der Stuhl, den sie Alva anbot, war ausgesprochen unbequem. Aber bequem würde an diesem Gespräch nichts werden, da war sich Alva ganz sicher.

„Sind eigentlich all Ihre Zimmer so eingerichtet?“, fragte Alva. „Und bringen alle Patienten persönliches Personal mit?“

Die Lippen von Runa Hedmann wurden noch schmaler, als sie ohnehin schon waren. „Ist das eine offizielle Frage oder wollen Sie nur plaudern? Um was geht es überhaupt?“

„Ich versuche, einen Eindruck von Ihrer Einrichtung zu gewinnen. Das hängt mit meinem offiziellen Anliegen zusammen, auf das ich gleich zu sprechen kommen werde.“

„Wir haben Patientinnen, die sich über einen längeren Zeitraum bei uns aufhalten. Deshalb machen wir Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich und gestatten ihnen, ihr Umfeld individuell auszugestalten.“

„Mit welchen Indikationen kommen die Patientinnen zu Ihnen?“

„Wir betreuen Risikoschwangere und Frauen mit einem erhöhten Risiko für Fehl- und Frühgeburten. Manche bleiben über Monate bis zur Entbindung bei uns. Das lässt sich alles auf unserer Website nachlesen.“ Runa Hedmann bedachte Alva mit einem giftigen Blick. Alva ignorierte ihre Gereiztheit.

„Sie sagten, Ihr Mann sei gerade bei einer OP. Welche Operationen werden hier vorgenommen?“

„Die meisten unserer Patientinnen entbinden per Kaiserschnitt.“

„Gehören auch Uterustransplantationen zu den in Ihrer Klinik durchgeführten Operationen?“

„Nein, natürlich nicht.“ Die Antwort kam sehr schnell und entschieden. „Oder haben Sie auf unserer Website etwas darüber gelesen? Falls Sie sich die überhaupt angesehen haben.“

Alva ließ sich nicht provozieren, sie fuhr in einem gelassenen Tonfall fort. „Eine Uterustransplantation ist ein heikler Eingriff. Da Ihre Patientinnen so großen Wert auf den Schutz Ihrer Privatsphäre legen, wäre es denkbar, diese Operationen nicht publik zu machen.“

Runa Hedmann ging nicht darauf ein, sondern attackierte Alva weiter. „Die Privatsphäre unserer Patientinnen haben Sie mit Ihrem unerlaubten Eindringen hinreichend verletzt. Außerdem haben Sie noch immer nicht erklärt, weshalb Sie überhaupt hier sind.“

Alva entging nicht, wie unangenehm Runa Hedmann das Thema Transplantationen war. Offenbar wollte sie schnell davon ablenken. Da Alva von ihr ohnehin nichts weiter dazu erfahren würde, beharrte sie nicht darauf. Stattdessen beantwortete sie Hedmanns Frage nach ihrem Anliegen. „Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Ich hätte gern Informationen über Udo Lindell.“

„Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, Lindell arbeitet nicht bei uns.“ Sie lehnte sich zurück und signalisierte, nichts weiter dazu sagen zu wollen.

„Dr. Lindell hat bei Ihnen hospitiert und soweit ich informiert bin, war er auch an Behandlungen und Operationen beteiligt. Er hatte die Absicht, nach Lund umzuziehen, hat hier bereits ein Haus erworben. Er ging davon aus, eine Festanstellung an Ihrer Klinik anzutreten.“

„Das mit den Hospitationen stimmt und es mag sein, dass er sich Hoffnungen auf eine Anstellung gemacht hat. Aber die Entscheidung darüber lag bei der Klinikleitung und nicht bei ihm. Sie ist gegen ihn ausgefallen.“

„Welche Gründe gab es, ihn nicht einzustellen?“

„Jetzt hören Sie mal“, brauste Runa Hedmann auf, „ich verstehe den Sinn und Zweck Ihrer Fragen nicht. Das sind interne Personalentscheidungen, darüber rede ich nicht.“

Wieder hatte Alva verbotenes Terrain betreten, wie sie nicht ohne heimliche Genugtuung feststellte. „Sie werden mir darüber Auskunft erteilen müssen, denn dies ist eine offizielle polizeiliche Ermittlung. Der Sohn und die Ehefrau von Udo Lindell werden vermisst. Wir müssen die möglichen Hintergründe der Tat aufklären und dabei alles in Betracht ziehen. Was dann wirklich von Bedeutung ist, stellt sich immer erst später heraus. Deshalb möchte ich jetzt wissen, aus welchen Gründen Udo Lindell nicht eingestellt wurde.“

Runa Hedmann gab ein theatralisches Stöhnen von sich. „Er passte einfach nicht ins Team. Sein Auftreten war arrogant und es kam dadurch zu Spannungen unter den Kollegen. Eine Schwester hat deshalb sogar gekündigt. Reicht das als Begründung?“

„Wenn Sie mir noch den Namen der Schwester nennen, gebe ich mich damit zufrieden.“

„Das sind vertrauliche Personalangelegenheiten.“

„Natürlich kann ich mit einem richterlichen Beschluss wiederkommen und all Ihre Personalangelegenheiten der vergangenen Jahre unter die Lupe nehmen.“ Alva pokerte hoch, doch Runa Hedmann durchschaute das zum Glück nicht.

„Astrid Wall“, presste sie hervor. „Die Schwester heißt Astrid Wall.“ Widerwillig nannte sie Alva auch noch deren Anschrift.

Relativ zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Recherchen verließ Alva die Klinik. Kaum war sie zur Tür hinaus, wählte Runa Hedmann eine Nummer auf der hausinternen Telefonanlage. Unmittelbar darauf betrat ihr Mann den Raum.

„Was wollte sie?“, fragte er.

„Sie hat sich nach Lindell erkundigt.“

Karl Hedmann nickte. „Das war zu befürchten. Der Kerl macht uns eine Menge Ärger. Aber du hast das sicher gut gemeistert.“

Runa Hedmann schluckte. „Ich musste ihr den Namen von Astrid Wall geben. Sie hat mit einem Durchsuchungsbeschluss gedroht.“

Die Miene von Karl Hedmann verdüsterte sich schlagartig. „Und wenn schon“, sagte er dann. „Astrid wird kaum in der Lage sein, etwas zu erzählen.“