63.

Alva drückte erneut auf die Klingel, doch in der Wohnung rührte sich nichts. Die letzte Zeugin, die sie heute nach einem möglichen Aufenthaltsort von Sina Lindell fragen wollte, war offenbar nicht zu Hause. Vermutlich hätte sie ihr genauso wenig weiterhelfen können wie alle anderen vor ihr Befragten, aber ärgerlich war es doch. Alva überlegte, was sie nun tun sollte. An ihren Schreibtisch im Präsidium zurückkehren? Dort würden ihr vermutlich auch keine neuen Erkenntnisse zufliegen. Sie beschloss, einfach nur den Wagen abzugeben und dann mit der Straßenbahn nach Hause zu fahren. Birger wollte heute Abend für sie beide kochen, das war ein Lichtblick nach einem weiteren erfolglosen Tag.

Alva hatte das Auto zwischen zwei Wohnblöcken in der Aschebergsgatan abgestellt, auf dem Weg dorthin fiel ihr ein, dass sich ganz in der Nähe auch das Büro des Vereins für die Rechte Betroffener von Zwangssterilisationen befand. Wenn sie ihre Zeugin schon nicht angetroffen hatte, konnte sie wenigstens dort vorbeischauen. Wahrscheinlich war das Büro nicht ständig besetzt, einen Versuch war es jedoch wert. Sie hatte sich die Hausnummer gemerkt, es war nur wenige Wohnblöcke von der Stelle entfernt, wo sie ihr Auto geparkt hatte. Die Räume befanden sich in einem ehemaligen Laden, es gab ein unscheinbares Schild, auf dem nur Treffpunkt RBZ stand. Wer nicht informiert war, was sich dahinter verbarg, konnte damit nichts anfangen. Die Tür war nicht verschlossen und Alva trat ein. Eine Glocke gab einen scheppernden Ton von sich, der an einen alten Krämerladen erinnerte. An einem Tisch stand ein korpulenter glatzköpfiger Mann, durch dicke Brillengläser blinzelte er Alva kurzsichtig an. „Wollen Sie zu uns?“

„Wenn das hier das Büro des Vereins für die Rechte von Zwangssterilisation Betroffener ist, dann ja.“

„Sie sind richtig, mein Name ist Henrik Carlsten, aber Henrik reicht. Wir reden uns hier alle nur mit dem Vornamen an.“

„Ich bin Alva.“ Sie erinnerte sich, Carlstens Namen auf der Website gelesen zu haben, er war der Vorsitzende des Vereins. Jetzt schaute er auf die Uhr. „Du bist zu früh Alva, der Vortrag fängt erst in einer Stunde an.“

„Oh, da habe ich mich wohl in der Zeit vertan.“ Alva beschloss, sich nicht als Polizistin zu erkennen zu geben und die Rolle der interessierten Bürgerin zu spielen.

Henrik schaute sie noch immer aufmerksam an, sie schätzte ihn auf Mitte fünfzig. „Du bist sehr jung Alva“, sagte er. „War jemand aus deiner Familie betroffen oder ist es ein allgemeines Interesse, das dich hierher führt?“

„Es gibt da gewisse Gerüchte in meiner Familie, sie betreffen eine Cousine meiner Mutter“, improvisierte Alva schnell. Sie fürchtete, als Nichtbetroffene, keine Auskünfte zu bekommen. Ihre Taktik erwies sich als richtig, Henrik nickte verständnisvoll.

„Ja, so ist es meistens, die Wahrheit wird oft noch immer vertuscht oder schamhaft verschwiegen. In meiner Familie war es ähnlich. Da betraf es eine Schwester meiner Mutter. Ich habe diese Tante sehr geliebt und mich gefragt, weshalb sie oft so traurig war. Einmal habe ich sie gefragt, weshalb sie keine eigenen Kinder hat. Ihr bitterliches Weinen daraufhin werde ich nie vergessen. Aber erst kurz vor ihrem Tod hat sie mir anvertraut, was man ihr als junger Frau angetan hatte.“

„Die meisten Betroffenen sind vermutlich nicht mehr am Leben“, bemerkte Alva.

„Einige gibt es schon noch“, erwiderte Henrik lebhaft. „Unsere heutige Referentin ist eine von ihnen. Margarete ist fünfundsiebzig Jahre alt. Ihr Schicksal steht für viele andere. Sie kam in einer armen Familie mit sechs Geschwistern zur Welt. Niemand bemerkte, dass sie schwerhörig war, auch die Ärzte nicht. Man stufte sie als geistig behindert ein. Weil sie Anweisungen nicht verstand und dadurch nicht befolgen konnte, galt sie darüber hinaus als verstockt und schwer erziehbar. Als sie sich dann mit siebzehn für Jungen zu interessieren begann, riet man ihren Eltern dringend, Margarete sterilisieren zu lassen. Sie befolgten diesen Rat, ohne das Mädchen nach seiner Einwilligung zu fragen. Margarete arbeitete nach der Schule als Hilfskraft in einer Großküche. Eigentlich sollte sie nur die Abfälle rausbringen und die Gänge sauber halten, aber einem der Köche fiel ihr Interesse fürs Kochen auf. Er war der Erste, der begriff, was wirklich mit ihr los war. Sie bekam bald darauf ein Hörgerät und von da an ging es aufwärts mit ihr. Mit dreißig machte sie eine Ausbildung zur Köchin und arbeitete bis zum Rentenalter erfolgreich in diesem Beruf.“

„Und heute wird sie hier sprechen?“, fragte Alva.

„Ja, es ist wichtig, dass solche Geschichten gehört werden. Ich hoffe, es kommen viele Interessierte.“

„Es gab auch schon andere Vorträge, zum Beispiel von Ärzten. Ich habe das auf der Website gesehen.“

„Ja, einige engagieren sich sehr für unseren Verein. Es gibt da zum Beispiel eine Gynäkologin, die durch ihre Familiengeschichte selbst betroffen ist. Ihre Großmutter war ein uneheliches Kind, der Vater unbekannt. Um die Schande zu vertuschen, gab die Familie sie zu Pflegeeltern, die sie lieblos behandelten. Kein Wunder, dass sie rebellierte und anderweitig nach Liebe suchte. Leider geriet sie dabei an den falschen Mann und wiederholte das Schicksal ihrer Mutter, sie brachte mit siebzehn ein uneheliches Kind zur Welt. Die Pflegeeltern und ein zurate gezogener Arzt attestierten ihr asoziales Verhalten und sexuelle Zügellosigkeit, was zu ihrer Einweisung in die Psychiatrie führte, die sie erst nach ihrer erzwungenen Zustimmung zur Sterilisation wieder verlassen durfte.“

„Wie furchtbar“, sagte Alva. „Wie ging es danach mit ihr weiter?“

Henrik seufzte. „Sie hat sich bald darauf umgebracht. Und ihre kleine Tochter, die Mutter der Ärztin, von der ich erzähle, wuchs bei einer alten Tante auf, die sie mit Härte behandelte. Sie litt später unter Depressionen und Angstzuständen, die sie mit immer mehr Medikamenten bekämpfte, was ihre Gesundheit untergrub. Auch sie nahm sich das Leben. Die Tochter war da schon erwachsen und hatte sich gerade als Ärztin niedergelassen. Aber die seelischen Verletzungen wirkten bei ihr nach. Sie leidet darunter, dass sie ihrer Mutter nicht helfen konnte. Auch deshalb engagiert sie sich für andere Menschen, die durch ihre Familiengeschichte ähnlich traumatisiert sind.“

Alva hatte erfahren, was sie wissen wollte. Sie musste nicht nach dem Namen fragen, sie wusste auch so, wer die Ärztin war, von der Henrik gesprochen hatte. Es handelte sich um niemand anderen als um Malena Berglund. Alva würde den heutigen Vortrag nicht abwarten, so interessant er auch sein mochte. Jetzt wollte sie schnell nach Hause zu Birger. Sie drückte Henrik ihr Bedauern darüber aus, sich in der Zeit geirrt zu haben und nicht länger bleiben zu können. Aber sie versprach, wiederzukommen.