70.

„Na das ist vielleicht eine Lektüre!“ Sven schüttelte den Kopf. „Da kriege sogar ich rote Ohren.“

„Was liest du denn da?“, fragte Jördis. Sie hatte sich gerade einen Kaffee vom Automaten geholt.

„Das Tagebuch von Frauke Roos.“

„Wie bitte, machst du Witze?“ Alva schaute von ihrem Schreibtisch auf, auch Caroline war aufmerksam geworden.

„Durchaus nicht. Das hat vorhin eine Elvira Palmer hier abgegeben. Das ist die Schwester von Frauke Roos.“

„Die Halbschwester“, korrigierte Alva ihn, „auf diese Unterscheidung legt sie größten Wert.“

„Noch größeren Wert legt sie darauf, das Erbe von Frauke Roos antreten zu dürfen.“ Sven grinste. „Das war ihr eigentliches Anliegen. Wir sollen ihr dabei behilflich sein, sie verwechselt uns offenbar mit dem Nachlassgericht. Dann hat sie mir das Tagebuch gegeben, damit ich sehe, was für ein verkommenes Flittchen Frauke war.“

„Wer schreibt den heute noch Tagebuch?“, fragte Caroline.

„Ich denke, das kommt nie ganz aus der Mode“, meinte Sven. „Und wenn es um höchst intime Dinge geht, würde ich die besser keinem Computer anvertrauen, sondern ganz klassisch so einem Heftchen, das man schnell verbrennen kann. In der Asche wird niemand Spuren finden, auf einer Festplatte schon eher.“

„Aber was steht denn drin?“ Alva hielt es nicht mehr auf ihrem Platz, sie kam näher und schaute Sven über die Schulter. Bei dem Heft handelte es sich um ein gewöhnliches liniertes Schulheft und auch die Schrift von Frauke glich der eines Schulmädchens. Jedenfalls war sie gut zu lesen.

Sven winkte ab. „Leider bisher nichts von Bedeutung, es ist der reinste Porno. Sie schildert darin von Anfang an ihre amouröse Beziehung zu Lindell. Nun beginnen ja viele Beziehungen am Arbeitsplatz, doch wenn es sich dabei um eine gynäkologische Praxis handelt, wird die Sache pikant. Wollt ihr eine Kostprobe hören: Wie ich da so weit aufgespreizt vor ihm im Behandlungsstuhl saß und er seinen Zauberstab auf mich richtete ...“

„Hör auf, es reicht“, kreischte Jördis. „Ich habe in der nächsten Woche einen Termin bei meinem Gynäkologen, ich will dort keinen Lachkrampf bekommen, nur weil ich plötzlich daran denken muss.“

„Ist das alles ähnlicher Mist? Steht nichts von Bedeutung drin?“, fragt Alva enttäuscht.

Sven zuckte mit den Schultern. „Ich bin noch nicht durch, aber da kommt bestimmt nichts mehr, was uns helfen könnte. Sicher kein Geständnis. Die Halbschwester hat das garantiert alles gründlich gelesen und würde Profit daraus schlagen, wenn sie entsprechende Hinweise gefunden hätte. Vielleicht wäre sie dann damit zur Presse gelaufen und nicht zu uns gekommen. Diesen Müll hier würde niemand drucken, schon das Lesen ist eine Zumutung.“

„Dann opfere dich mal weiterhin, du Ärmster“, sagte Alva. „Ich muss jetzt gleich mit Malena Berglund reden. Wer kommt mit?“

Jördis sprang sofort auf und Alva war es recht. Irgendwie fand sie das Thema, das sie anschneiden wollte, in Carolines gegenwärtiger Situation nicht passend für sie.

Malena Berglund erwartete sie auf dem Flur. Sie trug ihr dunkles Haar hochgesteckt und war mit einem weißen Rollkragenpullover, einem engen schwarzen Rock und hohen schwarzen Stiefeln bekleidet. Alva registrierte, wie attraktiv und keineswegs kränklich sie aussah. Da sie ein ausführliches Gespräch mit Malena Berglund plante, bat Alva sie in einen der Vernehmungsräume.

„Frau Berglund, wie geht es Ihnen?“, fragte sie. „Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“

„Wenn das nicht der Fall wäre, säße ich nicht hier“, erwiderte Malena abweisend. Sie versuchte, souverän zu wirken, doch dem geschulten Blick von Alva entging ihre Anspannung nicht.

„Möchten Sie einen Kaffee?“, bot sie an.

„Nein danke, ein Wasser wäre nett.“

Jördis sprang auf, um es zu holen. Alva wartete ihre Rückkehr ab, bevor sie mit ihren Fragen begann. „Sagt Ihnen der Name Marie Granlund etwas?“

„Nein, nicht dass ich wüsste.“

„Und der Name Erika Frans?“

„Der sagt mir ebenfalls nichts.“

Sie hielt ihre Antworten knapp, fragte nicht nach, was es mit den Frauen auf sich hatte. Es sollte desinteressiert wirken, verfing bei Alva aber nicht.

„Frau Berglund, Sie engagieren sich in einem Verein, der für die Rechte der Opfer von Zwangssterilisationen eintritt.“

Falls sie von dem abrupten Themenwechsel überrascht war, ließ Malena es sich nicht anmerken.

„Das ist richtig“, erwiderte sie nur.

„Wir haben uns im Rahmen der Ermittlungen dort ein wenig umgehört und einiges über Ihre Familiengeschichte erfahren.“

„Ich weiß zwar nicht, was für eine Rolle es für Sie spielt, aber ich mache kein Geheimnis daraus. Meine Großmutter war Opfer einer solchen Zwangsmaßnahme. Aus diesem Grunde engagiere ich mich in dem Verein und helfe anderen Betroffenen und deren Familien.“

Alva nickte verständnisvoll. „Ein solches Engagement ist mit Sicherheit wichtig. Es ist unvorstellbar, was den Betroffenen angetan wurde. Wenn ich die Begründungen lese, mit denen man diese Zwangsmaßnahmen rechtfertigte, macht mich das richtig wütend.“

Zum ersten Mal gab Malena ihre reservierte Haltung auf, ihre Erwiderung klang lebhaft. „Diese Begründungen entbehrten jeder wissenschaftlichen Grundlage. Die überwiegende Anzahl der Kinder mit geistigen oder körperlichen Behinderungen hat medizinisch gesunde Eltern. Außerdem sterilisierte man nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch solche, die einfach nicht in die bigotte Vorstellungswelt ihrer Zeit passten. Da reichte es aus, wenn eine junge Frau dagegen rebellierte und ihren eigenen Weg gehen wollte, so wie meine Großmutter.“

„Vor dem Hintergrund einer solchen Familiengeschichte muss es Sie doch unglaublich wütend machen, wenn es heute noch immer oder schon wieder Menschen gibt, die ähnliche Ansichten vertreten.“

Malena Berglund war klug, sie witterte die Falle. Ihre Antwort fiel ausweichend aus. „Das mag vereinzelt vorkommen, aber es hat zum Glück nicht die Konsequenzen, die es damals hatte.“

„Sind Sie da so sicher?“, fragte Alva. „Marie Granlund war Epileptikerin und geistig leicht behindert. An ihr wurde eine nicht dokumentierte Hysterektomie vorgenommen. Sie haben davon gewusst.“

„Wie kommen Sie darauf? Ich sagte bereits, ich kenne die Frau nicht.“

„Wie ich darauf komme? Marie Granlund starb während eines Anfalls in der Badewanne. Aufgrund der Todesumstände erfolgte eine Obduktion und die Rechtsmedizinerin stellte dabei das Fehlen der Gebärmutter fest, obwohl es keinen Eintrag über eine solche Operation in der Patientenakte von Frau Granlund gab. Sie rief deshalb alle Ärzte an, bei denen Frau Granlund im Verlaufe der letzten Jahre in Behandlung war. Sie gehörten zu den Angerufenen.“

Alva beglückwünschte sich dazu, Rücksprache mit Brigitte Wallenius genommen und diese Information erhalten zu haben. Doch die Wirkung, die sie sich davon erhofft hatte, blieb aus. Malena reagierte gelassen.

„Ich kann mich nicht daran erinnern. Anrufe aus der Rechtsmedizin sind keine Seltenheit. Das kommt häufiger vor, wenn es zum Beispiel Anzeichen für eine kürzlich erfolgte Entbindung bei einer Verstorbenen gibt oder in Fällen von plötzlichem Kindstod. Aber an den Anruf wegen einer Frau Granlund kann ich mich nicht erinnern.“

Möglicherweise sagte sie die Wahrheit. Marie Granlund hatte die Ärzte häufig gewechselt, bei Malena Berglund war sie nur ein einziges Mal gewesen, und das lag schon zwei Jahre zurück. Es war vermutlich vor der Operation gewesen. Alva änderte erneut ihre Taktik.

„Der Eingriff bei Marie Granlund erfolgte illegal. Außerdem vermuten wir, sie war nicht das einzige Opfer. Die Leiche von Erika Frans konnte nicht obduziert werden, aber hier gab es erkennbare Bestrebungen, etwas zu vertuschen. Erika Frans war die Patientin von Ebba Sundin, Ihrer Freundin und Mentorin. Nach glaubwürdigen Zeugenaussagen hatten Ebba Sundin und Erika Frans einen heftigen Streit. Kurz darauf wurde Ebba Sundin erschlagen, von einer Person, die offenbar einen gewaltigen Zorn gegen sie hegte. Wir fragen uns, was wohl der Grund dafür war. Hatte Ebba Sundin den Frauen das angetan? Haben Sie es herausgefunden und sie deshalb getötet?“

Die Reaktion von Malena fiel heftig aus. Sie schnellte vom Stuhl in die Höhe und stieß dabei das Wasserglas um. „Wie können Sie Ebba eine derartige Ungeheuerlichkeit unterstellen? Niemals hätte sie so etwas getan. Im Gegenteil, sie war diejenige, die es herausgefunden hatte und die Schuldigen bestraft sehen wollte. Deshalb wurde sie umgebracht.“

Alva schwieg und schaute Malena nur an. Die ließ sich auf den Stuhl zurückfallen und senkte den Blick. Erst jetzt schien ihr bewusst zu werden, was soeben passiert war.

„Gut“, sagte Alva nach einer Weile, „dann erzählen Sie uns bitte, was Sie bisher verschwiegen haben. Was wusste Ebba Sundin?“

Malena atmete tief aus, es klang wie ein Seufzen. „Erika Frans war Ebbas Patientin, sie war eine von den Vorbildlichen, die regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung kamen. Vor ein paar Wochen traf Ebba sie zufällig in der Stadt. Ebba grüßte sie wie immer, doch Erika Frans starrte sie wütend an und drehte den Kopf weg. Ebba fand das merkwürdig, sie sprach sie darauf an. Ja, und da behauptete Erika Frans, Ebba habe eine tödliche Krankheit bei ihr übersehen. Wenn das nicht zufällig einem anderen Arzt aufgefallen wäre, hätte es keine Rettung für sie gegeben. Ebba begriff sehr schnell, dass da etwas nicht stimmte. Sie suchte Erika Frans zu Hause auf, um Näheres zu erfahren. Sie sagte zu mir, da wäre eine riesige Schweinerei im Gange und sie wolle alles tun, um das aufzudecken. Leider war Erika Frans nicht bereit, ein weiteres Mal mit ihr darüber zu reden. Es schien, als habe jemand sie unter Druck gesetzt. Ebba musste unverrichteter Dinge wieder abziehen und kurz darauf wurde sie umgebracht.“

„Und warum haben Sie uns das nicht gleich erzählt?“, fragte Alva. „Warum haben Sie behauptet, den Namen Erika Frans noch nie gehört zu haben?“

„Ich hatte ganz einfach Angst. Ebba wurde ermordet und wir waren ziemlich vertraut miteinander. Wenn die Täter glauben, sie hat mich eingeweiht, bin auch ich in Gefahr.“

„Das klingt für mich nicht logisch.“ Alva lehnte sich zurück und musterte Malena aus zusammengekniffenen Augen. „Die Vermutung, Ebba Sundin könnte Sie eingeweiht haben, lag aufgrund Ihrer engen Beziehung zueinander nahe, unabhängig davon, ob Sie uns davon erzählt hätten oder nicht. Hat Ebba Sundin Ihnen noch mehr anvertraut? Wer ist der Arzt, der Erika Frans behandelt hat?“

„Sie hat seinen Namen nicht erwähnt.“ Malena verschränkte die Arme vor der Brust. Alva war sich sicher, dass sie log. Irgendwie machte das alles keinen Sinn. Gerade sie sollte doch ein Interesse an der Aufklärung haben.

„Wo waren Sie am 29. September zwischen 20 und 24 Uhr?“, fragte Alva.

Malena zuckte wie unter einem Schlag zusammen. „Sie glauben noch immer, ich könnte Ebba umgebracht haben?“, fragte sie fassungslos.

„Ich will nur wissen, wo Sie an dem besagten Abend waren.“

„Ich war zu Hause. Da ich seit dem Tod meiner Mutter allein lebe, kann das niemand bezeugen.“

„Sie dürfen dann jetzt gehen.“ Alva fühlte sich plötzlich entsetzlich müde. Sven und Caroline schauten sie mitfühlend an, als Alva und Jördis in ihr gemeinsames Büro zurückkehrten.

„Ist es nicht gut gelaufen?“, fragte Sven.

„Nein, überhaupt nicht. Bei dem, was sie erzählt hat, passt einiges nicht zusammen.“ Sie berichtete, was sie gerade erfahren hatten. „Ich wette, Ebba Sundin hat ihr gesagt, wer Erika Frans behandelt und sie durch die Operation angeblich vom Tode errettet hat. Warum deckt sie denjenigen, ich kann mir das nicht erklären. Ich tippe noch immer auf Lindell, aber wir haben keine Beweise gegen ihn.“

„Vielleicht haben wir die doch.“ Sven grinste und hielt Fraukes Tagebuch in die Höhe.

„Wieso, ich denke, da steht nur pornografisches Zeug drin?“

„Man muss es verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen“, erwiderte Sven.