71.

Frauke war tot. Udo Lindell saß allein in seinem Arbeitszimmer zu Hause und versuchte zu begreifen, wie sich sein Leben in derart kurzer Zeit in eine totale Katastrophe verwandeln konnte. Wenige Wochen war es erst her, als er noch alles im Griff zu haben glaubte. In Frauke hatte er eine Partnerin gefunden, die ihn verstand und seine Pläne mit aller Kraft unterstützte. Sie hatte sein fachliches Potenzial erkannt, das er nicht länger in einer unbedeutenden kleinen Praxis zu vergeuden gedachte. Auch sie wollte ihn groß und anerkannt sehen und war bereit gewesen, alles dafür zu tun. In Lund wollten sie gemeinsam einen Neuanfang wagen, alles war vorbereitet, die erfolgversprechende Anstellung in der Hedmann-Klinik und das gemeinsame Haus. Sina hätte er großzügig abgefunden. Die Ehe mit ihr war ein Fehler gewesen, das war ihm schon lange klar. Sie war der genügsame Typ von Frau, der sich mit schlichter Häuslichkeit zufriedengab und nichts weiter vom Leben erwartete. So eine Frau war für einen Mann von seinem geistigen Format zwangsläufig ein Klotz am Bein. Sie hatte sich gegen einen Umzug nach Lund gesträubt und ihm einzureden versucht, wie gut sie es doch miteinander hätten. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte alles so bleiben sollen, wie es war. Er aber hatte entschieden, sie nicht mitzunehmen und sich stattdessen ein neues Leben mit Frauke aufzubauen. Daran war Sina letztendlich selber schuld.

Aber nun war Frauke tot. Wie konnte das nur geschehen? Lindell stand auf und goss sich ein großes Glas Whisky ein, bereits das dritte an diesem Tag. Er durfte das nicht zur Gewohnheit werden lassen, mehr denn je brauchte er jetzt einen klaren Kopf. Ab wann war alles, was sich so prächtig angelassen hatte, schiefgelaufen? Die zufällige Bekanntschaft mit Hedmann war ein großer Glücksfall gewesen. Sie hatten sich sofort verstanden. Er war fasziniert von den Plänen, die Hedmann mit seiner Klinik verfolgte. Uterustransplantationen, das war ein Markt mit Zukunft. Hedmann wollte sie nicht für die Allgemeinheit anbieten, sondern nur für ausgewählte Patientinnen. Da er bereits ziemlich in der Welt herumgekommen war, verfügte er über entsprechende Kontakte. Er kannte Frauen, die bereit und in der Lage waren, sehr viel dafür zu zahlen, wenn er es ihnen ermöglichte, ein Kind zur Welt zu bringen. Die Schwierigkeit bestand in der Beschaffung von entsprechenden Organspenden, denn diese Patientinnen verlangten absolute Diskretion. Niemand durfte von der Transplantation erfahren und sie würden folglich niemanden aus der Verwandtschaft bitten können, ihnen einen Uterus zu spenden. Dabei gab es so viele Frauen, die über einen gesunden Uterus verfügten und ihn nicht brauchten. Hedmann hatte in gespielter Verzweiflung darüber die Hände in die Luft geworfen. Er hatte von Frauen gesprochen, die besser niemals ein Kind in die Welt setzen sollten, weil sie ohnehin nicht in der Lage wären, es ordentlich aufzuziehen. Von den schlechten Anlagen, die sie dem Kind vererben würden, ganz zu schweigen. Solche Frauen zu einer Organspende zu bewegen, notfalls unter Ausübung von Druck, wäre eine Win-win-Situation. Aber leider dürfe man das in diesem Land nicht mehr laut sagen. Da wäre man früher einsichtiger gewesen.

Hedmanns Worte waren Lindell nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Als Marie Granlund zu ihm in die Praxis kam, lauthals über Menstruationsbeschwerden jammerte und den Wunsch äußerte, das ganze Theater mit den Blutungen und Schmerzen wäre endgültig vorüber, da war ihm eine Idee gekommen. Er hatte ihr vorgeschlagen, sich in einer Privatklinik mit erstklassiger Betreuung endgültig von dem lästigen Problem befreien zu lassen. Sie dürfe nur mit niemandem darüber reden, da solche kostenlosen Vorzugsbehandlungen eigentlich verboten seien. Andere Patientinnen müssten teuer dafür bezahlen und könnten ihn deshalb verklagen. Aber er habe Mitleid mit ihr, weil sie es ihr so schlecht ginge und sie nicht über die notwendigen Mittel für die Operation verfüge. Sie hatte ihm geglaubt und sich als dankbar und verschwiegen erwiesen. Alles war reibungslos verlaufen, die Operation in der Hedmann-Klink, die Transplantation und auch die dadurch möglich gewordene Schwangerschaft der Empfängerin des Organs. Anschließend hatte Hedmann ihm die Stelle in seiner Klinik fest zugesagt. Dass Marie Granlund ein dreiviertel Jahr danach während eines epileptischen Anfalls in der Badewanne ertrank, war natürlich Pech. Doch ihm wäre nichts nachzuweisen gewesen, es gab keinen Eintrag in ihrer Krankenakte und sie war offiziell nie seine Patientin gewesen. Nein, mit Marie Granlund hatte es keine Probleme gegeben, angefangen hatte der ganze Ärger mit Erika Frans. Sie war zu ihm gekommen, als die Praxis von Ebba Sundin, bei der sie sonst immer zur Vorsorgeuntersuchung ging, wegen Urlaub geschlossen war. Ihre geistige Beschränktheit und Naivität waren ihm sofort aufgefallen und hatten ihn auf eine Idee gebracht. Er hatte vorgegeben, eine Krebserkrankung im Frühstadium bei ihr zu erkennen, die sofort operiert werden müsse. Leider würde es nicht möglich sein, schnell genug ein freies Bett in einem staatlichen Krankenhaus zu bekommen. Als sie daraufhin vor Angst weinte, hatte er sie mit der Aussicht auf eine kostenlose Vorzugsbehandlung in einer exklusiven Privatklinik getröstet und sie zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet.

Lindell stand auf und goss sich einen vierten Whisky ein. Erika Frans, die dumme Kuh, hatte trotz aller gegenteiligen Versicherungen nicht dichtgehalten. Sie war zu Ebba Sundin gelaufen und hatte ihr Vorhaltungen gemacht, eine schwere Krankheit bei ihr übersehen zu haben. Und die Sundin hatte Lunte gerochen und versucht, mehr von Erika Frans zu erfahren. Die hatte zwar seinen Namen genannt, aber wenigstens die Hedmann-Klinik nicht erwähnt. Leider wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Sundin alle Einzelheiten aus der naiven Person herausgekitzelt hätte. Außerdem rief sie ihn an und machte ihm die Hölle heiß, drohte mit einer offiziellen Untersuchung des Vorgangs und einer Anzeige. Er war gezwungen gewesen, schnell zu handeln, um das Schlimmste zu verhindern. Dafür hatte er eine Grenze überschritten. Er hatte gehofft, damit alles wieder ins Lot gebracht zu haben, doch dem war nicht so. Jemand führte einen Vernichtungsfeldzug gegen ihn. Wenn er nicht bald herausfand, wer es war, dann war er endgültig verloren. Und derjenige hatte außerdem auch noch Bent in seiner Gewalt.