72.

„Haben Sie keine Angst, ich will Ihnen nichts tun.“ Den Klang dieser Stimme hatte Sina bereits einmal gehört. Sie schaute zu dem Mann auf, der im Türrahmen stand. Er war alt, bestimmt Mitte oder Ende siebzig. Sein Gesicht durchzogen tiefe Falten, doch er hielt sich sehr aufrecht und hatte volles schlohweißes Haar.

„Wer sind Sie?“, fragte sie. In ihrem Fiebertraum war er ihr als weißer Ritter erschienen, doch er musste einen Namen haben.

„Sie können mich einfach Tammo nennen“, sagte er. Er kam näher und zog sich einen Stuhl neben ihr Bett. „Ich will Ihnen helfen.“

„Warum soll ich Ihnen das glauben? Das hat Malena auch gesagt, aber in Wirklichkeit hält sie mich hier gefangen wie eine Geisel. Vorhin hat sie telefoniert. Waren Sie es, mit dem sie gesprochen hat?“

„Ja, sie hat mich angerufen.“

„Und was wollte Malena von Ihnen? Sie sind in Ihrem Auftrag hier, nehme ich an. Sollen Sie mich endgültig zum Schweigen bringen? Sie sind doch ihr Gehilfe, ich habe gehört, wie Sie schon einmal mit ihr geredet haben. Da ging es auch um mein Kind, um Bent. Sie wissen, wo er ist. Was haben Sie vor, mit mir und mit meinem Sohn? Was haben wir Ihnen getan?“ Sinas Stimme versagte, sie begann zu weinen und hasste sich gleichzeitig dafür. Sie wollte stark sein und kämpfen, für Bent.

Der Mann, der sich Tammo nannte, hob abwehrend beide Hände. „Bitte, beruhigen Sie sich und hören Sie mir zu. Sie haben niemandem etwas getan, es ist Ihr Mann, der Schuld auf sich geladen hat. Ihn wollten wir zu einem Geständnis zwingen, aber es war der falsche Weg, Sie und den Jungen damit reinzuziehen. Es tut mir leid.“

„Wo ist Bent? Wie geht es ihm?“

„Er ist an einem sicheren Ort. Ich kann Sie zu ihm bringen.“ Sina wollte aufspringen und sich sofort auf den Weg machen, doch etwas hielt sie zurück. Woher sollte sie wissen, ob sie dem Mann vertrauen durfte? Malena hatte mit ihm telefoniert, das hatte er selbst zugegeben. Er handelte in ihrem Auftrag, das konnte alles bedeuten. Sie brauchte mehr Informationen. „Was hat mein Mann getan?“, fragte sie. „Wofür wollen Sie ihn bestrafen?“

Tammo schaute sie aus Augen an, die eisgrau waren und Sina an Stahl erinnerten. Genauso hart waren sein Blick und seine Stimme jetzt. „Ihr Mann hat etwas höchst Verwerfliches getan. Er hat seine berufliche Stellung missbraucht, um Frauen schweren Schaden zuzufügen. Dabei hat er aus Habgier und Ruhmsucht gehandelt.“

Sina verstand nicht, was er damit andeuten wollte. Tammo erklärte es ihr, sprach von unerlaubten Totaloperationen, um mit den entnommenen Organen Handel zu treiben. Ihr schwirrte der Kopf, sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Redete der Mann wirr und war sie in der Gewalt von Irren, die irgendwelchen Verschwörungstheorien anhingen? Ihr klang das alles zu fantastisch.

„Wenn Sie das glauben, warum sind Sie nicht einfach zur Polizei gegangen und haben meinen Mann angezeigt?“, fragte sie.

„Weil wir es ihm nicht nachweisen konnten. Und weil wir an die Hintermänner kommen wollten.“

„Wer ist wir, Malena Berglund und Sie? Woher kennen Sie Malena überhaupt?“

Tammo seufzte und schaute zu Boden. „Malenas Großmutter war meine große Liebe“, sagte er leise. „Sie war ein wunderbarer Mensch, dem man schreckliches Leid zugefügt hatte. Zwangssterilisation, bestimmt haben Sie schon davon gehört. Zum Glück gewinnt das Thema in der Öffentlichkeit inzwischen an Aufmerksamkeit. Imke ist daran zerbrochen, sie hat sich umgebracht. Erst viel später habe ich herausgefunden, was sie zu diesem verzweifelten Schritt bewogen hatte.“

„Aber wenn sie Malenas Großmutter war, muss sie doch eigene Kinder gehabt haben“, sagte Sina.

Tammo nickte. „Sie hatte bereits vor dem Eingriff eine kleine Tochter zur Welt gebracht, die nicht bei ihr aufwachsen durfte, die Mutter von Malena. Imke hatte mir ihre Tochter verschwiegen, dabei wäre ich bereit gewesen, sie wie mein eigenes Kind aufzuziehen. Als ich sie endlich ausfindig machen konnte, war sie schon erwachsen. Ihre Tochter Malena wurde für mich zu der Enkelin, die ich nie haben durfte. Imke konnte ich damals nicht retten, für Malena will ich deshalb alles tun.“

„Auch ein Kind entführen? Was haben Sie mit meinem Sohn gemacht?“, fragte Sina. Sie hatte ihre Festigkeit wiedergefunden und spürte Wut in sich aufsteigen. So tragisch die Geschichte von Tammo und seiner großen Liebe auch war, sie war keine Rechtfertigung für seine Tat.

„Es war ein Fehler“, sagte Tammo leise, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Eine Kollegin von Malena war auf die Spur der schmutzigen Geschäfte Ihres Mannes gekommen. Sie weihte Malena ein und verfolgte den Plan, Lindell zu einem Geständnis zu bewegen. Malena war der Ansicht, ohne ein Druckmittel würde er seine Taten nie zugeben. Sie hat Bent entführt und ich habe ihn versteckt. Der Plan war, ihn sofort zurückzubringen, wenn Lindell sich der Polizei stellt und das Netzwerk hinter seinen Taten aufdeckt. Aber dann lief alles aus dem Ruder.“

Sina ersparte sich die erneute Frage nach dem Warum. Es lag eine verquere Logik darin, Udos Sohn zu entführen: Du nimmst anderen Frauen die Fähigkeit, Kinder zur Welt zu bringen, deshalb nehmen wir dir deinen Sohn weg. Du bekommst ihn erst zurück, wenn du dem Treiben ein Ende setzt und gestehst.

Ihre widerstreitenden Gefühle wollten Sina fast zerreißen. Sie verachtete Udo für das, was er getan hatte. Sein Ehrgeiz war krankhaft, das hatte sie immer gespürt, ohne es sich wirklich einzugestehen. Doch sie hätte nie geglaubt, dass er dafür so weit gehen würde. Er hatte mit der Gesundheit und dem Leben von Frauen gespielt, kaltherzig und zynisch. Aber ihre Wut richtete sich auch gegen Malena und Tammo. Sie wollten das Richtige bewirken und diese menschenverachtenden Mediziner stoppen, doch durften ihnen dabei alle Mittel recht sein?

„Wie konnten Sie meinen Sohn als bloßes Werkzeug zur Erreichung Ihrer Zwecke betrachten?“, fragte sie. „Gab es wirklich keinen anderen Weg? Hatten Sie überhaupt kein Mitleid mit einem kleinen Kind?“

„Doch“, sagte er leise. „Mit dem Kind und auch mit Ihnen. Es war niemals so geplant, wie es dann abgelaufen ist. Bent sollte ganz schnell wieder freigelassen werden. Wir zweifelten nicht daran, dass Lindell auf unsere Bedingungen eingehen würde. Aber dann war Ebba Sundin tot und nur er kann sie getötet haben. Er muss sie aufgesucht haben. Sie war in die Sache mit Bent nicht eingeweiht. Erst am kommenden Tag gelang es uns, Lindell ein Schriftstück mit unseren Forderungen zukommen zu lassen. Entgegen unseren Erwartungen reagierte er nicht darauf.“

Sina dachte an den Zettel, den Udo in seinem Arbeitszimmer im Aschenbecher verbrannt hatte. Es musste das Erpresserschreiben gewesen sein. Wie hatte er es ignorieren können? War ihm sein Sohn so unwichtig und seine Karriere derart wichtig? Ja, lautete die bittere Antwort auf diese Frage. Für seinen beruflichen Aufstieg war er bereit gewesen, seine Familie zu opfern.

Als Sina Tammo diesmal anschaute, las sie in seinen Augen nichts als Mitleid. „Sie haben mir die Nachrichten geschickt, nicht wahr?“, fragte sie. „Die E-Mail mit der Website und das Buch?“

Er nickte. „Sie sollten wissen, dass er lebt und dass es ihm gut geht.“

„Warum haben Sie ihn nicht einfach zurückgebracht?“

„Ich konnte nicht. Es stand zu viel auf dem Spiel und wir glaubten, nah am Ziel zu sein. Aber jetzt muss ich dem ein Ende machen. Ich werde Sie zu Ihrem Sohn bringen.“