77.

Die Frau, die in dem Haus lebte, hieß Jorunn und war über achtzig Jahre alt. Schnell wurde klar, dass sie keine Ahnung hatte, wer der Junge, den sie ab und zu beaufsichtigte, wirklich war. Sie hielt Bent für einen Großneffen von Tammo. Alva wies sich aus, stellte ihre Kollegen vor und beschloss, den größten Teil der Wahrheit vorerst für sich zu behalten. Jorunn sollte unvoreingenommen berichten, was sie über Tammo wusste. Zunächst einmal war sie reichlich verwirrt, wieso plötzlich die Polizei bei ihr auftauchte. Alva griff zu einer Notlüge.

„Tammo Jensen hatte einen Unfall, er ist nicht bei Bewusstsein“, sagte sie.

Jorunn schlug die Hände vor den Mund. „Das ist ja schlimm. Er wollte doch Bents Mutter am Bahnhof treffen, sie kommt heute von einer Reise zurück. Dann wollte er mit ihr gemeinsam Bent hier abholen.“

Alva und die anderen tauschten einen schnellen Blick. Tammo Jensen hatte nicht gelogen, er wollte Bent wieder mit seiner Mutter zusammenbringen.

„Ja, das hatte er vor, aber der Unfall kam dazwischen. Unglücklicherweise wusste die Mutter nun nicht, wo Bent ist. Wenn Tammo sie abholen wollte, hätte er Bent kaum allein in seinem Haus zurückgelassen.“

„Nein, natürlich nicht“, entgegnete Jorunn geradezu entrüstet. „Ich habe immer mal auf Bent aufgepasst, wenn er etwas vorhatte. Manchmal hat der Junge sogar bei mir übernachtet.“

„Aber das konnte die Mutter natürlich nicht wissen“, fuhr Alva fort. „Sie war in großer Sorge und hat die Polizei eingeschaltet, damit wir helfen, Bent schnell zu finden. Zum Glück hat das geklappt. Nun können wir ihn zu seiner Mutter bringen.“

Bent hockte während des Gesprächs in einer Ecke am Boden und fütterte den Hund mit Keksen. Alva stellte erleichtert fest, dass er nicht traumatisiert wirkte. Natürlich war sie keine Expertin auf dem Gebiet, Birger würde das besser beurteilen können. Ein wenig wunderte sie sich, wie völlig unbefangen Jorunn Tammo die Geschichte von seinem Großneffen abgenommen hatte. Sie schaute sich in dem altmodischen Wohnzimmer um.

„Haben Sie keinen Fernseher?“, fragte sie.

„Nein, den habe ich abgeschafft, als meine Augen immer schlechter wurden. Ich vermisse ihn nicht, da wird doch nur dummes Zeug gebracht.“ Das erklärte einiges. Bestimmt las sie aus dem gleichen Grunde keine Zeitungen. Alva erhob sich, denn jetzt wurde es Zeit, Bent zurückzubringen, draußen wurde es bereits dunkel.

„Was soll ich mit Veikko machen?“, fragte Jorunn. „Er braucht viel Auslauf und meine alten Beine wollen nicht mehr so recht. Einsperren will ich ihn auch nicht.“

„Wir nehmen ihn mit und kümmern uns um ihn“, versprach Birger. Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er bemerkte, wie Sven die Gesichtszüge entgleisten.

Jorunn bedankte sich und begleitete sie zur Tür. Alva kündigte Jorunn ihren erneuten Besuch für den kommenden Tag an. Dann würde sie ihr die Wahrheit über Tammo erzählen und sie von seinem Tod in Kenntnis setzen. Sie nahm Bent bei der Hand, der es bereitwillig geschehen ließ. Die Zutraulichkeit des Jungen gegenüber Fremden rührte und erschreckte Alva gleichermaßen. Sie würde mit seiner Mutter darüber reden müssen.

Auf dem Weg zum Wagen machte Sven seinem Ärger Luft. „Tolle Idee, den Köter mitzunehmen. Ich kann nicht fahren, wenn mir dieser Wolf in den Nacken atmet“, blaffte er Birger an. „Und ich setze mich auch nicht neben ihn.“

„Reg dich ab, ich nehme ihn in meinem Auto mit“, entgegnete Birger gelassen. „Das steht noch vor dem Haus von Jensen und bis dahin laufe ich zurück, die Bewegung tut mir gut und ihm sowieso.“ Er deutete auf Veikko.

„Wir müssen den Hund ins Tierheim bringen“, sagte Alva und Birger versprach, sich darum zu kümmern.

Sie war erleichtert, weil er ihr diese Sorge abnahm, der Hund tat ihr leid. Nachdem Birger mit Veikko hinter den Bäumen verschwunden war, stieg sie zu Sven und Caroline in den Wagen. Sie setzte sich nach vorn neben Sven, während Caroline mit dem Jungen hinten saß und den Arm um ihn legte.

„Lasst uns im Krankenhaus anrufen und mitteilen, dass wir mit dem Jungen unterwegs zu Sina Lindell sind“, schlug Alva vor. „Jede weitere Stunde der Ungewissheit ist eine Folter für sie.“ Caroline und Sven sahen das ebenso. Nachdem Alva den Anruf getätigt hatte, machten sie sich zügig auf den Rückweg. Der Verkehr hatte in den Abendstunden deutlich nachgelassen und sie erreichten das Krankenhaus in gut einer Stunde. Im Foyer standen mehrere Krankenschwestern beieinander und schienen auf ihre Ankunft zu warten. Die gute Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Zwei Schwestern begleiteten sie bis in die Etage, auf der Sina Lindell untergebracht war. Sie kam ihnen bereits auf dem Flur entgegen. Als sie Bent entdeckte, lief sie mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Der Junge, der auf der Fahrt müde gewirkt hatte, war augenblicklich hellwach. Mit einem lauten Freudenschrei stürzte er sich in die Arme seiner Mutter. Alva wurde bewusst, dass sie gerade einen der größten Glücksmomente ihrer Arbeit als Polizistin erlebte. Sie drehte sich zu Caroline um, die mit feuchten Augen auf die innige Szene schaute und deren Gesicht wie verklärt wirkte. Noch nie war sie Alva so schön erschienen.