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Toni erstarrte mit hochgezogenen Schultern. Sybille Steiner befand sich keinen Meter von ihr entfernt in der Tür: In der einen Hand die Türklinke, in der anderen das Handy, auf das sie starrte. Es würde reichen, wenn sie kurz davon hochsah. Toni hielt den Atem an. Zu den Aktenbergen konnte sie jetzt nicht. Unter ihr kratzte es. Der Kater schärfte seine Krallen an ihren Jeans. Steiner würde nicht ewig auf ihr Handy schauen, jeden Augenblick würde sie Toni bemerken. Und was sollte sie dann sagen?

Brehm kam immer noch hustend hinter Steiner aus dem Büro. Tonis und seine Augen trafen sich.

„Frau Steiner!“

Mit seiner krächzenden Stimme hatte er ihren Namen so laut gerufen, sogar Toni war zusammengezuckt.

Sybille Steiner wirbelte erschrocken zu ihm herum. Toni nutzte den Moment und schlich zu den Aktentürmen. Der Kater lief ihr hinterher, als wäre sie seine Beute.

„Ich melde mich heute Abend bei Ihnen“, sagte Brehm zu Sybille Steiner.

Ihrem „In Ordnung“ folgte das erlösende Klackern ihrer High Heels über den Steinboden und die Treppe hinunter.

Als die Schritte verklungen waren, passierte eine halbe Minute nichts. Toni blinzelte hinter dem Aktenturm hervor. Brehm stand da. Er schien sichergehen zu wollen, dass Sybille Steiner nicht zurückkam. Dann drehte er sich um und bedeutete Toni mit einer Kopfbewegung, ihm ins Büro zu folgen.

„Was haben Sie da draußen gemacht? Lambada getanzt?“, krächzte er und schloss verärgert die Tür hinter ihr.

„Wieso? Sind da draußen die Achtzigerjahre?“, gab sie zurück und war selbst überrascht, wie schnippisch ihr das herausgerutscht war.

Sie und Brehm hatten einen Deal, auch wenn sie noch nicht wirklich wusste, was er von ihr wollte. Aber auch sie war auf seine Hilfe angewiesen, um Felix zu finden. Sofort bereute sie ihre Antwort.

„Entschuldigung.“

Brehm sah sie erstaunt an, schnaufte und murmelte: „Nein, mir tut es leid. Ich weiß, Sie können nichts dafür.“

Schwerfällig ließ er sich in seinen Bürostuhl fallen, schüttelte den Kopf – mehr zu sich selbst als zu ihr – und griff sich ans Herz. Sie begutachtete ihre blutigen Kratzer an den Händen, der Kater hatte sich ganz schön ausgetobt. Brehm hustete leicht. Wie zwei Versehrte, dachte Toni. Brehm war entsetzlich blass.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte sie.

Er schaute sie einen Moment zu lange an, sie konnte ihn förmlich denken sehen.

„Um ehrlich zu sein, wollte ich Sie noch vor ein paar Stunden anrufen und Ihnen sagen, dass ich diese Idee, Sie für mich arbeiten zu lassen, verworfen habe. Aber …“

„Aber?“

Er kratzte sich am Kopf. „Aber die Lage hat sich geändert. Jetzt gibt es nicht nur ein Tagebuch, sondern auch einen Mord.“

„Was ist das für ein Tagebuch?“

Brehm sah aus, als wäre ihm etwas eingefallen. Er nahm das orangefarbene Kuvert, das er vor sich am Schreibtisch liegen hatte, vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, als wäre es heiß, und schüttelte ein blaues Heft heraus. Mit spitzen Fingern hielt er es hoch.

„Können Sie mir suchen helfen, hier muss irgendwo ein Plastiksackerl rumliegen.“

Toni fand eines, und Brehm beförderte das Kuvert bedächtig hinein, wie sie es nur aus Krimiserien kannte.

„Ist das ein Beweisstück?“

„Das weiß ich noch nicht. Aber es ist die einzige DNA-Spur, die wir haben.“

„Wie bitte?“

„Diese Kuverts haben eine Gummierung, die muss feucht gemacht werden, um sie zuzukleben. Und mit etwas Glück befindet sich die DNA der Verfasserin darauf.“

„Sie meinen, wenn sie das Kuvert abgeleckt hat, um es zuzukleben, finden Sie so ihre DNA raus?“

„Ein Labor, genau.“

„Aber dann haben Sie sie doch.“

Er schüttelte den Kopf, Toni sah ihn ratlos an. Er reichte ihr das blaue Heft.

„Lesen Sie das erst mal.“

Sie schob sich den Thron vor den Tisch und nahm Platz.

Sie konnte es gar nicht glauben. Das sollte echt sein? Ihr Magen krampfte sich bei jeder Zeile mehr zusammen.

Das war ja schrecklich.

Erst als Brehm „Ja, das ist es“ sagte, merkte Toni, dass sie laut gesprochen hatte.

„Und was jetzt?“, fragte sie, als sie fertig war.

„Dieses Kuvert nützt mir erst etwas, wenn es Verdächtige gibt, die diesen Text verfasst haben könnten. Dann brauche ich etwas, zum Beispiel ein Haar, um es in einem Labor abgleichen zu lassen.“

Das klang wirklich wie aus einer Krimiserie.

Toni betrachtete wieder den Tagebucheintrag. Irgendwas daran war merkwürdig. Sie nahm ihr Handy heraus – nur mehr 22 % Akku. Sie hatte vergessen, es aufzuladen. Ihr fiel wieder die merkwürdige Nachricht von gestern ein. Sie hatte Lena darauf angesprochen, aber bisher noch keine Antwort erhalten. Es hätte ja auch nur ein makabrer Scherz gewesen sein können. Von irgendwem aus der Schauspielschule, der mitbekommen hatte, dass Toni sich verfolgt fühlte? Weil Lena vielleicht versehentlich was rausgerutscht war? Sie musste das mit ihr klären, bevor sie Brehm davon erzählte. Der Akkustand schrumpfte auf 21 %. Die vertraute Unruhe bei wenig Akku machte sich in Toni breit.

„Kann ich das abfotografieren?“, fragte sie gedankenverloren.

Brehm sah sie so erschrocken an, als hätte sie angekündigt, das Foto an die Presse weiterzugeben.

„Natürlich nicht.“

„Nur für mich. Es ist …“

„Was?“

„Ich weiß auch nicht. Ich finde das irritierend. Ich meine, Sybille Steiners Mann ist Regisseur. Gestern Abend hab ich mal ein bisschen über ihn im Netz recherchiert. Er arbeitet unglaublich viel. Meine Freundin Lena hat mir erzählt, wie toll er mit den Schauspielern umgeht. Wir sind im gleichen Jahrgang und … egal, ich meine, das hier … es kann auch etwas mit einer Rolle zu tun haben.“

„Einer Rolle?“

„Ja, vielleicht ist das nur von einer Schauspielerin und hat was mit ihrer Arbeit zu tun. Wenn wir im Unterricht eine Figur erarbeiten, dann lernen wir nicht nur den Text auswendig. Wir setzen uns mit ihr auseinander, denken uns einen Lebenslauf aus, schreiben Subtexte …“ An Brehms Blick erkannte sie, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. „Ich meine ja nur, wer sagt denn, dass nicht eine Schauspielerin diesen Text für ihre Rolle geschrieben und ihm dann geschickt hat? Und Sybille Steiner ist einfach nur eifersüchtig? Ohne Grund?“

Brehm sah sie mit einer Mischung aus Mitleid und Rührung an.

„Sie glauben, eine Schauspielerin wirft dieses anonyme Schreiben in den Briefkasten eines Regisseurs, und es ist für eine Rolle?“

Wie er es sagte, klang es wirklich nicht mehr so ganz plausibel. Sie hob die Achseln.

„Könnte doch sein. Sie haben selbst gefragt, wie sie und ihr Mann sich kennengelernt haben.“

„Ja, aber nicht, um etwas über ihre Ehe zu erfahren.“

„Sondern?“

Er hob die Augenbrauen. „Um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob sie lügt – oder zumindest daran denkt.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich wusste bereits, wie sie und ihr Mann sich kennengelernt haben.“

„Ja, und?“

„Durch Fragen, deren Antworten ich kenne, sehe ich, wie jemand sich verhält, wenn er die Wahrheit sagt. Und daraus kann ich bei jeder weiteren Antwort meine Schlüsse ziehen.“

„Sie meinen, Sie erkennen, ob jemand lügt?“

„Zumindest sehe ich, ob jemand über eine Lüge nachdenkt.“

„Und hat sie gelogen?“

„Bevor wir hier weitermachen, Frau Lorenz“, überging er ihre Frage, „müssen wir einiges festlegen. Sie sind –“

„Ich bin kein Lockvogel“, schoss sie hervor.

„Kein Lockvogel?“

Toni erklärte ihm Lenas Vermutung, allerdings ohne zu sagen, woher sie diese Idee hatte. Brehms Augen wurden groß, seine Mundwinkel zuckten.

„Gut, ich habe verstanden. Kein Lockvogel.“

Er fing an zu lachen – es ging nahtlos in ein Husten über. Die Erkenntnis, dass er Toni also nicht dafür einsetzen wollte, erleichterte sie mehr, als sie zeigte.

„Und was soll ich sonst tun?“, fragte sie.

„Zuallererst brauche ich Ihre absolute Diskretion. Können wir uns darauf einigen, dass Sie keinem Menschen – nicht Ihrer Familie, auch nicht einmal Ihren Eltern, einfach absolut niemandem – auch nur ein Sterbenswort davon erzählen, was Sie hier tun? Das meine ich sehr ernst.“

Sie nickte halbherzig. Nicht, weil sie ihm nicht zustimmte, sondern weil es weder Eltern noch Familie – abgesehen von ihrer Oma natürlich – gab, denen sie etwas davon erzählen konnte.

„Sollten Sie sich nicht daran halten, verliere ich meine Zulassung und kann auch nicht nach Herrn Meier suchen“, sagte Brehm streng.

Toni warf einen Blick auf die vielen Briefe am Schreibtisch. Er trug vielleicht ein bisschen dick auf, wenn man bedachte, mit welchen Schwierigkeiten er bereits zu kämpfen hatte.

„In Ordnung.“ Sie verschloss ihren Mund mit einem imaginären Schlüssel und warf ihn über die Schulter. „Was noch?“

Er nickte. „Wir werden ganz korrekt abrechnen. Eine Arbeitsstunde von Ihnen gegen eine Arbeitsstunde von mir. Einverstanden?“

„Einverstanden.“

„Gut. Also, wir wissen nicht, ob dieser Tagebucheintrag echt ist oder nicht. Aber die Leiche des falschen Kellners ist es definitiv. Zuallererst brauche ich Aufnahmen vom Haus der Steiners.“

„Sieht man das nicht im Internet?“

„Ich kann mich nicht auf veraltete Fotos verlassen. Normalerweise würde ich selbst –“

„Schon gut, ich mache es. Wonach halte ich Ausschau?“

Die Frage schien ihm zu gefallen, er schürzte die Lippen.

„Ich muss wissen, welche Möglichkeiten es gibt, auf das Grundstück zu kommen. Von der Straße, vielleicht von den Nebengebäuden aus. Dann brauche ich noch Aufnahmen von der gesamten Umgebung, vom Eingang und von den Parkmöglichkeiten.“

„In Ordnung. Und bis wann brauchen Sie das?“

„Jetzt sofort.“

Brehm griff in eine Schreibtischschublade und reichte Toni einen edlen schwarzen Kugelschreiber mit goldener Klemme.

„Da ist eine Kamera, direkt über der Klemme. Wenn Sie den Stift drehen, filmt sie.“ Er reichte Toni einen Notizzettel. „Die Adresse der Steiners. Und ich rufe mal bei der Cateringfirma an und versuche, ein paar Informationen zu erhalten. Wenn Sie die Aufnahmen haben, kommen Sie wieder.“

Sie stand auf.

„Ach ja, und es wäre gut, wenn Sie das so unauffällig wie möglich machen“, sagte Brehm. „Weder Frau Steiner noch sonst jemand darf etwas davon mitbekommen.“

„Warum darf Frau Steiner nichts mitbekommen?“

„Bitte?“

„Na, ich meine doch nur, sie hat Sie engagiert. Es ist doch gut, wenn sie sieht, dass Sie Ihre Arbeit machen.“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf, wurde plötzlich sehr ernst. „Das ist es nicht.“

Toni beschlich das Gefühl, als würde Brehm etwas vor ihr verheimlichen. Glaubte er Sybille Steiner nicht? Aber das würde doch gar keinen Sinn ergeben. Wieso hätte sie ihn sonst engagieren sollen? Andererseits hatte er mit der Frage nach dem Kennenlernen herausfinden wollen, ob sie log.

„Es ist ein großer Vorteil, dass Frau Steiner Sie nicht kennt.“ Toni wollte etwas sagen, aber Brehm ließ sie nicht zu Wort kommen. „Wissen Sie, in welche Bedrängnis diese Frau käme, wenn sie zum Beispiel in der Nähe ihres Mannes ist, den Sie gerade beobachten? Man kann nie wissen, wie sich ein Auftraggeber in so einer Situation verhält. Im schlimmsten Fall kann es passieren, dass die gesamte Aktion durch einen Fehler nicht nur aufgedeckt wird, sondern …“ Er schnappte nach Luft, tippte auf die Briefe auf seinem Schreibtisch.

Hatte ein solcher Vorfall zu einer Anklage gegen ihn geführt?

„Diskretion ist das oberste Gebot. Sonst kann der gesamte Einsatz gefährdet werden.“

„Aber sie kennt mich doch“, sagte Toni endlich.

„Wie bitte?“

„Frau Steiner. Sie kennt mich. Ich habe sie gestern hier gesehen, als sie aus Ihrem Büro gestürmt ist. Wir haben gemeinsam die Rettung gerufen.“

Brehm verzog den Mund. Er dachte einen Moment nach, erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl und trat zum Rokoko-Schrank. Der Inhalt glich dem Sortiment eines Kostümverleihs: Perücken in allen Haarfarben, Brillen, Hüte, Handschuhe, diverse Kleidungsstücke, sogar eine Uniform. Der karge Fundus in der Schauspielschule war ein Witz gegen diese großzügige Auswahl.

„Suchen Sie sich was aus.“

Toni entschied sich für eine blonde Pagenkopfperücke und eine Brille mit schwarzer Fassung. Sie war nicht wiederzuerkennen.

„Sehr gut“, lobte Brehm. „Also, dann.“ Er gab ihr einen Hundert-Euro-Schein. „Sie nehmen ein Taxi und steigen ein paar hundert Meter vor der Villa der Steiners aus. Je weiter weg Sie sich befinden, desto geringer ist das Risiko, entdeckt zu werden. Hier ein paar Regeln: Oberste Priorität ist, die Zielperson nicht zu sensibilisieren. Das bedeutet, Sie brechen Ihr Vorhaben ab, bevor auch nur die Möglichkeit besteht, dass jemand Verdacht schöpfen könnte. Wenn Sie etwas für mich erledigen, dann trinken Sie so wenig wie möglich.“

„Natürlich trinke ich keinen Alkohol.“

Was dachte er denn von ihr?

„Davon rede ich nicht. Ich meine generell: Trinken Sie nichts, wenn es nicht unbedingt sein muss. Alles, was oben reingeht, muss unten auch irgendwann raus. Ich gebe Ihnen noch meine private Handynummer.“

Sie holte ihr Telefon heraus. Drei verpasste Anrufe aus dem Sekretariat des Konservatoriums. Und Lena hatte endlich geantwortet: OMG – natürlich hab ich niemandem davon erzählt! Shit! Wer schreibt so was??? Und bad news, du musst am Nachmittag in die Schule kommen. Die Schmitz glaubt nicht, dass du krank bist. Will eine Konferenz wegen dir einberufen.

Toni war so vertieft in die Nachricht, sie merkte gar nicht, dass Brehm hinter sie getreten war. Nun, da sie wusste, dass es niemand aus der Schule gewesen sein konnte, zeigte sie ihm die anonyme SMS.

„Haben Sie eine Vermutung, von wem das sein kann? Oder haben Sie so etwas schon einmal bekommen?“, fragte er sie.

„Nein. Ich würde ja glauben, das ist Spam oder ein dummer Scherz, aber … gestern Abend hatte ich den Eindruck, ich werde beobachtet … also, eigentlich geht das schon seit einiger Zeit so.“

„Was?“

„Als würde mir jemand folgen. Ich kann aber nie wen entdecken. Nur gestern Abend … das war, als würde jemand vor meinem Haus stehen und hochsehen.“

„Konnten Sie die Person erkennen?“

„Nein, es ging alles so schnell. Bis zu der SMS war ich mir echt nicht sicher, ob ich mir das nicht einbilde.“

Brehm ging zurück zu seinem Schreibtisch, sah auf eine Notiz.

„Sagt Ihnen der Name Milos Kubra etwas?“

„Noch nie gehört. Wer soll das sein?“

„Jemand, mit dem Herr Meier vor einem halben Jahr einen Streit hatte, der eskaliert ist. Es gab eine Schlägerei, die Polizei wurde gerufen.“

Toni wollte ihm schon sagen, dass da nichts gewesen sein konnte, dass sie es doch wüsste, wenn … – und da fiel es ihr ein.

Sie sah Felix vor sich, wie er abends mit einem aufgeplatzten, verkrusteten Jochbein und blutigen Fingerknöcheln auf der rechten Hand nach Hause gekommen war. Er hatte ihr erzählt, dass er einem Radfahrer am Gehsteig ausgewichen und über die Gehsteigkante gestürzt war. Sie hatte ihn verarztet, während er ihr die rührende Geschichte davon erzählte, wie der Radfahrer selbst so erschrocken gewesen war und vor Dankbarkeit fast geweint hatte, weil Felix ihn nicht anzeigen wollte.

Bis jetzt war es ihr nicht aufgefallen. Aber Felix hatte sonst keine einzige Schramme gehabt.