Die Wohngegend der Steiners im achtzehnten Bezirk als schön zu beschreiben, wäre eine schamlose Untertreibung gewesen. Auf der Anhöhe lagen lauter hinreißende Villen mit Vorgärten voller perfekt gestutzter Büsche und Hecken. Am oberen Ende der Straße befand sich die Villa der Steiners – wie die Kirsche auf einer Schlagoberstorte. Das Gebäude mit den Stuckverzierungen und der säulenflankierten Terrasse war zugleich das Schlagobers selbst. Im strahlenden Sonnenschein stand es so weiß und prachtvoll inmitten des englischen Rasens, als hätte es ein Riese auf die Spitze des Hügels gesetzt. Schon alleine der Teil der Terrasse, der von der Straße aus zu sehen war, musste mehr Quadratmeter haben als Tonis gesamte Wohnung.
Zahlreiche hohe Fenster waren auf das Erdgeschoss und das Stockwerk darüber aufgeteilt. Im Dachgeschoss gab es kleinere Fenster, dafür prangte dort ein runder Balkon samt weißer Balustrade. Und erst die üppigen Außenlampen – in Bronze gefasste riesige Glastropfen. Toni staunte, solche Häuser kannte sie nur aus Zeitschriften.
Der hohe weiße Gitterzaun, der das Grundstück zur Straßenseite hin begrenzte, wirkte dagegen fast schon lächerlich gewöhnlich. Aber immerhin bot er einen freien Blick auf diese Pracht. Wie viele Quadratmeter das gesamte Haus wohl hatte? Toni war schlecht im Schätzen, aber wahrscheinlich mindestens 800. Oder 1000? 1500?
Konnte man als österreichischer Fernsehregisseur so reich werden? Aber hatte Lena nicht erzählt, dass er auch für das russische Fernsehen drehte? Vielleicht stammte er aus einer reichen Familie? Sie musste das recherchieren.
Brehm hatte gesagt, sie solle ein paar Meter vor dem Haus aussteigen, aber sie war so vom Anblick der Villa gefangen, dass sie nicht rechtzeitig reagiert hatte. Und dann war hier auch noch eine Sackgasse. Als sie den Fahrer bat anzuhalten, bremste der so abrupt, dass die Reifen quietschten. Erst nachdem sie gezahlt hatte und ausgestiegen war, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, eine Rechnung zu verlangen.
Im Auto war es dank der Klimaanlage angenehm kühl gewesen, ganz anders hier draußen. Sie fing an, unter der Perücke zu schwitzen. Toni sah sich um – weit und breit kein Mensch zu sehen. Es wäre klüger gewesen, das Taxi warten zu lassen. Je eher sie wieder in der Detektei war, desto besser.
Sie musste am Nachmittag unbedingt ins Konservatorium, um die Schmitz zu besänftigen. Bei Lena hatte sie nur die Mobilbox erreicht. Die Onlinesuche am Handy nach Milos Kubra hatte nichts Brauchbares ergeben.
Hatte Felix den Namen irgendwann mal erwähnt?
Nein, eins nach dem anderen. Sie musste zuerst das hier erledigen.
Toni wischte sich den Schweiß von der Oberlippe und nahm den Kugelschreiber mit der eingebauten Kamera aus der Tasche. Auch wenn gerade niemand auf der Straße war, damit hier in der Gegend herumzulaufen und zu filmen, wäre nicht besonders subtil. In ihrer Tasche fand sie ein paar Supermarktrechnungen, die sie mit der Rückseite nach oben aufeinanderlegte. Ein sehr behelfsmäßiger Notizblock. Zumindest sah es von weiter weg so aus, als würde sie etwas aufschreiben. Sie schritt die Straße vor der Villa ab und filmte. Zwischendurch kritzelte sie immer wieder ein paar zusammenhanglose Worte. Nur für den Fall, dass jemand sie beobachtete.
Auf ihre Alarmanlage mussten die Steiners sich wirklich verlassen können. Toni stellte erstaunt fest, dass sonst jeder, der ein bisschen klettern konnte, es über diesen Zaun schaffen würde.
Rechts und links der Villa führten zwei breite strahlend weiße Kieswege hinter das Gebäude. Dicke Büsche, zwischen denen ein Absperrband im Wind flatterte, verstellten den Blick in den hinteren Teil des Gartens. Dort musste der Swimmingpool sein. Toni stellte sich auf die Zehenspitzen, tat dabei, als würde sie sich strecken, und hielt den Kugelschreiber so hoch sie konnte.
„Hallo?“, fragte eine helle Stimme hinter ihr.
Toni zuckte erschrocken zusammen. War das Sybille Steiner? So ein Mist. Sie drehte sich um, noch immer mit in die Höhe gestreckter Hand.
Gott sei Dank, sie hatte sich geirrt. Das war nicht Sybille Steiner. Vor ihr stand ein schlaksiges Mädchen in den frühen Teenagerjahren. Die Pubertät war ihr ins Gesicht geschrieben. Die Stirnfransen waren so lang, dass sie den Kopf schief halten musste, um durch diesen Vorhang aus Haaren etwas zu erkennen. Sie hatte Augenringe, ihre Armyjacke war um zwei Nummern zu groß und an etlichen Stellen eingerissen. Unter ihrem Arm klemmte ein Skateboard.
„Hallo“, sagte Toni.
Das Mädchen sah sie ausdruckslos an. War das die Tochter der Steiners? Nein, dazu war sie – um es nett auszudrücken – zu verlottert. Bei Sybille Steiners perfekter Inszenierung war das ausgeschlossen. Das Mädchen verengte die Augen zu Schlitzen, als ihr Blick auf Tonis Kugelschreiber und die Notizen fiel.
„Sind Sie von der Presse?“
Fast hätte Toni genickt, da fiel ihr im letzten Moment ein, dass Sybille Steiner Brehm ja engagiert hatte, um einen Vorsprung vor der Presse zu haben.
„Nein. Ich bin …“
Sie stockte. Was? Sie sah in die misstrauischen Augen des Mädchens, und ihr fiel nichts ein. Panisch versuchte sie, sich zu erinnern, was sie im Improvisations-Unterricht gelernt hatte. Sie war Schauspielstudentin. Jetzt zu reagieren musste doch ihre leichteste Übung sein. Vor sich hatte sie noch dazu ein Kind. Aber da war nichts, keine Erklärung, gar nichts – in ihrem Hirn herrschte schwarze Leere.
„Ich … also“, versuchte sie es weiter.
Nichts. Sie bemühte sich um ein Lächeln, das Mädchen wandte den Blick sofort ab und sah zum Hauseingang.
„Wohnen Sie hier?“
Ihre Frage klang verbittert. Vielleicht hatte sie etwas mit dem Toten zu tun? War sie wie Toni hier, um sich das Haus anzusehen? Endlich löste sich der Knoten in Tonis Hirn.
„Ich bin auf der Suche nach jemandem“, sagte sie. „Und du?“
Das Mädchen nickte abschätzig, ihre Nasenflügel blähten sich ein wenig.
„Ich auch.“
Toni hätte gerne gefragt, nach wem, aber dafür musste sie eine passende Erklärung parat haben.
„Hey, cooles Skateboard“, sagte sie stattdessen. „Bist du gut?“
Das Mädchen nickte.
„Ich hätte immer gerne eines gehabt, aber meine Oma hat es mir nicht erlaubt. Sie hatte Angst, dass ich mir alle Knochen breche.“ Tonis Stimme klang in ihren eigenen Ohren falsch und bemüht. Aber wenn dieses Mädchen etwas über den Fall wusste, dann hätte Brehm mehr Zeit für seine Suche nach Felix. „Vielleicht besorg ich mir ja doch noch irgendwann eines. Ist es schwer? Zu lernen, meine ich?“
Das Mädchen kniff die Augenbrauen zusammen, wieder ein prüfender Blick. Anscheinend bestand ihn Toni jetzt, denn sie fragte: „Fahren Sie Snowboard?“
„Nein, ist es genauso?“
„Nicht wirklich. Aber wenn man Snowboard fährt, ist es leichter.“
„Verstehe. Cool.“
Sie nickte dem Mädchen lächelnd zu und entlockte ihm tatsächlich kurz einen erhobenen Mundwinkel. Da klingelte das Handy des Mädchens. Sie zog es aus der Hosentasche und wischte den Anruf weg wie einen widerlichen Schmutzfleck. Nachdem sie ihr Handy wieder verstaut hatte, streckte sie Toni das Skateboard entgegen.
„Wollen Sie es probieren?“
Irgendwas an diesem Mädchen fand sie rührend, aber sie konnte gar nicht sagen, was es war. Vielleicht ihre Unbeholfenheit? Dass sie sich hinter dieser scheinbar coolen Fassade versteckte?
„Danke für das Angebot. Aber lieber nicht auf dieser steilen Straße. Sonst lande ich noch in einer Hausmauer. Hey, kann ich dich mal was fragen?“
„Was denn?“
„Ich hab gehört, hier war vor ein paar Tagen eine Party und …“
Das Mädchen zuckte zusammen und trat reflexartig einen Schritt zurück. Sie wusste definitiv etwas.
„Wieso … Sie sind hier, wegen der Party?“
„ZOE“, kreischte eine Frauenstimme von der Villa herüber. „ZOE, KOMM SOFORT HIERHER!“
Zoe. Das war der Name von Sybille Steiners Tochter, sie hatte ihn im Interview erwähnt, das sie sich gestern mit Lena angeschaut hatte. Aus ihren Augenwinkeln sah Toni eine Silhouette im Garten der Steiners. Das Mädchen hatte sie angelogen.
Sofort steckte Toni den Kugelschreiber ein. Sie brauchte jetzt ein Taxi und … nein, sie sollte ruhig bleiben. Mit Brille und Perücke konnte Sybille Steiner sie auf diese Entfernung nicht erkennen. Sie durfte nur nicht näherkommen.
„Sie sind wegen meines Vaters hier, nicht wahr?“
Zoes Stimme war in die Höhe gerutscht.
„Bitte?“
„Was wollen Sie von ihm?“
Dem Mädchen schossen Tränen in die Augen, ihr Brustkorb hob und senkte sich rasant.
„Ich … nichts … ich glaub, du solltest besser reingehen“, sagte sie irritiert.
Was war los mit dem Mädchen?
„ZOOOOOEEEE!“, hallte es erneut zu ihnen. Sybille Steiner bewegte sich in ihre Richtung.
Verdammt, Toni hatte nach nicht mal zehn Minuten gegen so ziemlich jede Anweisung von Brehm verstoßen. Und jetzt musste sie sich aus dem Staub machen.
„Was wollen Sie von ihm?“
Das Mädchen weinte. Toni wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie sah sich unsicher um, als würde da irgendwo die Antwort warten, auf die es ankam.
„Ich … ich … na ja, dein Vater ist ja Regisseur“, war alles, was ihr einfiel.
Schlagartig verwandelte sich die Verzweiflung im Gesicht des Mädchens in Wut.
„Geht es wieder um so ein scheiß Demoband?“
„Ich … nein. Es tut mir leid, ich muss jetzt gehen. Mach’s gut.“
Gerade als Toni sich langsam umdrehte, so als wäre sie nur eine Spaziergängerin, sah sie den Polizeiwagen. Er steuerte direkt auf sie zu.