Seit Toni Lorenz sein Büro verlassen hatte, hing Edgar am Telefon und durchforstete Google. Er wusste mittlerweile, wie diese Nebelleiste, die den falschen Kellner am Kopf getroffen hatte, aussah. Sie war aus Metall, hatte eine Länge von zehn Zentimetern und war eine von neun weiteren, alle mit einem sehr einfachen Klicksystem an einem Hochdruckschlauch befestigt. Und anscheinend relativ leicht mit ein paar Handgriffen aus der Verankerung zu lösen. Eine Leiste wog um die drei Kilo – sicher sehr schmerzhaft, aber nicht unbedingt tödlich. Selbst wenn man aus zweieinhalb, vielleicht drei Metern getroffen wurde.
Es sei denn, jemand hatte präzise gezielt und damit gerechnet, dass der Mann ohnmächtig und in den Pool stürzen würde. Davon ging Edgar nach dem, was Fernanda ihm berichtet hatte, aus.
Anschließend widmete er sich der schier unlösbaren Aufgabe, eine zuständige Person für die Fernsehaufnahmen zu finden, die bei der Party der Steiners gemacht worden waren. Nach sechs Anläufen war er endlich bei der zuständigen Redakteurin gelandet.
Er gab vor, als Detektiv für die Versicherung zu arbeiten, die den „eindeutigen Fall“ der „falsch montierten Sprühnebelanlage zur Luftkühlung“ bearbeitete. Die beste Lüge war noch immer die mit einem Fundament aus Wahrheit. Die Redakteurin sagte barsch, sie brauche ein offizielles Anschreiben, doch Edgars folgende Fachsimpelei und das Szenario, dass noch weitere Menschen in Gefahr vor diesen Todesfallen sein könnten, schienen sie zu überzeugen: Sie versprach, ihm das gesamte Bildmaterial zukommen zu lassen. Für solche Fälle hatte er diverse E-Mail-Konten unter falschem Namen eingerichtet.
Das Catering-Service war ein härterer Brocken: Telefonisch und per Mail erreichte er niemanden. Erst auf Instagram wurde er fündig. Neben Fotos von diversen Buffetvariationen stieß er auf das Bild eines Mannes, der neben einem hellfarbenen Mops mit einem charakteristischen rosa Fleck auf der schwarzen Schnauze in die Kamera grinste. Mit viel Fantasie hatte der rosa Fleck die Form einer Maus. Und der Text darunter besagte, dass es sich bei dem Menschen, der hinter dem Account steckte, um den Firmenbesitzer handelte. Dasselbe Bild wurde als Profilbild in einem Forum der Wiener-Mops-Liebhaber verwendet. Unter falschem Namen meldete Brehm sich dort an und schrieb dem Mann unter einem Vorwand eine persönliche Nachricht.
Im Rahmen der Recherche zu Alexander Steiner durchforstete er Bildergalerien, verglich die Besetzungslisten seiner Filme und Serien mit den Namen auf der Partyliste. Erst als sein Magen bedrohlich zu knurren begann, sah er auf die Uhr. Es war Mittagszeit. Wo war Toni Lorenz?
Selbst wenn sie sich Zeit gelassen hatte, sollte sie schon längst zurück sein. Gemeldet hatte sie sich auch nicht. Verdammt, eigentlich hatte er sie für gewissenhaft gehalten. Oder filmte sie gerade deshalb übertrieben genau jeden Winkel ab? Toni ging nicht an ihr Handy, also hinterließ er eine Nachricht. Wenn sie zurück war, würde er sie bitten, eine dieser Ortungsapps zu installieren, die besorgte Eltern gerne ihren Sprösslingen aufzwangen. Eigentlich war er gegen solche Maßnahmen, aber sie hatten nur drei Tage Zeit … bei dem Gedanken rumpelte sein Herz. Wenigstens konnte er dank Sybille Steiners Anzahlung endlich die Autowerkstatt bezahlen. Morgen Früh stand der Wagen zur Abholung bereit.
Edgar scrollte weiter durch Steiners Besetzungslisten. Unglaublich, wie viele Menschen bei der Produktion von Filmen und Serien notwendig waren. Glücklicherweise musste er sich nur auf die Schauspielerinnen konzentrieren. Zwar kannte er keinen einzigen der Namen, aber zumindest manche Frauen auf den Fotos kamen ihm bekannt vor.
Vier Schauspielerinnen auf Sybille Steiners Gästeliste hatten in den letzten beiden Jahren mit dem Regisseur zum ersten Mal gedreht. Er kreiste ihre Namen ein und lehnte sich in den Stuhl zurück. Auf einen Hinweis, wonach eine dieser vier Frauen einmal in einem Hotel gearbeitet hätte, wie es in dem Tagebucheintrag stand, stieß er bei seiner Suche nicht. Was nichts bedeuten musste. Es konnte eine Beschäftigung ohne Anmeldung gewesen sein. Oder eine, die schlicht und einfach verschwiegen wurde. Das alles waren mehr als vage Ansätze. Ob die Verfasserin jemals von Steiner besetzt worden war, war dem Tagebuch ebenfalls nicht zu entnehmen.
Edgars Wirbelsäule krachte wie eine frische Semmel, als er aufstand und sich durchstreckte. Bald war es Zeit für seine Medikamente, dazu brauchte er etwas zu essen. Er bestellte etwas beim Lieferservice des China-Restaurants von gestern. Kaum hatte er aufgelegt, fiel ihm ein, dass Toni Lorenz nach ihrer Rückkehr sicherlich hungrig sein würde. Er musste mit ihr ein ernstes Gespräch führen. Bei Tonis Tempo würde nichts aus den drei Tagen. Trotz seines Ärgers rief er erneut beim Lieferservice an und bestellte zu seinem Gericht auch noch diesen Tofu-Radiergummi für sie. Während er wartete, legte er sich auf die Chaiselongue, um nachzudenken.
Zwei Möglichkeiten lagen nahe: Alexander Steiner hat das schauspielerische Talent der Verfasserin verschmäht. Nun will sie ihn erpressen und hat ihm das Tagebuch aus diesem Grund geschickt. Oder aus der Verfasserin war doch eine seiner Schauspielerinnen geworden, und jemand anderer hatte das Tagebuch ohne ihr Wissen an Steiner geschickt. Ein Erpressungsversuch aus Rache vielleicht?
Da Sybille Steiner ihrem Mann nichts davon erzählt hatte, konnte es genauso gut sein, dass der Regisseur bereits mit dem Absender in Kontakt stand. Sie hatte es selbst gesagt: Wenn gerade jetzt zu #MeToo-Zeiten so ein Schreiben an die Öffentlichkeit gelangen würde, wäre Steiners Karriere erst mal auf Eis gelegt. Sollten die Vorwürfe sich als wahr herausstellen, dann wäre sie sogar Geschichte. Beide Varianten waren möglich. Und ungeachtet dessen, ob der Mord des falschen Kellners etwas damit zu tun hatte – wovon Edgar ausging, er glaubte nicht an derartige Zufälle –, sie besaßen einen gemeinsamen Nenner: Alexander Steiners Übergriff und Ehebruch.
Edgar nahm wieder am Schreibtisch Platz und setzte die Onlinesuche fort. Der Tagebucheintrag war vor vier Jahren geschrieben worden. Die Affäre musste sich also davor zugetragen haben. In der Besetzungsliste einer Landarzt-Serie stolperte er über einen Namen, den er erst gestern von Toni Lorenz gehört hatte: Schmitz. Loretta Schmitz – so hieß doch ihre Schauspiellehrerin, Kurts ehemalige Klientin?
Auf der Gästeliste der Party stand dieser Name allerdings nicht. Bei der Suche im Netz stieß er unter dem Namen Loretta Schmitz auf eine hübsche blonde junge Frau mit Kurzhaarschnitt und großen grauen Augen. Nein, das konnte nicht stimmen. Sie war viel zu jung, der Fall Schmitz hatte sich bereits vor sieben, acht Jahren zugetragen.
Edgar suchte weiter – und wurde fündig: Loretta Schmitz war die Nichte von Beate Schmitz, die wiederum war die Schulleiterin. Beate, nicht Loretta! Brehms weitere Recherche ergab, dass auch Beate Schmitz vor acht Jahren mit Alexander Steiner gedreht hatte, sogar zwei Filme und drei Serienepisoden. Für das Tagebuch kam sie nicht infrage, aber als Kontaktperson konnte sie hilfreich sein, um etwas zu Steiners Umgang mit den Schauspielerinnen zu erfahren. Und wie weit der Regisseur mit seiner Zuneigung gehen würde – verharmlosend ausgedrückt.
Edgars Groll gegen Toni Lorenz wuchs, als der Lieferservice eintraf. Und es von ihr noch immer kein Lebenszeichen gab. Was machte sie? War sie in die Villa eingebrochen?
Als hätte sie seinen Ärger gespürt, ging gerade jetzt ein Anruf von ihr ein.
„Endlich“, sagte Brehm erleichtert, „Sie sollen keinen Hollywoodfilm aus den Aufnahmen machen, ich wollte nur –“
„Herr Brehm“, fiel sie ihm ins Wort. An ihrer Stimme merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist los?“
„Es tut mir leid. Ich wollte das nicht, wirklich. Aber … können Sie mich bitte vom Hauptkommissariat abholen?“