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„So, jetzt erklär mir mal: Was hatte die Kleine dort zu suchen?“, fragte Fernanda.

Edgar hielt sein Handy so verkrampft, dass seine Hand zitterte. Unter anderen Umständen hätte er Fernanda nie um Hilfe gebeten.

Er wollte antworten, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Sag mir nicht, dass du irgendwas mit dem Steiner-Fall zu tun hast. Sag mir ja nicht, dass du dich in die Ermittlungen einmischst.“

Edgar stand gegenüber dem Polizeigebäude am Schottenring und quetschte sich in den Eingang zu einer Apotheke. Fernanda sprach so laut, dass er trotz der vielen Autos auf der Straße jedes Wort verstand. Er sah hinauf zu den Fenstern im dritten Stock des Polizeigebäudes.

„Mit wem redest du da?“, hörte er eine männliche Stimme im Hintergrund.

„Das geht dich nichts an“, antwortete Fernanda barsch.

Edgars Hals wurde immer enger. Er wollte sich den obersten Knopf seines Hemdes öffnen, um besser Luft zu bekommen. Doch als er mit seiner Hand danach tastete, merkte er erst, dass es gar nicht zugeknöpft war. Der kalte Schweiß brach ihm aus.

„Es tut mir leid, Fernanda. So war das nicht. Ich verspreche dir, es wird nicht wieder vorkommen. Bitte sorg dafür, dass man sie gehen lässt. Ich bin …“, er rang nach Atem, „… sie wird nichts mehr für mich erledigen.“

Das meinte er wirklich so. Das Kapitel Toni Lorenz war hiermit beendet. Edgar war maßlos wütend. Nicht nur auf sie, auch auf sich. Er hätte wissen müssen, dass sie völlig ungeeignet war. Mehr noch, sie war ja sogar schlimmer als diese unfähigen Trottel, die bisher für ihn gearbeitet hatten. Die hatten wenigstens nur ihre Fotos im Netz geteilt und sich nicht gleich von der Polizei einsammeln lassen.

Nicht nur, dass Sybille Steiner wegen ihr die Polizei gerufen hatte. Der jungen Frau war auch nichts Besseres eingefallen, als den Polizeibeamten seinen Namen zu nennen. Das war der Supergau. Nein, er wollte gar nicht daran denken, was das für Konsequenzen nach sich ziehen würde. Schon einmal war er den internen Intrigen zum Opfer gefallen und hatte dadurch nicht nur seinen Job als Polizist verloren – die „richtigen“ Leute hatten auch dafür gesorgt, seinen Ruf weit über die Polizei hinaus zu zerstören.

Unter keinen Umständen würde er da reingehen und Toni Lorenz holen. Dieses Gebäude war voll mit ehemaligen Kollegen, die – im Gegensatz zu ihm damals – durch ihr Verhalten die Karriereleiter hochgeklettert waren. Fernanda sagte etwas, aber jetzt sprach sie so leise, dass Edgar sie nicht verstehen konnte. Er bat sie, es zu wiederholen, doch sie flüsterte weiterhin.

Eilig betrat Edgar die Apotheke und nickte der älteren Apothekerin zu, die gelangweilt hinter dem Tresen stand. Sie sah ihn erwartungsvoll an.

„Was hast du gesagt?“, fragte er atemlos.

„Frau Steiner hat wegen ihr die Polizei gerufen“, wisperte Fernanda, „sie war in der Nähe eines Tatorts und hat eine Zeugin befragt, verdammt.“

„Sie hat was? Wen?“

Das durfte nicht wahr sein! Konnte es eigentlich noch schlimmer kommen?

Was hatte er sich nur dabei gedacht? Der Druck in seinem Hals fühlte sich an wie eine immer enger werdende Schlinge, die ihm die Luft zum Atmen nahm.

„Wenn rauskommt, dass ich heute bei dir war und du diese Informationen von mir hast …“ Es klang, als würde Fernanda durch zusammengebissene Zähne sprechen. „Du hast etwas so Vertrauliches einfach benutzt, nach allem …“ Sie schnaubte. „Nach allem … ich verstehe es nicht.“ Sie klang gekränkt und verbittert.

Edgar schnappte nach Luft. Das war Fernanda. Die damals bei der Polizei zu ihm gestanden war – als Einzige der gesamten Belegschaft. Diskretion war die oberste Prämisse in seinem Job, aber was war mit seiner obersten Prämisse als Mensch? Er musste es ihr sagen.

„Die Ehefrau hat mich engagiert.“

„Welche Ehefrau?“

„Sy–“ Aus den Augenwinkeln nahm er die Apothekerin wahr, die ihn mit ihrem Blick fixierte. Er wandte sich zu einem Regal voller Multivitamintabletten. „Die Ehefrau aus deiner Durchsage“, korrigierte er sich. „Als du heute Morgen bei mir warst.“

„Sybille Steiner? Sie hat was?“

„Sie war bereits gestern früh bei mir. Es geht um ihren Mann und eine … Affäre.“

„Sybille Steiner hat dich wegen einer Affäre ihres Mannes angeheuert? Jetzt?“

„Ja. Sie war beunruhigt wegen der ganzen Presse im Haus. Von dem Mord wusste sie noch nichts.“

Für Edgar unbemerkt, war die Apothekerin an ihn herangetreten. Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an.

„Fernanda, bitte warte kurz.“ Er drückte das Handy an die Brust, schnappte sich eine der Verpackungen vom Regal und drückte sie der Apothekerin in die Hand. „Die nehme ich bitte.“

Jetzt schwitzte er sogar noch mehr. Die Frau betrachtete ihn argwöhnisch.

„Wo bist du?“, fragte Fernanda.

„In der Apotheke. Gegenüber vom Polizeigebäude.“

Einen Moment lang war es still, dann sagte sie: „Das ist das letzte Mal, dass ich dir helfe.“ An der Art, wie sie sprach, wusste er, dass sie das genau so meinte. „Warte in dem kleinen Café gleich ums Eck von der Apotheke.“

Vor Erleichterung wurde Edgar schwindlig. Der Knoten in seinem Hals schien sich ein wenig zu lockern. Er wollte sich bei Fernanda bedanken, aber sie hatte bereits aufgelegt. Ohne das Telefonat eben anzusprechen, bezahlte er und verließ die Apotheke.

Das Lokal, in dem er warten sollte, war eine dieser neuen Kaffeebars, mit zwei Stehtischen und einer Eckbank. Er bestellte bei einem Kellner mit Vollbart, der trotz der warmen Temperaturen Mütze und Flanellhemd trug. Edgar fühlte sich plötzlich entsetzlich alt. Als er eine Melange bestellte, erntete er ein mildes Lächeln.

Mit der Tasse stellte er sich an einen der Stehtische, von dem aus er die Straße im Auge behalten konnte. Der Kaffee war erstaunlich gut. Er holte sich eine zweite Tasse. Er hatte heute noch keinen Bissen zu sich genommen, aus dem Essen vom Lieferservice war nichts geworden. Seine Herztabletten lagen im Büro. Während Edgar am Kaffee nippte, überlegte er, wie er Sybille Steiner das alles erklären sollte. Er hoffte, dass es ihm gelingen würde, sie zu besänftigen. Wenn er ihr nur irgendeinen Fortschritt präsentieren könnte …

Er rief seine E-Mails ab. Weder die Fernsehredakteurin noch der Besitzer von Mausimops hatten sich gemeldet. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Toni Lorenz endlich aus dem Polizeigebäude trat und die Kreuzung überquerte. Sie trug weder Perücke noch Brille und war sichtlich zerknirscht. Immer wieder warf sie einen Blick über ihre Schulter. Folgte ihr jemand? Sie wirkte sogar noch kleiner, als wäre sie um ein paar Zentimeter geschrumpft. Sofort, wenn sie das Café betreten und auf ihn zusteuern würde, wollte Edgar seinem Ärger Luft machen und ihr das Ende ihres Deals verkünden. Doch Toni war schneller.

„Es tut mir so leid. Oh Gott, geht es Ihnen gut?“, fragte sie.

Die ehrliche Besorgnis in ihrer Stimme ließ seine Wut ein wenig verpuffen. Er folgte ihrem Blick auf sein Hemd. Es war total durchgeschwitzt. Wieder sah sie durch das Schaufenster zum Polizeigebäude auf der anderen Straßenseite.

„Wir müssen gehen, Herr Brehm. Kommen Sie. Rasch. Haben Sie schon gezahlt? Ich muss Ihnen etwas zeigen.“

„Was möchtest du trinken?“, rief der hippe Kellner Toni Lorenz zu.

„Danke, nächstes Mal“, antwortete sie, ohne das Polizeigebäude aus den Augen zu lassen. Sie öffnete die Tür, nickte Edgar auffordernd zu.

Edgar würde sich sicher nicht von ihr herumkommandieren lassen. Was dachte sie sich dabei? Er musste ihr die Meinung sagen, sofort – doch Toni war bereits auf der Straße und schaute in die Menge der vorbeifahrenden Autos. Edgar trat neben sie.

„Frau Lorenz …“

Doch sie beachtete ihn gar nicht. Da hatte er sich ja was Schönes eingebrockt.

„Unsere Zusammenarbeit ist hiermit beendet, Frau Lorenz.“

Toni reagierte nicht.

„Was machen Sie denn da?“, fragte er verärgert.

„Wir brauchen ein Taxi.“

„Nein, wir brauchen ganz sicher kein Taxi! Bitte geben Sie mir den Kamera-Stift.“

Sie sah ihn noch immer nicht an, ihre Augen huschten zwischen Straße und Eingang des Polizeigebäudes hin und her.

„Frau Lorenz, die Kamera! Unsere Zusammenarbeit ist hiermit beendet.“

„Ha! Da! Sehen Sie diese Frau? Das ist sie.“

Tonis Stimme überschlug sich vor Aufregung.

Das war nicht im Entferntesten die Reaktion, die Edgar erwartet hatte.

Toni deutete aufgeregt zur anderen Straßenseite.

„Sehen Sie sie? Diese Frau im schwarzen T-Shirt? Sie kommt gerade raus. Mit der großen Sonnenbrille. So ein Mist, wo ist denn ein Taxi, wenn man eines braucht?“

Edgar seufzte. Er hatte keine Kraft mehr, er wollte einfach seinen Stift haben und endlich diese junge Frau loswerden.

„Frau Lorenz, es ist mir egal, wer das ist. Und Sie braucht es auch nicht mehr zu kümmern.“

Sie schien ihm gar nicht zuzuhören, ließ die Frau auf der anderen Straßenseite nicht aus den Augen.

„Geht sie vor zum Schottentor? Ich glaube, sie geht vor zum Schottentor. Kommen Sie.“

Toni trat ein paar Schritte von ihm weg, aber er blieb, wo er war.

„Hören Sie auf! Sie arbeiten nicht mehr für mich.“

In seiner Verzweiflung war er wieder laut geworden. Warum hörte sie ihm nicht einfach zu?

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf, als hätte er ihr eine Frage gestellt und sie nicht gerade gefeuert. Mit beiden Händen deutete sie auf die gegenüberliegende Straßenseite.

„Da drüben! Das ist seine Freundin.“

„Wessen Freundin soll das sein?“

„Die Freundin des toten Kellners. Von der Party.“

„Was? Wer?“

Sofort folgte Edgar Tonis Blick. Eine dunkel und elegant gekleidete Frau in hohen Schuhen schritt mit wippendem Pferdeschwanz Richtung Schottentor. Immer wieder wischte sie sich über die Wangen.

„Woher wissen Sie das?“

„Beim Ausgang musste ich bei der Sicherheitsschleuse kurz warten. Die Frau ist vor mir gestanden und hat telefoniert. Sie hat geweint, gesagt, dass sie nicht begreifen kann, was er auf dieser Party als Kellner überhaupt gesucht hat, er war doch gar kein Kellner. Dann ist ein Polizist gekommen und hat sie aus der Reihe geholt und gebeten, ihr Gespräch zu beenden und noch kurz dazubleiben, sie müsse ein Formular wegen ihrer Aussage unterschreiben.“

„Sie haben doch nicht mit ihr gesprochen?“

„Nein. Ich bin gegangen.“

Edgars Wut auf Toni Lorenz war wie weggeblasen.

„Los“, war alles, was er sagen konnte, „lassen Sie sie nicht aus den Augen.“

Das Schottentor war ein Knotenpunkt für U-Bahn, Autobusse und unzählige Straßenbahnen. Sie mussten die andere Straßenseite erreichen, bevor die Frau in Schwarz die Rolltreppe nahm. Die Autos rasten in Dreierreihe über den Ring. Es war unmöglich, die Straße zu überqueren.

„Dort vorne ist noch ein Abgang“, sagte Edgar. „Laufen Sie hin. Ich versuche, auf die andere Straßenseite zu kommen.“

Toni rannte sofort los. Edgar trat auf die Straßenbahngleise und hob eine Hand, um den Autos ein Zeichen zu geben, stehen zu bleiben. Doch sie brausten ungerührt an ihm vorbei. Während er versuchte, mit der Frau auf gleicher Höhe zu bleiben, fotografierte er sie hektisch mit seinem Handy. In dem Moment, in dem sie hinter dem Überbau des Abgangs verschwand, schaffte er es endlich über die Straße. Edgar betete, dass Toni Lorenz sie entdecken und nicht aus den Augen lassen würde. Wenn sie recht hatte, dann wäre er mit dieser Frau einen gigantischen Schritt vorwärtsgekommen. Vielleicht war sie sogar die Verfasserin des Tagebuchs? Edgars Lunge stach und brannte – oder war es sein Herz? Das spielte keine Rolle. Fast wäre er gestolpert, so schnell eilte er die Rolltreppe hinunter. Es war viel los, Menschen strömten zur U-Bahn, standen vor den diversen Bäckereien und Imbissen. Weder von Toni Lorenz noch von der Frau in Schwarz eine Spur.

Er lief zu den beiden Aufgängen, die zu den Straßenbahnstationen führten. Nichts. Wieder zurück, weiter zum U-Bahn-Abgang, er nahm die Rolltreppe. Die Bahn fuhr gerade in die Station ein. Da war sie. Weit vorne bei den ersten Wagons, er würde sie nie erreichen. Und sie war kurz davor einzusteigen.

So schnell Edgar konnte, hastete er an den Leuten vorbei. Er war noch nicht am Bahnsteig, da schallte bereits die Ansage, dass der Zug abfahre. Mit letzter Kraft warf Edgar sich zwischen die sich schließenden Türen, die ihn schmerzhaft einklemmten. Eine Sekunde, dann gingen sie wieder auf. Er hatte es geschafft.

Sein Handy läutete, es war Toni Lorenz. Er konnte ihr kaum antworten, so sehr war er außer Atem.

„Ich habe sie verloren“, sagte sie.

„Ich … nicht …“, keuchte er. „Bin … U-Bahn.“

Edgar ignorierte die Blicke der anderen Fahrgäste, schob sich an ihnen vorbei. Endlich, da war die Frau in Schwarz. Sie stand im Mittelteil, mit dem Rücken zu ihm, sah mit gesenktem Kopf auf ihr Handy, ihr Pferdeschwanz ragte in die Höhe. Edgar versuchte, etwas zu ihr zu sagen, aber die Fahrgeräusche waren zu laut, und er rang noch immer nach Atem. Also tippte er ihr auf die Schulter. Sie drehte sich zu ihm. Schob sich die Sonnenbrille in die Haare. Im ersten Moment begriff er nicht. Er sah an ihr herunter. Statt der hohen Schuhe, die sie zu den schwarzen Jeans getragen hatte, waren da flache Sportschuhe. Er sah wieder hoch.

Der junge schlanke Mann mit dem Pferdeschwanz lächelte ihm freundlich zu.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.