13

Toni saß noch immer da und starrte zum Eingang, obwohl Brehm bereits seit mindestens zehn Minuten fort war. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und fragte sich, warum er das Café so schnell verlassen hatte. Als wäre er auf der Flucht.

Und jetzt war auch noch der Akku ihres Handys leer. Sie fragte den Kellner, doch der hatte kein Ladekabel.

Hatte sie was Falsches gesagt? War Brehm etwas eingefallen? Oder – was sie am meisten befürchtete – ging es ihm nicht gut?

In seinem Gesicht hatte sie nichts ablesen können, dafür war alles zu rasch passiert. Außerdem war sie selbst in ihren eigenen Gedanken festgehangen. Natürlich würde sie mit der Schmitz reden. Nur hatte sie Brehm verschwiegen, dass seine Bitte – oder besser: ihre neue Aufgabe – zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt kam.

Es war jetzt kurz vor sechzehn Uhr und damit auch kurz vor Ende von Schmitz’ letzter Stunde am Konservatorium. Wenn Toni sich beeilte, konnte sie die Schmitz abfangen. Sie musste sowieso mit ihr reden, denn wenn es stimmte, dass eine Konferenz über ihren weiteren Verbleib – nein, darüber wollte sie besser nicht nachdenken. Die Schmitz war ja kein Unmensch. Zwar hatte Toni es bis jetzt vermieden, über ihre derzeitige private Situation zu sprechen. Aber andere Umstände erfordern andere Maßnahmen. Oder so ähnlich.

Für den Fall, dass Brehm wieder auftauchte, bat Toni den Kellner, ihrem geflüchteten Begleiter mitzuteilen, dass sie ins Konservatorium gegangen war. Sie verließ das Café. Wie an so einem schönen Tag zu erwarten, war die Innenstadt voller Touristen. Toni lief im Zickzack die Freyung entlang und zwängte sich in der schmalen Naglergasse an Reisegruppen vorbei. Am Graben waren die Schanigärten der Lokale vollbesetzt, und für einen kurzen Augenblick spürte sie die Sehnsucht nach so fröhlicher Ausgelassenheit. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich gar nicht mehr verfolgt fühlte. Oder war das dem Umstand zu verdanken, dass sich so viele Menschen auf der Straße befanden?

Sie bog im Laufschritt in die Kärntner Straße. Fast wäre sie mit einer Reiseführerin zusammengekracht, die vor Schreck ihre Unterlagen über die Wiener Sehenswürdigkeiten fallen ließ. Toni half ihr beim Einsammeln der Seiten und traf deshalb verspätet im Konservatorium ein. Da nachmittags im Haupthaus bis auf wenige Dramatik-Einzelstunden kein Unterricht stattfand, war niemand mehr da. Und auch weit und breit keine Schmitz.

Toni wartete, ging den Gang auf und ab, horchte. Normalerweise überzog die Schmitz ihre Unterrichtsstunden gerne um ein paar Minuten. Aber selbst in diesem Fall müsste sie schon an ihr vorbeigekommen sein. Oder hatte sie heute den Unterricht früher beendet und war gar nicht mehr hier?

Zumindest konnte Toni jetzt endlich ihr Handy aufladen. Wer auch immer die Idee mit dem Ersatzladekabel zur allgemeinen Verwendung im Pausenraum gehabt hatte – sie war ihm zu Dank verpflichtet! Sie ließ ihr Handy dort und stieg die Treppe in den ersten Stock hoch. Das Unterrichtszimmer der Schmitz war versperrt. Sie war nicht da, so ein Mist!

Mehr aus Angst davor, die Konferenz wegen ihr wäre tatsächlich kurzfristig einberufen worden, als aus Hoffnung, die Schmitz zu finden, ging Toni in den nächsten Stock. Das Sekretariat war verschlossen, sie klopfte beim Lehrerzimmer, niemand öffnete. Aber es war noch jemand hier, sie hörte doch irgendwo Möbelrücken. Das musste aus dem oberen Stockwerk kommen.

Bereits auf den ersten Stufen hallte Toni die tiefe und donnernde Stimme der Schmitz entgegen. Sie jammerte, regte sich auf. Es kam aus dem Turmzimmer. Normalerweise war das versperrt, da der dunkle Raum von den Studenten in der Vergangenheit für Partys, Joint-Runden und auch mal Sex missbraucht worden war. Jetzt wurde er nur mehr für ausgesuchte Proben für die Jahresabschlussprüfung freigegeben. Wieso war die Schmitz hier oben? Und wen machte sie da gerade zur Schnecke?

„… bin ich müde, diesem Götzen zu schmeicheln, den mein Innerstes verachtet. Wann soll ich frei auf diesem Throne stehen? Die Meinung muss ich ehren, um das Lob der Menge buhlen. Einem Pöbel muss ich’s recht machen, dem der Gaukler nur gefällt. Oh, der ist noch nicht König, der der Welt gefallen muss. Nur der ist’s, der bei seinem Tun nach keines Menschen Beifall braucht zu fragen.“

Tonis Magen zog sich zusammen. Sie wusste, was das war. Der Monolog der Elisabeth aus „Maria Stuart“. Das wohl einschneidendste Stück ihrer Karriere: In der Nacht vor dem Premierenabend war die Schmitz auf dem Heimweg zusammengeschlagen worden.

Aber wem spielte sie das vor? Und warum im Turmzimmer und nicht in ihrem eigenen Unterrichtsraum?

Lena hatte Toni erzählt, die Schmitz hätte sich angeblich dem Wunsch ihres besorgten Ehemanns gebeugt und war nach dem Vorfall beruflich kürzergetreten. Aber Toni glaubte nicht daran. Sie hatte diesen Ehemann gesehen. Er lief der Schmitz hinterher wie ein Schoßhund. Wenn in dieser Ehe jemand auf die Wünsche des anderen reagierte, dann war das er.

Also, was sollte sie jetzt machen? Hier auf die Schmitz warten und zugeben, dass sie gelauscht hatte? Oder unten beim Eingang, wie sie es vorgehabt hatte?

Die Schmitz nahm ihr die Entscheidung ab: Mitten in „War ich tyrannisch, wie die spanische Maria war …“ kam sie aus dem Turmzimmer. Ihr Gesicht war tomatenrot und glänzte vor Schweiß. Bei Tonis Anblick stieß sie ein verärgertes Grunzen aus.

„Ich dachte mir, dass ich was gehört hab. Aber mit dir hab ich nicht gerechnet.“

Toni wartete, ob noch jemand kam, aber die Schmitz schien alleine zu sein. Plante sie eine Rückkehr zum Theater?

„Frau Professor, ich hab Sie gesucht und … ich wollte nicht stören. Haben Sie gerade geprobt?“

„Was willst du?“

Sie hörte sich an, als wäre auch das ein Satz ihrer Rolle.

„Ich bin …“

„… nicht krank, wie ich sehe“, vollendete die Schmitz den Satz bissig. „Das habe ich auch nicht angenommen.“

Toni wollte sich nicht einschüchtern lassen. Die Schmitz war wie ein zorniger Wachhund, der schließlich doch nur lauthals bellte. Das Wichtigste bei ihr war, nicht auf ihre Launen einzugehen und einen kühlen Kopf zu bewahren. Wenn man es durchhielt und ruhig und gelassen blieb, versiegten diese Emotionsvulkane so schnell, wie sie ausgebrochen waren.

Wo sollte Toni anfangen? Bei Steiner? Ihrem drohenden Rausschmiss? Felix? Ihrer finanziellen Situation? Sie räusperte sich.

„Lena hat mir von der geplanten Konferenz erzählt. Und darum … also ich wollte Ihnen erklären, warum ich im letzten Monat so viele Fehlstunden hatte.“

„Ach, wirklich? Na dann, ich bin gespannt. Also los“, keifte die Schmitz und verschränkte die Arme.

In ihrem wallenden Kleid sah sie aus wie eine Rachegöttin. Toni durfte sich von dem boshaften Tonfall nicht aus dem Konzept bringen lassen. Sie wartete einen kurzen Moment.

„Mein Freund hat mich vor einem Monat verlassen. Er hat mein gesamtes Geld, die Bankomatkarte, einfach alles mitgenommen, was so viel bedeutet wie … also, ich bin pleite. Ich habe versucht, ihn zu finden, aber er hat sich sehr gut versteckt.“

Tonis Versuch, einen Scherz zu machen, funktionierte nicht. Die Schmitz zuckte nicht mal mit dem Mundwinkel.

„Ich brauch das Geld dringend wieder, meine Großmu–“

Die Schmitz sah sie an, als würde sie jeden Moment explodieren. Toni entschied sich dagegen, von ihrer Großmutter zu erzählen.

„Egal. Also, das ist der Grund. Es tut mir wirklich sehr leid, ich weiß, dass ich viel versäume. Aber nur, weil ich dabei bin, dieses Problem so schnell es geht auf die Reihe zu kriegen. Wirklich.“

„Ahaaa.“

Die Schmitz lächelte so breit, dass ihre gesamte Zahnreihe aufblitzte. Es war das unechteste und gleichzeitig wütendste Lächeln, das Toni je von ihr gesehen hatte. Wäre Lena in der Nähe, hätte sie jetzt gegrunzt.

„Und wie lange das alles noch dauern wird, das weißt du nicht, nehme ich an?“

Ihre Stimme klang süß und falsch und tatsächlich furchteinflößend. Toni schüttelte perplex den Kopf.

Die Schmitz war streng. Aber sie war nicht boshaft. Sie liebte das Theater und hatte wenig Einsicht, wenn jemand nicht genauso empfand. Deshalb hatte Toni keine Begeisterung, aber doch Verständnis erwartet. Und Loyalität. Jedenfalls niemals diese Reaktion.

„Und wie stellst du dir vor, soll das dann weitergehen, Antonia?“, sagte sie, ohne ihr Grinsen zu verlieren. „Suchst du die nächsten paar Monate auch noch nach ihm? Vielleicht gleich ein ganzes Jahr, hm? Und besuchst den Unterricht wieder, wenn er auf deiner Türschwelle steht?“

Die Schmitz lächelte noch immer, aber ihre Augen bekamen diesen starren Ausdruck, als würde sie sich mit viel Mühe beherrschen. „Was denkst du dir eigentlich?“

Jede falsche Freundlichkeit war aus ihrer Stimme verschwunden.

Obwohl Toni sie sehr gut verstanden hatte, fragte sie: „Bitte?“

„Was, denkst du dir, ist das hier?“, donnerte die Schmitz so laut, dass Toni unwillkürlich zusammenzuckte.

Die Schmitz trat einen Schritt näher an sie heran, wie eine Löwin an ihre Beute.

„Diese Ausbildung. Dein Studienplatz. Glaubst du, das ist ein Geschenk?“

„Ich verstehe nicht … was meinen Sie?“

Der Blick der Schmitz war eiskalt, so kannte Toni sie gar nicht.

„Hast du eigentlich eine Ahnung, wie viele ambitionierte, talentierte junge Frauen sich um einen Platz an dieser Schule reißen? Einen Platz, den du ihnen wegnimmst.“

„Aber es war doch nur der letzte Monat … und auch nur aus dem Grund, weil –“

„Nur der letzte Monat?“ Ihre Nasenflügel, ihre Brust, ihre Lippen – alles an ihr bebte. Die Schmitz hob die Hand, streckte Toni vier Finger vor das Gesicht. „Ein Monat? Das sind vier Wochen – vier! –, in denen ein ganzes Theaterstück auf die Beine gestellt wird.“ Dramatisch warf sie ihre Arme in die Höhe. „Für diesen Beruf muss man brennen. Verstehst du? Brennen! Wir bilden hier keine Möchtegerndarstellerinnen aus, die nur wie ein Teelicht vor sich hin glimmen. Und willst du wissen, was falsch ist an dem, was du sagst? Ich verrate es dir, Antonia: Irgendwas wird immer sein. Immer! Huhu, mein Freund ist weg. Oh nein, ich hab kein Geld.“

Toni konnte nicht mehr verbergen, wie sehr sie die Worte trafen. Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie mühsam wegzublinzeln versuchte. Das schien der Schmitz nur noch mehr Zündstoff zu geben.

„Hast du eigentlich eine Ahnung, wie viele Hindernisse und Rückschläge man ertragen muss, um es in diesem Beruf zu schaffen? Und nichts, gar nichts, darf dich dabei aufhalten.“ Sie zeigte mit ihrem Zeigefinger auf Toni. „Du bist talentiert, aber weißt du was? Das nützt dir rein gar nichts. Talentiert sind nämlich hundert, ach was, tausend andere auch. Die sich nicht aufhalten lassen.“ Toni hatte das Gefühl, es ging hier gar nicht mehr um sie. „Wenn du schon so anfängst, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis du einknickst. Und dafür sind dieser Platz und die Zeit an dieser Schule zu schade, um alles an dich zu verschwenden.“

„Das ist nicht wahr. Mein Platz hier ist nicht vergeudet“, verteidigte Toni sich.

Die Schmitz warf ihren Kopf in den Nacken und fing an, höhnisch zu lachen.

„Das ist alles, was dir dazu einfällt?“ Sie drehte sich um, kehrte zurück ins Turmzimmer und sprach durch die offene Tür. „Du schwänzt seit fast einem Monat mehr als die Hälfte des Unterrichts, bist unaufmerksam, übst so gut wie gar nicht, probst nicht. Du hast keine Ahnung, was dieser Beruf wirklich bedeutet. Was er dir abverlangt. Und jetzt erzählst du eine rührselige Geschichte und glaubst, die Sache ist damit erledigt und es gäbe keine Konsequenzen. Komm herein. Na, los.“

Toni folgte ihr, dabei hätte sie am liebsten umgedreht und wäre weggelaufen.

„Hier. Spiel mir das vor.“

Die Schmitz streckte ihr ein aufgeschlagenes Reclam-Heft entgegen. Das war der Monolog der Elisabeth, von gerade eben. Was sollte das? Wollte sie sie prüfen?

„Ich warte.“

Der Boden unter Toni schwankte, als wäre sie seekrank. Die Schmitz legte es wirklich darauf an, sie rauszuwerfen. Obwohl sie ihr alles – oder zumindest fast alles – gesagt hatte. War sie noch ganz bei Trost? Oder war das eine gekonnte Provokation, weil sie dachte, Toni würde sich weigern?

Obwohl das Reclam-Heft in ihrer Hand zitterte, streckte Toni die Brust heraus und sammelte ihre ganze Wut und den Ärger. Sie wollte gerade mit dem ersten Satz einsetzen, da riss ihr die Schmitz das Heft wieder aus der Hand.

„Du kannst gehen“, sagte sie, drehte Toni den Rücken zu und fing an, in ihrer Tasche zu kramen.

Was war denn in letzter Zeit los mit der Schulleiterin? Irgendwas musste vorgefallen sein. Hatte Lena nicht erst gestern gesagt, dass sie in Pension geschickt werden sollte? War das der Grund, warum sie sich jetzt so unbarmherzig verhielt? Aber war das eine Entschuldigung?

Toni war von dieser ganzen verworrenen Szene so aus dem Konzept, sie hatte vergessen, warum sie eigentlich gekommen war: um Informationen für Brehm zu beschaffen.

Sie würde das für ihn erledigen. Und sie wollte es jetzt auch nicht nur als Gegenleistung für seine Suche nach Felix. Sie wollte ihm und sich selbst zeigen, dass sie nicht aufgeben würde.

Toni war wütend, fühlte sich gedemütigt. Aber mit der Schmitz zu streiten hatte jetzt keinen Sinn. Schon gar nicht, wenn die Schulleiterin so irrational handelte.

Brehm brauchte die Informationen. Und er brauchte sie sofort. Auch wenn die Schmitz bis zu ihrer Pensionierung am längeren Ast saß, würde sie sich die nun holen. Wenigstens das.

„Frau Professor –“

„Du brauchst dich nicht mehr rauszureden. Ich hab gesagt –“, begann sie gebieterisch. Es klang fast nach Genugtuung. Toni fiel ihr ins Wort.

„Ich bin noch aus einem anderen Grund zu Ihnen gekommen. Der Regisseur Alexander Steiner, Sie haben ein paar Mal mit ihm gedreht.“ Ihre Stimme zitterte vor Wut und Kränkung, sie achtete nicht darauf. „Wissen Sie, ob er Affären mit seinen Schauspielerinnen hatte? Ob es Übergriffe von seiner Seite gab?“

„Was hast du gesagt?“

Die Schmitz sah Toni fragend an, als hätte sie nicht richtig gehört.

„Ob Alexander Steiner seine Position in irgendeiner Form ausgenutzt hat?“

„Alexander Steiner? Warum fragst du das?“

Der Blick der Schmitz blieb zwar halb skeptisch und halb verwundert, aber ihr Ärger schien sich zu verflüchtigen. Als würde irgendwas bei ihr anklingen.

„Weil ich weiß, dass Sie mit ihm gearbeitet haben.“

„Ja. Aber warum fragst du danach?“

Toni überlegte. Die Schmitz würde ihr garantiert nicht abnehmen, dass sie ein Vorsprechen bei Steiner hätte. Ein Anruf würde reichen, um sie der Lüge zu überführen. Und das konnte sie gerade jetzt am allerwenigsten brauchen.

„Weil es jemandem sehr helfen würde, das zu wissen“, sagte sie. „Einer jungen Kollegin.“

„Wie heißt sie?“

„Ed…da Brehm, sie ist … Sie kennen sie nicht.“

Die Frage hatte Toni überrascht. Es war ihr nichts anderes eingefallen.

Ein leichtes Zucken huschte über das Gesicht der Schulleiterin. Sie wusste etwas, da war Toni sicher. Die Schmitz schien zu überlegen, hob ein wenig die Augenbrauen, sie wirkte erschöpft.

„Er ist ein außergewöhnlicher Regisseur. Ich habe immer sehr gerne mit ihm gearbeitet“, winkte sie ab und wandte sich wieder ihrer Tasche zu.

„Ich verstehe. Gut, also dann.“ Toni drehte sich um, als würde sie gehen wollen. „Ich weiß, Sie sind im Moment nicht gut auf mich zu sprechen“, sagte sie mit dem Rücken zur Schmitz. „Aber Sie würden eine Kollegin doch trotzdem vor ihm warnen? Sofern es angebracht ist.“

Da die Schmitz nicht antwortete, machte sie einen Schritt Richtung Tür.

„Warte.“

Toni drehte sich um. Die Schmitz sah zu Boden, als würde sie mit sich um eine Antwort ringen.

„Steiner hat sich mir gegenüber immer mehr als korrekt verhalten. Aber ich war da bereits sehr erfolgreich. Anders als meine …“ Sie stoppte.

„Als Ihre …?“

„Meine Nichte. Loretta. Sie war damals Anfängerin. Ein bisschen übersensibel, aber ein entzückendes Mädchen. Sie wollte immer so werden wie ich. Wie glücklich sie war, als sie in einer seiner grauenhaften Serien mitgespielt hat. Eine Episodenhauptrolle sogar. Aber danach wollte sie nicht mehr mit ihm arbeiten. Über den Grund hat sie nie gesprochen.“

„Haben Sie etwas vermutet?“

„Ich habe ihr Verhalten damals einfach nicht verstanden. Es kam noch ein Angebot von ihm, aber sie hat es abgelehnt, ist nach London gezogen.“

Irgendwas verschwieg die Schmitz, das war eindeutig.

„Es ist ein verrückter Beruf“, sagte sie plötzlich. „Es gibt diese verklärte Ansicht, dass man dazu berufen wird. Aber was bedeutet das schon? Die Wahrheit ist: Es ist ein Scheißberuf. Er prüft dich ständig. Fordert alles von dir. Und wenn du glaubst, du kannst nichts mehr geben, dann wirst du feststellen, das ist erst der Anfang.“

Toni wusste nicht, ob das in die Kategorie „dramatische Übertreibung einer gescheiterten Diva“ gehörte oder ob sie aus Wehmut sprach. Die Schmitz seufzte schwer, sah Toni mit einem müden Lächeln an.

„Wir hätten dich gar nicht aufnehmen dürfen, Antonia.“

Das hörte sie zum ersten Mal.

„Weil ich nicht gut genug war?“

„Nein. Weil es dir zu leichtgefallen ist.“

Toni wollte erwidern, dass es nicht stimmte. Und, dass es ihr leidtat, wenn die Gerüchte über die Pensionierung stimmen sollten. Dass das nicht fair war, wollte sie sagen. Und dass die Schmitz jetzt nicht auch noch unfair zu ihr sein sollte. Doch sie war schneller.

„Geh jetzt. Du brauchst am Freitag nicht mehr zu meinem Unterricht kommen.“

„Aber, das ist nicht –“

„Das Schuljahr dauert nur mehr drei Wochen. Am Freitag findet eine Konferenz statt, da werden wir entscheiden, wie es mit dir weitergeht. Das Sekretariat meldet sich bei dir. Und jetzt schließ die Tür hinter dir.“

Erst im Pausenraum erlaubte sich Toni, vor Wut und Demütigung zu heulen. Unter dem Tränenschleier trennte sie ihr Handy vom Ladekabel und schaltete es ein. Sechs Anrufe in Abwesenheit, vier Nachrichten auf der Mobilbox. Die erste war von Lena:

Wo bist du? Wieso geht nur deine Box ran? Ruf mich zurück, okay? Ich mach mir Sorgen.

Hey, der Unterricht ist aus. Ich fahr jetzt zu dir nach Hause.

Bei der dritten Nachricht klang sie gekünstelt fröhlich: Toni, ich stehe vor deiner Wohnungstür. Deine Oma ist hier. Überraschungsbesuch.

Ohne die letzte Nachricht abzuhören, lief Toni aus dem Gebäude. Sie kam nicht weit. Edgar Brehm wartete dort. Sein Gesicht fast so weiß wie die Hausmauer, an der er lehnte.

„Haben Sie geweint?“

Brehm sah sie erschrocken an, Toni wischte sich über die Wangen. Ein paar Passanten mit Eistüten voller bunter Kugeln betrachteten sie neugierig.

„Können wir später reden? Ich muss sofort nach Hause.“

„Haben Sie etwas erfahren?“

„Ja, aber … ich kann wirklich nicht. Lena hat angerufen, meine Oma steht vor der Tür. Ich ruf Sie später an, okay?“

Brehm sah die Straße hinunter, er wirkte abgekämpft.

„Nein. Wir nehmen ein Taxi. Beim Ronacher ist ein Standplatz. Kommen Sie. Dann können Sie mir im Wagen alles erzählen. Und ich habe auch Neuigkeiten für Sie.“

Toni hörte, wie er hinter ihr her schnaufte, also ging sie ein bisschen langsamer, als sie eigentlich wollte.

Nur mehr ein Taxi stand da, sie stürmte hin, öffnete die Hintertür, und noch während sie reinrutschte, nannte sie der Fahrerin die Adresse. Brehm schob sich mühsam in den Wagen.

„Tut mir leid, dass ich vorhin so rasch wegmusste“, murmelte er, als sie losfuhren. „Der Kellner hat mir Bescheid gegeben, wo ich Sie finde. Ihr Handy ist übrigens ausgeschaltet.“ Er senkte seine Stimme noch mehr. „Ich habe mit Milos Kubra telefoniert.“ Tonis Herz begann wild zu klopfen. „Es ging um Geld. Siebentausend Euro. Die hat er sich von Herrn Kubra geborgt. Und sie bis dato nicht zurückgezahlt. Anscheinend hat er bei mehreren Leuten Schulden gemacht. Warum oder wie viel, wollte Kubra nicht sagen. Ich war ehrlich gesagt überrascht, dass er überhaupt mit mir gesprochen hat. Aber er dachte anscheinend, ich würde Meier auch wegen Schulden suchen.“ Er nickte ihr zu und sagte wieder in normaler Lautstärke: „So, jetzt Sie, was haben Sie erfahren?“

Toni wollte nachfragen, ob dieser Kubra sonst noch irgendwas wusste, wurde aber vom Bremsen und dem grellen Aufschrei der Taxifahrerin unterbrochen.

„Eddi?“ Der blonde toupierte Haarschopf der Fahrerin drehte sich nach hinten, und sie starrte Brehm an. „Jössas, Eddi, bist das du? Ja, wirklich! Nein, ich glaub es ja nicht. Der Eddi Brehm, bei mir im Taxi!“ Sie lachte schrill. „Kennst mich nicht mehr?“

Brehm sah aus, als hätte er wieder Schmerzen.

„Inge?“, fragte er gequält. „Das ist aber ein Zufall.“

Ihr neuerliches Jauchzen ging in einen röhrenden Raucherhusten über.

„Na, das kannst aber laut sagen.“

Hinter ihr hupte ein Wagen, sie drehte sich nach vorne und gab Gas. Sie nahm die Kurve so schwungvoll, dass Toni gegen Brehm geschleudert wurde.

„Ich hab dich ja sicher schon – wart, wie lang ist das her? – vier Jahre nimmer gesehen. Wie geht’s dir? Und wie geht’s deinem Kompagnon?“

„Danke, gut“, sagte Brehm knapp. Seine Miene wirkte wie versteinert. „Und –“, begann er, doch sie fiel ihm ins Wort.

„Wie läuft denn euer Detektiv-Gschäft? Der Karli sagt noch immer, es ist so schad, dass dich damals bei der Polizei rausgehaut haben. Du warst einer von den anständigen Kieberern, einer mit Handschlagqualität. So was gibt’s ja heute nimmer. Darum hat er auch gsagt, wir müssen unbedingt den Brehm als Detektiv engagieren. Er wird euch das nie vergessen, wie ihr damals seinen Sohn gefunden habts. Lang habens die beiden leider nicht miteinander ausgehalten. Der Karli ist übrigens wieder gsessen, letztes Jahr. So ein Depp.“

„Wirklich“, entgegnete Brehm.

Es klang nicht wie eine Frage, stellte Toni fest. Doch Fahrerin Inge schien das nicht zu bemerken.

„Ja, ja, das Übliche. Glaubt, er kann wie früher noch wen übers Ohr hauen. Dabei, mit dem ganzen Internet … die haben ihn schneller eingsperrt, als er schaun hat können. Er hat halt sonst nix und dann is ihm fad und dann wird er eben deppert. Aber bei der Polizei interessiert das keinen. Es gibt dort keine Ehrenmänner mehr.“ Inge schüttelte den Kopf. „Und du? Hast endlich geheiratet? Da gab es doch mal diesen netten … ma, wie hat der geheißen? Na, egal. Jedenfalls hab ich mich ja so gefreut, dass ihr das jetzt auch dürfts. Mein Karli sagt immer, allen sollen die gleichen Fehler erlaubt werden.“ Ihr Lachen vermischte sich mit Husten. „Der Sohn von meiner Cousine, der Jakob, ist jetzt auch schwul. Ein fescher Bursch, groß und blond, und er hat so einen Reifen im Ohr. Also mir gfallt das ja nicht. Hast du ihn schon mal bei euch gesehen?“

Toni brauchte einen Moment, bis sie verstand, was die Fahrerin gerade gesagt hatte. Brehm? Homosexuell? Erst als er ihr einen wütenden Blick zuwarf, merkte sie, dass sie ihn anstarrte.

„Und wer ist die junge Dame? Ein neuer Fall? Ich kann Ihnen sagen, der Eddi und der Kurt, das sind super Detektive“, kicherte Inge.

„Ich arbeite für ihn“, sagte Toni.

„Na sapperlot, jetzt hast auch schon Angestellte. Hawedehre. Wenn ich das dem Karli erzähl. Also jetzt sag schon, wie geht’s dem Kurt? Der hat mir damals die Hand geküsst, wie wir zu euch kommen sind. Mir hat noch nie vorher einer die Hand küsst.“ Sie seufzte beherzt.

Brehm räusperte sich. Er schien mit sich zu kämpfen.

Inge beobachtete ihn im Rückspiegel und bremste im letzten Moment an einer roten Ampel. Sie drehte sich um und sah ihn erwartungsvoll an.

„Also, wie geht’s deinem Kollegen?“

„Es geht ihm gut“, sagte er und schaute sofort aus dem Fenster.

Inge sah Toni an, als würde sie erwarten, dass sie mit mehr Informationen aufzuwarten hatte.

„Es ist grün“, sagte Brehm kühl.

Damit war Inges Begeisterung verpufft. Den Rest der Fahrt brachten sie schweigend hinter sich.

Vor dem Haustor warteten bereits ihre Großmutter, Lena und ein weißhaariger Herr in einem blauen Anzug. Er sah aus wie ein Schiffskapitän. Das musste der begehrte Neuzugang sein, von dem ihre Oma erzählt hatte. Toni hatte angenommen, dass Brehm weiterfahren würde, doch er stieg mit ihr aus. Wahrscheinlich, um nicht weiter mit Inge reden zu müssen.

„Da ist sie ja!“ Tonis Großmutter kam auf sie zu. Ihr dunkelblaues Seidenkleid flatterte elegant im Wind. Ihre dichten, weißen Haare waren hochgesteckt, große Perlenohrringe lugten hervor, ein Hauch von Flieder umgab sie.

Die bunten Armreifen klimperten, als sie die Arme nach Toni ausstreckte, sie an sich drückte und ihr einen Kuss auf die Wange gab. Toni war das Humpeln nicht entgangen. Eigentlich brauchte Martha Lorenz einen Stock, aber sie weigerte sich strikt, einen zu verwenden. In der vertrauten Umarmung musste Toni sich zurückhalten, um nicht loszuheulen. Den letzten Besuch in Baden hatte sie wegen der Suche nach Felix ausfallen lassen. Wie sehr ihre Oma ihr gefehlt hatte. So gerne würde sie ihr alles erzählen, so wie früher, in der Küche bei einem Kaffee.

„Bitte sag jetzt nicht, das ist Felix“, flüsterte ihre Oma ihr ins Ohr und löste die Umarmung. Ihr Lächeln in Brehms Richtung war wie eingefroren. Sie streckte ihm die Hand entgegen.

„Martha Lorenz, ich bin Tonis Großmutter.“

„Guten Tag, Brehm.“

Toni bemerkte den fragenden Blick, den Brehm ihr zuwarf, und schüttelte leicht den Kopf. Der Schiffskapitän schien es mitzubekommen, denn er verzog die Augenbrauen. Einen Moment herrschte peinliches Schweigen.

„Papa!“, rief Lena plötzlich und steuerte auf Brehm zu, der sie erschrocken ansah. Sie wollte ihm ein Begrüßungsbussi geben, doch weil er so groß war, kam sie nicht an seine Wange. Sie überspielte es, indem sie ihren Kopf auf seiner Brust ablegte und schuldbewusst sagte: „Entschuldige, wir wollten uns ja beim Konservatorium treffen, ich hab es verschwitzt.“

Und Toni war wieder einmal über Lenas Improvisationskünste erstaunt. Martha Lorenz schien sichtlich erleichtert, und auch der Kapitän kam nun zu ihnen, schüttelte Toni begeistert die Hand und fing an zu erzählen, wie sehr ihre Oma von ihr schwärmte und er nun wisse, warum. Dann deutete er auf seinen Oldtimer, ein weißes Mercedes Cabrio. Sie plauderten eine Weile, und Toni war mehr als dankbar, wie gut Brehm mitspielte. Er unterhielt sich angeregt mit ihrer Großmutter und dem Kapitän über ihre Liebe zu alten Autos.

„So, wir wollten nur eine kurze Spazierfahrt machen“, erklärte ihre Oma und wandte sich an Toni, „wir sind auch schon wieder weg. Geht es dir gut, mein Herz?“

Toni nickte, bemühte sich um ein ehrliches Lächeln. Ob ihre Großmutter es glaubte, wusste sie nicht, aber der Schiffskapitän drängte ohnehin zum Aufbruch, um dem Abendverkehr auf der Südautobahn zu entkommen.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“, flüsterte ihre Oma Toni zum Abschied ins Ohr. Toni nickte, sie winkten einander noch zu, bis das Cabrio um die Ecke verschwunden war.

„Danke, Lena, du hast mich gerettet.“

Die schien es plötzlich sehr eilig zu haben. Sie sagte, sie müsse zu ihrer Schicht ins Café, dabei fing die erst in zwei Stunden an.

„Sie haben eine sehr nette Großmutter“, sagte Brehm, als sie alleine waren.

„Ja, danke. Darum brauch ich das Geld ja so dringend zurück.“

„Ich verstehe.“

„Danke jedenfalls, dass Sie mitgespielt haben.“

Brehm wirkte, als hätte er gerne etwas darauf gesagt, ließ es dann aber bleiben.

Hier vor dem Haus konnte Toni ihm schlecht erzählen, was sie von der Schmitz erfahren hatte, also bat sie Brehm in ihre Wohnung. Sie führte ihn in die Küche. Er wirkte leicht erschlagen von den vielen Farben. In der ersten Zeit, nachdem ihre Großmutter in die Seniorenresidenz übersiedelt war, hatte Toni an den Abenden eine Beschäftigung gebraucht. Sie war es nicht gewohnt gewesen, alleine zu sein. Also hatte sie die Küche gestrichen. Bunt. Der Hängeschrank über der Spüle war knallrot, die Kredenzen blitzblau und kanariengelb, der Küchenschrank für die Teller smaragdgrün, der für die Töpfe lila, und die Gläser standen hinter einer orangefarbenen Front. Dazu war auch jede Lade in einer anderen Farbe gestrichen. Ohne Brehm zu fragen, stellte Toni ihm ein Glas Wasser auf den Tisch. Der Stuhl, dunkelblau mit gelben und roten Tupfen, knarrte bedrohlich, als er darauf Platz nahm. Sie fing an zu erzählen, was sie von der Schmitz erfahren hatte. Nur den Streit ließ sie aus. Und von ihrem drohenden Rauswurf musste er nichts wissen.

Er kratzte sich am Kinn. „Das ist sehr interessant. Glauben Sie, Sie können diese Loretta Schmitz kontaktieren?“

Toni zog ein Knie an und umschlang es mit den Armen. „Ich kann es auf jeden Fall versuchen.“

„Oder Sie lassen sich von Frau Schmitz die Nummer ihrer Nichte geben?“

„Ich glaube nicht, dass sie mir die gibt.“

Er fuhr sich durch die Haare. Seine Hand zitterte ein wenig. Ob er seine Medikamente genommen hatte? Toni überlegte, ihn zu fragen, aber es schien ihr dann doch zu vertraulich. Sollte sie ihm etwas zu essen anbieten? Ihr selbst war jetzt mehr nach einem Glas Wein. Sie wollte ihm schon vorschlagen, eine Flasche zu öffnen, da fiel ihr ein, dass in seinem Zustand Alkohol das Letzte war, was er zu sich nehmen sollte.

„Wo waren Sie eigentlich? Ich meine, als Sie das Café verlassen haben?“, fragte sie.

„Musste was besorgen.“ Er sah aus, als wäre die Erinnerung daran keine angenehme. „Gut, also dann.“ Er war gerade dabei aufzustehen.

Sie hätte gerne gewusst, was die Taxifahrerin damit gemeint hatte, dass er bei der Polizei gekündigt worden war.

„Wie hat …“, begann sie.

Brehms schlagartig griesgrämiger Gesichtsausdruck wirkte wie eine stumme Warnung – ahnte er, was jetzt kommen würde? Vielleicht war das nicht der richtige Zeitpunkt.

„Ich meine, was passiert jetzt?“, korrigierte sich Toni.

„Wie, was jetzt passiert?“

„Na, mit Felix?“

„Ich kümmere mich darum.“

Sein Blick gefiel ihr nicht. Als schien er zu sagen: Machen Sie sich keine Hoffnungen. Aber das konnte nicht stimmen, nein, es durfte nicht stimmen!

„Wie wollen Sie eigentlich die Frau finden, die uns heute entwischt ist?“

Brehm erhob sich vom Stuhl, schüttelte den Kopf. „Frau Lorenz, wenn Sie die Nichte von Frau Schmitz ausfindig machen und mit ihr Kontakt aufnehmen, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Aber dabei werden wir es belassen.“

Dass sie seinen Sinneswandel nicht verstand, war ihr offenbar anzusehen.

„Ihre Arbeit gegen meine, quid pro quo.“

„Das müssen wir nicht so machen.“

„Bitte?“

„Ich meine nur, also, seit dem Gespräch mit der Schmitz …“

Toni wollte ihm sagen, dass es etwas bei ihr verändert hatte. Dass sie wissen musste, was an der Sache dran war. Und obwohl sie heute Vormittag noch überzeugt gewesen war, für den Job genau die Falsche zu sein, empfand sie das nun anders. War es der geweckte Gerechtigkeitssinn, der sie dazu motivierte, weitermachen zu wollen? Und noch etwas war anders – es fiel ihr erst jetzt auf. Seit sie Brehm von dieser merkwürdigen SMS erzählt hatte, war das Gefühl, verfolgt zu werden, verschwunden. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Es sei denn, jemand war ihr tatsächlich gefolgt und hatte sich zurückgezogen, weil Brehm in ihrer Nähe war. Oder gab ihr Brehm selbst ein Gefühl von Sicherheit?

Er sah sie skeptisch an.

„Hat Sybille Steiner eigentlich mit Ihnen über ihre Tochter gesprochen?“, fragte sie.

„Nein, warum?“

„Mir geht da was nicht aus dem Kopf.“

Brehm hob die Schultern, er wirkte wie ein Koloss in ihrer winzigen Küche, eingeklemmt zwischen Küchentisch und Kühlschrank.

„Was denn?“

„Ich weiß nicht … es ist weit hergeholt. Zoe wurde sehr emotional, als ich die Party zur Sprache gebracht hab.“

„Inwieweit emotional?“

„So als hätte sie Angst. Ich dachte, weil sie ein Trauma hat von dem Toten im Pool. Das muss furchtbar sein für ein Kind. Und wer will da noch schwimmen gehen? Aber sie hat immer wieder gefragt, was ich von ihrem Vater will? Und ob es um ein Demoband geht?“

„Ein Demoband? Was ist das?“

„Bevor sich alles ins Internet verlagert hat, hatte man eine DVD mit verschiedenen Filmszenen, kurzen Ausschnitten, was man schon alles gedreht hat.“

„Sie meinen, so etwas hatten Schauspieler? Und das gibt es jetzt nicht mehr?“

„Ja, genau, und man hat es schon noch, aber jetzt gibt es Onlineportale, da lädt man das Demovideo einfach hoch.“

Brehm lehnte sich an die Kredenz und verschränkte die Arme. „Wie es aussieht, bekommt Alexander Steiner trotzdem noch Demobänder. Aber warum?“

„Ich weiß nicht …“ Toni legte ihren Kopf in den Nacken. Wie würde sie es machen, wenn sie für einen Regisseur mehr als nur ein Gesicht unter vielen sein wollte? „Weil man dann etwas in der Hand hat?“, überlegte sie laut. „Ich kann ihm ja schwer einen Link übergeben. Aber so gehe ich zu ihm, dann sieht er mich, und ich verwickle ihn in ein Gespräch. Ach, übrigens, ich bin Schauspielerin und hier ist mein Demoband. Am Cover ist mein Foto, also wird er sich an mich erinnern. Und irgendeinen Computer, auf dem er es sich ansehen kann, hat er sicher auch. Auf jeden Fall besser als eine gesichtslose E-Mail, oder?“

„Sie meinen, der Tote könnte ein Schauspieler gewesen sein, der auf sich aufmerksam machen wollte?“ Er runzelte die Stirn. „Das klingt ja schrecklich.“

„Für den Schauspieler oder den Regisseur?“

„Für beide. Und falls es so war, wieso wurde er dann umgebracht?“

Sie zuckte mit den Achseln. Damit hatte Brehm recht. Hätte er Steiner erpresst, wozu hatte er sich dann auf der Party eingeschleust? Und es wäre doch niemand so blöd anzunehmen, wegen einer solchen Erpressung besetzt zu werden? Nein, das passte alles vorne und hinten nicht zusammen.

„Melden Sie sich, wenn Sie was über Loretta Schmitz erfahren“, sagte Brehm.

Toni brachte ihn zur Tür und wollte ihn noch fragen, ob sie morgen zu ihm ins Büro kommen sollte, da klingelte sein Handy. Er hob sofort ab, nickte ihr zum Abschied kühl zu, und seine immer leiser werdende Stimme verklang im Treppenhaus. Erst als er weg war, fiel ihr ein, dass sie ihn gar nicht mehr nach Felix gefragt hatte.