Edgar sah Carla beim Verlassen des Cafés hinterher. Das alles gefiel ihm nicht. Die Anschuldigungen gegen Vincent Blum weckten unangenehme Erinnerungen an seine Zeit bei der Polizei. Steiner war ein prominenter Mann. Solche Fälle standen besonders im Licht der Öffentlichkeit und sollten so schnell wie möglich gelöst werden. Das wusste er nur zu gut. Gerade er. Genau so ein Umstand hatte ihn damals nicht nur den Job, sondern seine gesamte Karriere gekostet.
„Und was meinen Sie dazu?“
Edgar war so in Gedanken, dass er auf Tonis Frage erst reagierte, als sie „Herr Brehm“ nachschob. Er drehte sich zu ihr, sie sah ihn erwartungsvoll an.
„Bitte?“, fragte er nach.
„Ich hab gefragt, wieso die Polizei den Laptop von Sascha Schwarz gestern Abend beschlagnahmt hat, wenn sie doch schon meinen, den mutmaßlichen Mörder zu haben?“
„Beweise.“ Nein, es gefiel ihm immer weniger, je mehr er darüber nachdachte. Er kratzte sich am Kinn. „Es werden mit Sicherheit Beweise für eine Verbindung zwischen den beiden Männern gesucht.“ Damit sie Blum so schnell wie möglich wieder in Gewahrsam nehmen konnten.
„Oh, verstehe.“ Toni nickte. „Ja, das ist natürlich einleuchtend.“
Ja, es war einleuchtend, aber nur, wenn man sonst nichts in der Hand hatte. Brehm winkte dem Kellner, um zu zahlen. Natürlich durfte er sich nicht in die Ermittlungen der Polizei einmischen. Aber er musste trotzdem mit Vincent Blum sprechen. Besser sofort, denn Edgar konnte sich nicht vorstellen, dass dem Mann noch viel Zeit in Freiheit bleiben würde. Er wählte die Nummer, die er von Carla bekommen hatte.
„Ja, bitte?“, meldete sich eine junge Frau.
„Hallo, mein Name ist Edgar Brehm“, er klemmte das Handy zwischen Schulter und Ohr, da genau in dem Moment der Kellner mit der Rechnung kam. „Ich hätte gerne mit Vincent Blum gesprochen.“
Er nahm zwanzig Euro aus seiner Geldbörse und drückte sie dem Kellner in die Hand.
„Ja, ich bin es.“ Edgar brauchte einen Moment, um diese Information sacken zu lassen. „Hallo, sind Sie noch dran?“, fragte die helle Stimme.
„Ja, natürlich, entschuldigen Sie, ich war gerade abgelenkt“, gab er vor. „Es geht um Sascha Schwarz.“ Der Kellner blieb stehen und sah ihn in Erwartung eines Trinkgelds an. Edgar hob zwei Finger und bedeutete Toni Lorenz, das Retourgeld zu nehmen. „Ich bin Privatdetektiv und hatte gerade ein Gespräch mit Carla …?“ Edgar sah Toni Lorenz fragend an, sie zuckte nur mit den Achseln.
„Ich weiß, wen Sie meinen“, sagte Vincent Blum leise.
„Sie hat mir von Ihrer Unterhaltung erzählt. Ich habe dazu einige Fragen, können wir uns sehen? Es wird nicht lange dauern.“
„Einen Moment, bitte“, sagte er, dann waren Schritte zu hören. „Ich kann gerade nicht. Geht es heute Abend?“
„Es muss gleich sein.“
„Vielleicht am Nachmittag, wenn ich früher –“
„Herr Blum, ich glaube nicht, dass die Polizei Ihnen viel Zeit lassen wird. Carla ist von Ihrer Unschuld überzeugt, aber …“
„Ich habe auch nichts getan.“
„Und wenn das so ist, dann werden Sie jede Hilfe brauchen, die Sie bekommen können. Darum sollten wir uns sehr dringend unterhalten.“
Er zögerte. „Ich arbeite gerade.“
„Wie bitte?“
„Ja, mein Anwalt hat mir geraten, ich soll alles so machen, wie ich es sonst auch tun würde.“
„Wo sind Sie?“
„Im Fitnesscenter. Ich bin hier Trainer.“
„Gut, dann komme ich in dieses Fitnesscenter.“
Jemand im Hintergrund rief Vincent Blums Namen.
„Okay. Aber ich gebe an der Rezeption Bescheid, dass Sie sich für eine Mitgliedschaft interessieren“, sagte er eilig. „Brehm, richtig? In zwanzig Minuten hab ich Zeit für Sie. Wir werden einen Fitnesstest machen, dabei können wir ungestört reden.“
Edgar wollte protestieren, doch das Rufen nach Blum wurde lauter. Er gab die Adresse durch, und bevor Edgar noch etwas sagen konnte, hatte Blum bereits aufgelegt. Wenigstens war das Fitnesscenter ebenfalls im ersten Bezirk und nur ein paar Minuten entfernt.
Edgar legte auf und bemerkte erst jetzt, dass der Kellner sich nicht wegbewegt hatte. Er tat noch immer so, als würde er in der Börse nach den passenden Münzen suchen.
„Er ist im Fitnesscenter?“, fragte Toni. „Obwohl er unter Mordverdacht steht?“
Der Kellner erstarrte mit der Hand im Kleingeldfach, ohne den Kopf zu heben. Edgar wartete, bis er rausgegeben hatte, obwohl der Mann sich auffallend viel Zeit ließ. Endlich legte er die Münzen auf den Tisch und wirkte fast ein bisschen enttäuscht, die Unterhaltung nicht weiter belauschen zu können. Erst als sie alleine waren, erzählte Edgar von dem Gespräch.
„Gut, gehen wir“, sagte sie und stand ruckartig auf. Im ersten Moment wollte er sie zurückhalten. Aber vielleicht war es bei seinem gesundheitlichen Zustand nicht die schlechteste Entscheidung, wenn sie ihn begleitete. Falls wirklich jemand einen Fitnesstest machen musste, dann sicher nicht er.
Da sie es nicht eilig hatten, wählten sie einen etwas längeren Weg durch die Seitengassen, die größtenteils von Touristen verschont waren. Toni legte ein ganz schönes Tempo vor. Brehm konnte kaum mit ihr Schritt halten und stolperte unelegant, als er einer Mutter mit Kinderwagen ausweichen wollte. Er musste stehen bleiben, um Luft zu holen, und stützte sich an einem Hydranten ab. Sie bemerkte es erst nach ein paar Metern, drehte um und kam zu ihm zurück.
Eine Weile standen sie so da, und er war ihr dankbar, dass sie es unkommentiert ließ. Diese junge Frau überraschte ihn immer mehr. Einerseits durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie nach den anfänglichen Schwierigkeiten vorging. Sie lernte schnell, und hätte er es nicht besser gewusst, würde er annehmen, die Arbeit gefiel ihr. Er wollte es gar nicht wahrhaben, aber es fühlte sich gut an, sie in der Nähe zu haben. Fast so gut wie früher mit Kurt. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne und schwieg, bis er sich wieder in der Lage fühlte weiterzugehen. Diesmal ließ sie sich Zeit, schlenderte neben ihm her. Fast so, als wäre es ein Spaziergang durch das schöne Ambiente der historischen Häuserfronten mit den Stuckverzierungen, den kleinen Boutiquen und Cafés mit Schanigärten. Als Tonis Handy läutete, entschuldigte sie sich, dass sie den Anruf entgegennehmen müsse, und hob ab mit: „Hallo, Oma.“
Anscheinend wusste ihre Großmutter noch immer nicht Bescheid. Sie erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei, weil die Miete der Seniorenresidenz noch nicht eingegangen war.
„Sie wollen ihr nichts sagen?“, fragte Brehm, nachdem Toni aufgelegt und ihrer Großmutter versichert hatte, sie würde sich darum kümmern. Sie schüttelte den Kopf, aber ihm entging nicht, dass sie seinem Blick absichtlich auswich.
„Ich werde so schnell wie möglich Milos Kubra aufsuchen. Ich denke, er weiß mehr, als er mir am Telefon gesagt hat.“
Sie nickte etwas zu hoffnungsvoll. Er musste es ihr sagen, auch wenn sie es nicht hören wollte, und blieb stehen.
„Frau Lorenz, rechnen Sie bitte damit, dass Ihr Geld weg ist.“
Sie wirbelte herum und riss die Augen auf. „Was? Nein. Nein, das kann nicht sein.“ Sie klang so schockiert, er hätte es ihr schonender beibringen sollen.
„Ich weiß, es ist schwer vorstellbar, aber er ist seit einem Monat weg … und in einem Monat kann viel passieren.“
Toni schluckte und räusperte sich. Hoffte sie noch immer, dass es für alles eine zufriedenstellende Erklärung geben würde? Edgar fragte sich, ob ihre Einsamkeit die Ursache war, dass sie sich so an diesen Mann klammerte. Anscheinend gab es im Leben von Toni nur sie und ihre Großmutter. Oder war es tatsächlich ihre große Liebesfähigkeit? Der Gedanke machte ihn wehmütig, er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er zuletzt für jemanden so empfunden hatte. Von Friedhelm war er seit eineinhalb Jahren getrennt, und als die Beziehung in die Brüche ging, hatte er es zwar nicht zugegeben, doch eine gewisse Erleichterung hatte sich in ihm breitgemacht. Friedhelm und er waren gleich alt. Edgar hatte schon immer eine große Gelassenheit an den Tag gelegt, was diese bloße Zahl betraf. Friedhelm dagegen war ganz versessen darauf, jünger zu wirken, hatte eine beachtliche Sammlung an Antifaltencremes in Edgars Wohnung gebracht und war jeden Morgen um sechs Uhr aufgestanden, um joggen zu gehen. Für Edgars unregelmäßige Arbeitszeiten hatte er zu Beginn viel Toleranz gezeigt – betrügende Ehepartner hielten sich nun mal nicht an feste Zeitvorgaben. Es schien ihm sogar zu gefallen, er wollte alles ganz genau wissen. Doch diese Begeisterung hatte sich nach dem achten Abend in Folge, an dem Edgar ihn und seinen gedämpften Fisch mit Gemüse versetzt hatte, gelegt. Wenn er jetzt daran dachte, fragte er sich ganz egoistisch, ob die Trennung für ihn selbst wirklich die richtige Entscheidung gewesen war. Friedhelm hatte ganz sicher nicht mit Bluthochdruck zu kämpfen.
Natürlich vermisste Edgar die Nähe, die Zärtlichkeiten, die Gespräche, dass jemand da war, wenn er abends nach Hause kam, und auch den Sex. Mein Gott, war das wirklich schon eineinhalb Jahre her seit seinem letzten Mal?
Edgar musste laut aufgeseufzt haben, denn Toni fragte ihn: „Ist alles in Ordnung? Sollen wir langsamer gehen?“
„Danke, nicht nötig.“
Er überlegte, ob er ihr von seiner Vermutung erzählen sollte. Wegen des schlechten Gewissens, Toni alleine das buddhistische Abschiedsritual besuchen zu lassen, hatte er in der Wartezeit ein bisschen recherchiert. Der Streit von Meier und Kubra hatte zwischen einer Spielhalle und einem Wettcafé stattgefunden. Kubra war ein professioneller Pokerspieler. Was die Vermutung nahelegte, dass Felix Meier ebenfalls ein Spieler war. Ein paar Erkundigungen im richtigen Milieu würden Brehm Klarheit verschaffen.
Sie gingen schweigend weiter, bis die Leuchtschrift des Fitnesscenters, in dem Vincent Blum arbeitete, vor ihnen auftauchte. Es war in einem schönen Gebäude untergebracht, die Glasfront verdunkelt, damit man hinaus-, aber nicht hineinsehen konnte.
„Einen Moment noch“, hielt er Toni auf, als sie die Eingangstür öffnen wollte. Er beugte sich zu ihr. „Wir werden wenig Zeit haben. Ich kann mir schwer vorstellen, dass auf Schwarz’ Laptop nicht irgendwas gefunden wird, das für eine neuerliche Festnahme von Blum spricht.“
„Denken Sie denn, er war es?“
„Ich denke, dass die Polizei sich nicht gerne Vorschriften machen lässt.“
Ein Duft nach Zitrone, Minze und frisch gewaschener Wäsche schlug ihnen beim Eintreten entgegen. Der Empfangsbereich ließ keinen Zweifel daran, wie exklusiv dieser Club war. Weißer Marmor, wohin man blickte. Rechts neben dem Eingang ein kleiner Springbrunnen, der vor sich hin plätscherte, den Weg zum Trainingsbereich säumten Palmen. Hinter dem Tresen lächelte ihnen eine junge Frau mit strengem Dutt und in einem leuchtend weißen Hemd entgegen.
„Herzlich willkommen!“ Sie strahlte, als wären Edgar und Toni lange vermisste Familienmitglieder.
„Ich habe einen Termin bei Vincent Blum.“
„Natürlich.“ Sie tippte in den Computer. Ihre gekünstelte Freundlichkeit war irritierend. „Herr Brehm?“, fragte sie und sah hoch. „Ich brauche bitte Ihr Geburtsdatum, Ihre Größe und das Gewicht.“
„Warum?“
„Das ist bei uns Standard für neue Interessenten.“
Widerwillig gab er seine Daten preis, wohl wissend, dass er bei dem Gewicht zehn Kilo zu wenig angab.
„Vielen Dank. Vincent kommt sofort zu Ihnen.“
Edgar bemerkte ihren fragenden Blick zu Toni. „Das ist meine Begleitung.“
„Oh, tut mir leid, Vincent hat nur Sie vermerkt. Aber Ihre Begleitung kann sehr gerne warten, wir haben ein Café im Haus.“
„Ich möchte mir den Club ebenfalls ansehen.“
Toni trat energisch neben Edgar, und ihm entging nicht der skeptische Blick, den die Empfangsdame auf sie warf.
„Leider geht das ni–“, begann sie.
„Sie ist meine Tochter“, warf Edgar rasch ein. Er hörte, wie Toni neben ihm Luft einsog.
„Oh.“ Die Empfangsdame presste ihre Lippen zusammen. „In dem Fall kann ich eine Ausnahme machen.“
Während sie mit einem professionellen Lächeln Tonis Daten eingab, bedeutete die ihm, sich zu ihr zu beugen.
„Ich hab vergessen: Zoe war vorhin bei der Zeremonie“, flüsterte sie.
„Steiners Tochter?“, fragte Edgar verwundert.
„Ja, sie hat geweint und ist dann gleich wieder weg.“
Sie wurden von der Empfangsdame unterbrochen, die sie mit zuckersüßer Stimme bat, für ein Foto in die Kamera auf der Rückseite des Bildschirms zu sehen. Edgar wollte schon fragen, ob sie auch Fingerabdrücke abgeben mussten, doch er behielt es für sich.
Als ihnen Besucherausweise gereicht wurden, kam endlich Vincent Blum. Er war nicht nur so durchtrainiert, dass sein weißes Shirt an den Oberarmen spannte und seine Brustmuskeln sich durch den Stoff abzeichneten – seine gesamte Erscheinung war geradezu irritierend attraktiv. Wahrscheinlich verbrachte er täglich viele Stunden in der Kraftkammer. Im Gegensatz dazu wirkte sein lächelndes Gesicht weich und jungenhaft. Edgar zog automatisch ein wenig den Bauch ein, was er im selben Moment als lächerlich empfand.
„Danke, Jolanda“, sagte Blum, zwinkerte der Rezeptionistin zu und machte eine ausladende Geste. „Es freut mich sehr, dass Sie sich für eine Mitgliedschaft interessieren. Wenn ich Sie bitten darf, mir zu folgen.“
Für Edgar deutete nichts darauf hin, dass im Fitnessstudio irgendwer von Blums kürzlicher Verhaftung wusste.
„Hier entlang, ich zeige Ihnen gleich ein bisschen etwas von unserem Club“, sagte Vincent. Wie Edgar bereits am Telefon bemerkt hatte, war Blums Stimme ungewöhnlich hoch. Es klang, als würde eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen sprechen. Unter dem Kehlkopf entdeckte Edgar eine kleine Narbe, wahrscheinlich von einer Operation. Was die Höhe seiner Stimme erklären würde. Blum ging voraus, Toni warf Edgar einen fragenden Blick zu, und er nickte unauffällig.
Blum führte sie vorbei an keuchenden Menschen auf Crosstrainern und Laufbändern, die keine Notiz von ihnen nahmen. Sie stiegen eine Treppe hinauf, gingen durch ein endloses Labyrinth aus Fitnessräumen mit Geräten, die Edgar an Folterinstrumente erinnerten. Dieser Club war riesig, sie waren bereits ein paar Minuten unterwegs, bis Blum sie schließlich durch eine Tür bat, auf der „Check-in“ stand.
Dahinter sah es aus wie in einer Arztpraxis für Spitzensportler: ein Laufband, ein Ergometer und diverse Kabel, die an Bildschirmen hingen und in Edgar sehr unangenehme Erinnerungen an EKG-Geräte weckten.
Blum schaufelte weitere Kabel vom Schreibtisch, sogar dabei wirkte er elegant. Ob er nicht nur Schauspieler, sondern auch Tänzer war?
Edgar wurde ein wenig warm, er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal einen so hinreißenden Mann gesehen hatte. Aus den Augenwinkeln bemerkte Edgar, dass Toni ihn beobachtete.
„Bitte nehmen Sie Platz.“
Der Plastikstuhl ächzte beschämend unter Edgars Gewicht, während der unter Toni keinen Mucks machte. Er versuchte, es durch ein Räuspern zu überspielen, und sagte: „Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit haben.“
Vincent Blum wurde ernst, sein Lächeln erlosch. Er nickte. Bisher hatte er seinen Gemütszustand perfekt verborgen, doch nun sah man ihm an, wie gestresst er war. Sogar das tat seinem Aussehen keinen Abbruch. Woher kamen nur diese Gedanken? Das war ja lächerlich, ermahnte sich Edgar.
„Ich wurde engagiert, um herauszufinden, was sich in der Nacht der Party zugetragen hat“, begann Edgar bemüht sachlich.
„Ich war es nicht. Wirklich“, schoss Blum hervor, seine großen Augen weiteten sich noch mehr und wurden glasig. „Das ist alles ein riesiges Missverständnis. Ich kannte diesen Sascha Schwarz ja noch nicht mal. Ich war doch nur dort, weil ich Steiner meine Unterlagen unterjubeln wollte.“
Das Telefon auf dem Schreibtisch läutete, Blum hob ab. „Ja, natürlich, mache ich sofort“, sagte er knapp, wischte sich über die Augen und legte auf. „Es tut mir leid, aber Sie müssen bitte auf das Laufband“, sagte er zu Edgar.
Edgar zuckte zusammen. „Wie bitte?“
„Die Computer hier sind miteinander vernetzt, es gibt strikte Vorgaben bei neuen Interessenten. Die Daten des Fitnesstests werden an die Rezeption geschickt. Wenn Sie gehen, bekommen Sie ein maßgeschneidertes Angebot, passend zu Ihrem Fitnesslevel.“
Das fehlte ihm gerade noch, er wollte schon sagen, dass er das nicht konnte, da sprang Toni für ihn ein.
„Ich mache das“, sagte sie.
„Wirklich?“, fragte Blum.
„Ja, wirklich.“
Edgar nickte ihr dankbar zu, sie lächelte zurück und senkte den Blick. Ob sie bemerkt hatte, dass ihn Vincent Blum ein wenig aus der Fassung brachte? Kurt war es jedes Mal aufgefallen, aber sie hatten sich auch schon jahrelang gekannt. Während Blum Toni verdrahtete, setzte Edgar seine Befragung fort.
„Das heißt, Sie haben sich auf der Party eingeschlichen, um …“, begann Edgar und holte seinen Notizblock aus der Brusttasche des Sakkos.
„Nein, das ist nicht wahr“, protestierte Blum. „Stefan Leitner, dem das Catering gehört, er fragt mich manchmal, ob ich für ihn arbeite. Also ohne Anmeldung. Ich hab das schon oft gemacht. Er hat immer viele Leute, die er so einsetzt.“
Das erklärte vielleicht, warum Edgar den Cateringbetreiber nicht erreichen konnte. Blum setzte Saugnäpfe auf Tonis Brustkorb und legte ihr eine Blutdruckmanschette an.
„Okay, zuerst nur gehen, ich steigere das Tempo“, sagte er und startete das Laufband.
„Woher kennen Sie Herrn Leitner?“, fragte Edgar.
„Ich bin sein Trainer, er nimmt alle zwei Wochen eine Stunde bei mir. Hat sie genommen.“
„Verstehe. Und wo ist er jetzt?“
„Wenn ich das wüsste. Er ist wie vom Erdboden verschwunden.“
„Gut, Sie waren also auf der Party. War es von Anfang an Ihr Plan, sich bei Herrn Steiner vorzustellen?“
„Es hat sich gut ergeben. Er hatte doch diese Umbesetzung. Meine Agentur hat mich dafür vorgeschlagen …“
„Was bedeutet umbesetzt?“
„Na, diese Serie, die Steiner gerade dreht – er hat eine Rolle neu besetzt. Warum, weiß ich nicht. Die Agentur hat meine Unterlagen an die Produktionsfirma geschickt, aber keine Antwort bekommen. Hätten die sich vorher erkundigt, dass die Serie in der Nazi-Zeit spielt …“ Er rollte mit den Augen. „Aber das wusste ich bei der Party nicht. Darum dachte ich mir, wenn ich schon dort bin und ihn persönlich treffe, dann gebe ich ihm in einem günstigen Moment mein Demoband.“
Blum schluckte, schüttelte den Kopf, während das Laufband an Geschwindigkeit zulegte. Für Toni schien es kein Problem zu sein, soweit Edgar das sagen konnte, geriet sie kaum außer Atem. Wäre er auf dem Laufband, hätten sie wahrscheinlich jetzt schon die Rettung rufen müssen.
„Was ist dann passiert?“, fragte er.
„Steiner hat die DVD einfach in den Pool geworfen.“ Blum klang verletzt, er senkte den Blick. „Und gesagt, wenn ich nicht als Barkeeper da bin, dann sollen ich und meine Micky-Maus-Stimme gefälligst verschwinden.“
Edgar spürte einen Stich in seiner Brust, aber dieses Mal konnte er nicht sagen, ob es sein Herz oder die reine Entrüstung über Steiners Verhalten war. Ein Ausdruck von Dankbarkeit huschte über Blums Gesicht, er schien Edgars Reaktion zu bemerken und hob die Hände.
„Vielleicht sollte das ein Witz sein, er war schon ein bisschen betrunken. Aber es hat mich getroffen.“
„Das ist verständlich. Haben Sie davon bei Ihrer Befragung erzählt?“
„Natürlich. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass es jemanden interessiert.“
„Was haben Sie dann gemacht?“
„Ich bin abgehauen mit einem Karton Champagner.“
Edgar nickte, das konnte man Blum nicht verübeln. „Und haben Sie zu irgendeinem Zeitpunkt Sascha Schwarz gesehen?“
„Ja, den ganzen Abend. Also, ich wusste seinen Namen nicht, es war viel zu tun, und wir haben auch nicht miteinander gesprochen. Aber es springen ja ständig Leute für das Catering ein.“
„Ist Ihnen irgendwas bei ihm aufgefallen?“
„Nicht wirklich. Er war ein wenig überfordert. Aber das war ich am Anfang auch. Und da war ein Mädchen, mit dem hat er sich unterhalten. Genau. Sie war ziemlich schlecht drauf, vielleicht dreizehn oder vierzehn. Kann sein, dass sie Steiners Tochter war, vorher hab ich die beiden zusammen gesehen.“
„Hatten Sie den Eindruck, Schwarz und das Mädchen haben sich gekannt?“
„Schwer zu sagen. Sie hat ihm irgendwas zu lesen gegeben, wie ein Schulheft. Kann also sein.“
„Ich verstehe. Gut, sie hatten dann diese Auseinandersetzung mit Steiner und sind gegangen. Warum sind Sie wiedergekommen?“
Blum verdrehte die Augen und schaltete das Laufband noch schneller. „Es war völlig idiotisch. Ich weiß auch nicht, ich wollte es Steiner heimzahlen.“
„Oh“, kam es von Toni, die die höhere Geschwindigkeit locker meisterte.
„Nein, nein. Nichts Schlimmes“, winkte Blum ab, „nur in den Pool pinkeln oder seine Blumen ausreißen. Aber ich hab es nicht gemacht.“
„Sie sind also hingegangen, haben es sich anders überlegt und sind wieder weg. Wie viel Zeit lag dazwischen, doch höchstens ein paar Minuten, zwei, drei?“
„Zehn“, sagte Vincent Blum zerknirscht.
„Zehn? Aber wieso, ich dachte …“
Blum vergrub sein Gesicht in den Händen. „Ich bin draußen stehen geblieben, ich war so wütend … aber dann musste ich an diese Geschichte von Jim Carrey denken.“
„Wer ist das? Welche Geschichte?“
„Jim Carrey, der Schauspieler. Hollywood. Als er total abgebrannt war, ist er auf die Hügel von Los Angeles gefahren und hat sich ein Versprechen gegeben, dass er es schaffen wird. Das hab ich auch gemacht. Ich bin draußen vor der Villa gestanden und hab geschworen, dass ich es dem Idioten zeigen werde und er mich in ein paar Jahren darum anflehen wird, mich engagieren zu dürfen. Und dann bin ich einfach wieder abgezogen.“
Edgar tat rasch so, als würde er sich Notizen machen, damit nicht auffiel, wie rührend er diese Geschichte fand. „Alleine?“, fragte er.
„Ja, alleine. Die Polizei meint, ich hab Steiner auf der Terrasse gesehen und dieses Ding abgeschraubt, damit es aussieht, als wäre es ein Unfall.“
„Aber wie kommen die darauf?“, fragte Toni. „Ich meine, da müssten doch Fingerabdrücke von Ihnen sein.“
Blums Gesichtsausdruck verriet Edgar die Antwort.
„Stefan hat mich und zwei andere hochgeschickt vor der Party. Wir sollten alle Geräte überprüfen. Das könnte er bezeugen, wenn er sich nicht verstecken würde. Und anscheinend hab ausgerechnet ich dieses Ventilatordings überprüft, von dem der Mann erschlagen wurde.“
Das waren dramatisch schlechte Neuigkeiten. Unter dem Aspekt war es eigentlich ein Wunder, dass Vincent Blum noch auf freiem Fuß war.
„Bitte, glauben Sie mir, ich war es nicht“, sagte er eindringlich zu Edgar. „Ich bin doch danach nicht mal auf das Grundstück gegan–“ Das Telefon auf dem Tisch läutete erneut. Blum hob ab und zuckte zusammen. „Was? Aber … gut, danke, Jolanda.“ Er legte auf und stoppte das Laufband. „Scheiße, die Polizei ist da. Sie wollen mich wieder holen.“
Toni Lorenz riss sich die Saugnäpfe herunter, während Edgar sich aus dem Sessel hievte.
„Die Polizei darf uns nicht sehen“, sagte er hastig.
Vincent Blum nickte und führte sie aus dem Raum zu einer anderen Treppe, als sie gekommen waren.
„Das ist eine Abkürzung, unten zwei Mal links, dann kommen Sie direkt zur Rezeption.“
„Danke. Und, Herr Blum“, Edgar reichte ihm zum Abschied die Hand, „ich tue alles, was in meiner Macht steht.“
Zu seiner Verwunderung hielt Blum sie länger fest, als in dem Augenblick angebracht war.
„Danke, ich danke Ihnen vielmals, Herr Brehm.“
Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber da hörten sie schon das Stimmengewirr aus der anderen Richtung. Sie beeilten sich, die Empfangsdame beim Ausgang empfing sie mit einem Lächeln, das zum Unterschied zu vorhin tatsächlich echt wirkte.
„Herr Brehm, die Ergebnisse Ihres Fitnesstests sind außergewöhnlich. Das sieht man Ihnen gar nicht an“, sagte sie anerkennend.