Toni war erstaunt, wie friedlich die Welt kurz vor halb sieben Uhr an diesem Morgen war. Kaum Autos auf den Straßen, keine Menschen, sogar Vogelgezwitscher aus den Innenhöfen der umliegenden Häuser konnte sie hören.
Vom schlechten Wetter gestern waren nur ein paar Pfützen geblieben. Der Himmel leuchtete in sattem Hellblau, und man konnte förmlich riechen, dass heute ein schöner, sonniger Tag werden würde.
Brehm verspätete sich offenbar, er war noch nicht da. Sie selbst war bereits um fünf Uhr aufgestanden, um sich erneut in Viennawolf zu verwandeln. Sie rückte die Brille zurecht.
Ihre Verkühlung von gestern war wie weggeblasen. Dank der Erkältungsmedizin, mithilfe derer sie in einen tiefen und traumlosen Schlaf gefallen war? Oder durch den Schock von Felix’ Auftauchen? Sie konnte es nicht sagen.
Felix. Ihr wurde schwer ums Herz, und sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Nein, jetzt nicht daran denken. Sonst wäre es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei, und sie würde wieder anfangen zu weinen. Sie musste sich konzentrieren, schon beim Schminken hatte sie drei Anläufe nehmen müssen, weil ihr vor lauter Heulen jedes Mal der Lidstrich verlaufen war. Sie presste die Lippen zusammen und streckte den Brustkorb durch. Es war die richtige Entscheidung gewesen, ihn fortzuschicken. Auch wenn ihr Herz und ihr Verstand gegenteiliger Meinung waren. Die Sehnsucht nach ihm hatte sich angefühlt wie Nadelstiche.
„Ich brauch ein paar Tage Zeit, Felix. Bitte. Dann reden wir“, hatte sie gesagt.
An seinen glanzlosen Augen erkannte sie, dass dies nicht die Antwort war, die er hören wollte. Es war ja nicht mal die Antwort, die sie ihm geben wollte. Hatte sie die falsche Entscheidung getroffen? Ihr kamen wieder die Tränen.
Eine aufrechte Haltung sollte auch auf den Gemütszustand wirken, hieß es im Körpertraining immer. Beide Füße fest auf dem Boden, Schultern zurück, Kopf hoch.
Es war gut, dass sie gleich mit Brehm reden konnte. Mit dem Verlust des Geldes hatte er vollkommen recht gehabt. Aber es gab auch eine gute Nachricht, sofern man das in dem Zusammenhang überhaupt sagen konnte: Milos Kubra hatte Felix alles abgenommen. Auch den Schmuck ihrer Großmutter. Genau der Milos Kubra, mit dem Brehm bereits Kontakt aufgenommen hatte. Es bestand also die Chance, wenigstens den Schmuck zurückzubekommen.
Ein Auto kam um die Ecke, doch es war schon wieder nicht Brehm. Wo blieb er denn bloß?
Toni rief ihn an, es läutete und läutete, bis endlich die Mobilbox ansprang. Saß er gerade im Auto und konnte nicht abheben? Oder hatte er etwa verschlafen? Sie musste an die Flasche Wein denken, die er mitgenommen hatte. Auch beim zweiten Versuch ging er nicht ran. Toni hinterließ eine Nachricht, dass sie noch fünf Minuten warten und dann wegfahren würde.
Brehm kam nicht. So ein Mist, wenn sie jetzt die U-Bahn nahm, würde sie zu spät kommen. Die zehn Euro in ihrer Tasche waren ihr letztes Geld, und sie wusste, dass es für die Fahrt in den Kurpark Oberlaa nicht reichen würde. Trotzdem lief sie nach den verstrichenen Minuten zum nächsten Standplatz, um wenigstens die Anfahrt zu sparen. Sie bat den Fahrer, sich zu beeilen und behielt das Taxameter genau im Blick. Als die zehn Euro erreicht waren, bat sie den Fahrer, aussteigen zu dürfen. Er drehte sich verwundert zu ihr. Als sie ihm den Grund nannte, wirkte er ärgerlich. Trotzdem fuhr er einfach weiter und brachte sie direkt zum Filmset. Beim Aussteigen entschuldigte sie sich mehrmals, dankte ihm und fragte nach seiner Adresse, um ihm die fehlenden fünf Euro plus Trinkgeld nachträglich zuschicken zu können. Doch er verzog nur grantig das Gesicht, winkte murmelnd ab und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Eine letzte Nachricht hinterließ sie noch auf Brehms Mobilbox, dann begann ihr Einsatz. Showtime!
Obwohl es noch so früh war, hatten schon ein paar Zaungäste Stellung bezogen. Sie nahmen kurz Notiz von ihr, wendeten aber ihre Blicke gleich wieder desinteressiert ab.
Beim abgesperrten Parkeingang grüßte sie der Securitymann von gestern: „Ah, hallo. Auch wieder da.“
„Guten Morgen. Auf wen warten denn diese Leute?“
„Die Autogrammjäger?“ Er stieß einen Pfiff aus. „Auf jeden, den sie aus dem Fernsehen oder der Zeitung kennen.“ Mit einem mitleidigen Blick nickte er ihr zu. „Keine Sorge, für dich werden sie sich auch mal anstellen. Die wollen ein Selfie oder haben so Hefte und Fotos mit, in die die Schauspieler und der Regisseur reinschreiben sollen.“
Toni holte ihr Handy aus der Hosentasche und versuchte so unauffällig wie möglich, ein paar Fotos der Wartenden zu machen. Man konnte ja nie wissen.
Neben dem Gehweg reihte sich zwischen den Bäumen ein Lkw an den anderen, danach standen die Wohnwägen wie aufgefädelt da. Vom eigentlichen Set war nichts zu sehen. Weder von der gestrigen Ruhe noch von der frühen Uhrzeit war etwas zu bemerken. Es herrschte eine ambitionierte Energie, überall liefen Menschen herum. Manche in Kostümen aus den Vierzigerjahren, andere sprachen geschäftig Anweisungen in ihre Headsets, Kulissen und Lampen wurden von A nach B geschleppt. Niemand beachtete Toni. Sie bemühte sich, ihre Nervosität durch eine lockere Haltung und einen gelangweilten Blick zu überspielen. Aus der Entfernung rief eine schrille Frauenstimme nach einer „Mascha“. Erst beim dritten Mal fiel Toni ein, dass sie gestern diesen Namen genannt hatte. Schlagartig wurde ihr heiß. Sie musste sich konzentrieren.
„Das bin ich“, antwortete sie laut und hob die Hand.
Eine schlaksige junge Frau mit Stoppelglatze kam auf sie zu. Sie nickte nicht besonders freundlich und brachte Toni wortlos zu Paul Herz. Steiners Assistent saß unter einem Zeltbaldachin an einer Art Campingtisch vor einem Monitor. Er sah ausgedruckte Tabellen auf seinem Schoß durch und machte sich Notizen. Wie gestern trug er ein weißes Kurzarmhemd, doch die Krawatte war eine andere. Ganz selbstverständlich stand er auf und küsste Toni zur Begrüßung auf die Wangen, als wären sie alte Freunde.
„Willkommen im Tollhaus.“ Er lachte und senkte verschwörerisch seine Stimme. „Heute siehst du mal, wie es wirklich auf einem Set zugeht. Ich hoffe, du hast eine Zwangsjacke dabei.“ Wieder ein Lachen. Toni lachte aus Höflichkeit mit. „Also, wir drehen heute weiter oben im Park. Zwei Szenen, zuerst am Teich und dann auf einer Anhöhe. Und wunder dich nicht, es sind zwei Szenen aus unterschiedlichen Abschnitten des Films, eine zu Beginn, eine im mittleren Teil. Das Areal hier ist weitläufiger, du bleibst bitte einfach in meiner Nähe. Dann kann ich aufpassen, dass du nicht plötzlich ins Bild läufst. Kaffee?“
„Liebend gern, danke.“
„Wunderbar. In ungefähr zwei Stunden geht es los. Und du, meine Liebe, bist in der luxuriösen Situation, dich einfach entspannen zu dürfen. Hier.“ Er deutete auf einen freien Stuhl etwas abseits. „Der Kaffee kommt gleich, ich gehe nur noch meine Unterlagen durch, und dann mache ich mit dir einen Rundgang. Dabei kannst du deine Fotos schießen. Passt das?“ Toni wollte antworten, da hob er den Zeigefinger und deutete auf seinen In-Ear-Kopfhörer, der ihr nicht aufgefallen war. „Ja? In Ordnung, bin gleich da.“ Er legte eine Hand auf ihren Unterarm. „Das war Alexander, entschuldige“, sagte er und war auch schon weg.
Wenig später wurde Toni von einem hektischen jungen Mann ein Becher mit lauwarmem Kaffee in die Hand gedrückt. Sie nahm Platz und machte mit ihrem Handy ein paar Fotos des Treibens. Unauffällig blätterte sie durch die Unterlagen, in denen Paul Herz gerade gelesen hatte. Es schien sich um das Drehbuch der heutigen Szenen zu handeln. So schnell wie möglich fotografierte sie ein paar Seiten.
Auf dem Monitor, der das Ufer des Teichs zeigte, tauchte Alexander Steiner auf. Er sprach gerade mit einigen Männern, deutete in alle möglichen Richtungen. Steiner nickte, lachte. Er klopfte jemandem auf die Schulter. Neben ihm erschien jetzt Paul Herz, der jemandem wie ein Fluglotse Zeichen gab. Steiner und Herz waren augenscheinlich ein eingespieltes Team.
„Guten Morgen, Mascha.“
Toni zuckte zusammen und drehte sich um. Hinter ihr stand Anna Ferry, heute in ausgesprochen legerer Kleidung, ungeschminkt, mit offenen Haaren und einem Smoothie in der Hand, ein hinreißendes Lächeln im Gesicht.
„Ich bin auf der Suche nach Paul, hast du ihn gesehen? Ich wollte ihn fragen, wann sie zu drehen beginnen.“
„Guten Morgen und ja.“ Erst als Toni auf den Monitor deutete, merkte sie, dass keiner mehr zu sehen war. „Oh, gerade war er noch da.“
„Na, dann wird er sicher gleich kommen.“
Ein Moment peinlicher Stille entstand, in dem Toni überlegte, wie sie das Gespräch am unauffälligsten auf die Umbesetzung und Steiner lenken konnte.
„Warst du schon auf anderen Filmsets?“, fragte Ferry und zog an ihrem Strohhalm.
„Bitte?“
„Na, für deine Fotos? Paul hat mir gestern noch was davon gezeigt, wirklich beeindruckend. Du bist ein großes Talent.“
„Vielen Dank.“ Toni spürte, wie ihre Wangen glühten. „Das hier ist mein erstes. Filmset, meine ich.“
Einen kurzen Moment überlegte sie, Ferry gleich auf die Umbesetzung anzusprechen. Aber das war wahrscheinlich zu auffällig.
„Geht es bei Dreharbeiten eigentlich immer so zu?“, fragte sie stattdessen und kam sich dabei lächerlich vor. Aber Ferry schien die Frage zu amüsieren.
„Wie geht es denn bei uns zu?“ Sie lächelte verschmitzt.
„Hektisch. Und trotzdem irgendwie …“
Toni suchte nach dem richtigen Wort, um die wohlgeordnete Organisiertheit auszudrücken, da half ihr Anna Ferry: „… harmonisch?“
Toni nickte.
„Ja, das denke ich mir auch immer“, sagte Ferry. „So eine gute Stimmung auf einem Set gibt es nicht oft. Jeder hier hat seinen Platz, seine Wichtigkeit, und trotzdem ist Alexander der unangefochtene Kapitän. Ich weiß auch nicht, wie er das macht. Wie bist du eigentlich auf ihn gekommen? Kennt ihr euch?“
„Nein. Ehrlich gesagt bin ich durch einen Bericht über den Unfall bei der Gartenparty auf ihn gestoßen.“
Anna Ferry zuckte ein wenig zurück und hob die Augenbrauen.
„Ich meine, ich bin nicht wegen der Schlagzeilen hier“, sagte Toni rasch. „Aber so habe ich von den Dreharbeiten erfahren. Social Media sind großartig, aber manchmal ist es einfach ein bisschen anstrengend, sich immer neuen Content zu suchen.“ Das hatte sie sich eigentlich für Paul Herz zurechtgelegt, falls er sie fragen sollte.
„Ach so, ja, verstehe.“ Ferry strich sich eine Strähne hinters Ohr und lächelte, aber es wirkte auf Toni nicht mehr so unbekümmert wie vorhin.
„Es war auf jeden Fall ein riesengroßes Glück im Unglück“, plapperte Toni weiter. „Wenn man bedenkt, dieses Ding, das ihn erschlagen hat, hätte vorher runterfallen und viel mehr Leute treffen können. Ach, ich wäre auch gerne dabei gewesen. Nicht wegen dem Unglück, ich meine …“ Sie fing an, Unsinn zu reden, und lenkte schnell ein. „Sind die Partys bei den Steiners eigentlich immer so große Events?“ Toni nippte unschuldig an dem Kaffee, der wieder so grauenhaft schmeckte wie am Vortag.
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, ich war zum ersten Mal dort.“
„Wirklich? Aber ihr arbeitet doch so oft zusammen.“
„Vorher ist es sich wegen der Dreharbeiten nie ausgegangen.“ Es klang, als würde sie sich verteidigen.
„Oh, verstehe. Das ist aber auch ein Pech. Und dann gleich so ein Unglück.“
Anna Ferry nickte und sah auf den Boden. „Ja, es ist furchtbar. Der arme Mann. So jung.“
„Ach so? Darüber stand nichts, wie alt war er denn?“
„Mitte dreißig vielleicht.“
„Schrecklich. Er war gar kein Kellner, nicht wahr?“
Ferry sah wieder hoch. „Angeblich nicht. Und es war ihm ja auch anzusehen, dass er das nicht sehr oft gemacht hat.“
Toni bemühte sich, unbekümmert zu wirken, obwohl sie immer angespannter wurde. Jetzt durfte sie bloß keinen Fehler machen.
„Inwieweit?“
„Ich hab gedacht, jeden Moment fällt ihm das Tablett mit den Sektgläsern aus der Hand.“
„Oh.“ Toni nippte am Kaffee, um ihre Aufregung zu überspielen. „Stand nicht auch irgendwo, er war nur auf der Party, weil er von einer Umbesetzung bei diesem Dreh hier gehört hat?“, überlegte sie und hoffte, dass Anna Ferry darauf einstieg – obwohl es natürlich nicht stimmte. Toni verwendete einfach Blums Geschichte.
„Wirklich? Wegen der Umbesetzung?“, fragte Anna Ferry. Sie sah richtig überrascht aus.
Gerade als Toni darauf eingehen wollte, sah sie aus dem Augenwinkel Paul Herz auf sie zugelaufen kommen. Auch Ferry bemerkte ihn.
„Anna“, rief er von Weitem. „Gott sei Dank, Anna, du bist schon da.“ Er warf die Arme in die Höhe. „Ich dachte, du kommst erst später.“ Er war außer Atem, als er bei ihnen ankam. „Anna, wir müssen eine Stellprobe mit dir machen. Jetzt gleich.“
Ferry schob den Kopf vor, sie war sichtlich erstaunt. „Wirklich? Mit mir?“
„Ja“, er nickte eifrig und fing an zu lächeln, als wäre das eine gute Nachricht. „Wir werden einige Szenen erst später drehen und ziehen dafür andere vor.“
Irgendwas an seinem Blick war irritierend. Das Lächeln nicht echt. Zu bemüht. Ein bisschen wie bei der Schmitz, wenn sie ihren Ärger verstecken wollte.
„Na gut“, sagte Ferry und zuckte mit den Achseln. „Dann eben eine Stellprobe. Mit mir alleine?“
„Natürlich, mein Schatz.“ Er drehte sich zu Toni. „Und du kannst gleich mitkommen, Mascha.“ Sein Tonfall Toni gegenüber hatte sich auch geändert, von Freundlichkeit kaum mehr eine Spur.
Ferry folgte Herz, Toni kam hinterher. Immer wieder drehte er sich um, als wollte er sich vergewissern, dass sie noch da war. Was war denn los mit ihm? Hatte sie irgendwas falsch gemacht? War er verärgert, weil sie sich mit Ferry unterhalten hatte? Aber warum? Da sah sie wieder seinen In-Ear-Kopfhörer. Hatte er damit ihre Unterhaltung mit Ferry belauscht? Durch den Monitor, vor dem sie gestanden hatten? War er deshalb genau in dem Moment aufgetaucht, als sie die Umbesetzung angesprochen hatte, und verhielt sich nun so anders? Oder war das alles nur Einbildung, und er war einfach gestresst?
Sie kamen bei dem Teich an, rundherum standen jede Menge Menschen zwischen Scheinwerfern und Kameras. Herz kommandierte Toni neben einen der Scheinwerfer ganz in der Nähe. Obwohl er immer wieder in ihre Richtung lächelte, während er Ferry zeigte, wo sich ihre Bodenmarkierungen befanden, hatte Toni das Gefühl, er wolle sie nicht aus den Augen lassen. Ob er Verdacht schöpfte? Ihr wurde heiß. Vielleicht kannte hier ja jemand die oder den echten Viennawolf? Oder war sie zu ängstlich und er nur ein getreuer Mitarbeiter, der darauf bedacht war, interne Angelegenheiten vom Set nicht nach draußen dringen zu lassen? Schließlich hing seine gesamte Karriere an Steiner. Daran hatte sie bis jetzt gar nicht gedacht. Was würde er alles tun, um Steiner zu schützen? Wieso hätte er in dem Fall Viennawolf überhaupt aufs Set gelassen? Das ergab keinen Sinn. Oder doch? Weil gerade ein perfekter Social-Media-Auftritt in dieser schwierigen Zeit Steiners angekratztes Image aufpolieren könnte?
Toni nahm unauffällig ihr Handy aus der Jacke – noch immer kein Anruf von Brehm. Dafür zwei verpasste von einer unbekannten Nummer. Sie steckte das Telefon ein und versuchte, so interessiert wie möglich zu wirken.
Die zunehmende Ungeduld von Anna Ferry war hingegen bald nicht mehr zu übersehen. Immer wieder sah sie auf ihre Armbanduhr. Durch den Filmunterricht in der Schauspielschule wusste Toni, dass Stellproben sagenhaft langweilig waren. Normalerweise wurden deshalb auch nie die Schauspieler selbst, sondern Doubles oder Komparsen dafür eingesetzt. Stundenlanges In-der-Gegend-Herumstehen, von Markierung A zu Markierung B gehen, dabei die rechte oder die linke Gesichtshälfte zur Kamera drehen, während einfach nur überprüft wurde, ob die geplanten Einstellungen den gewünschten Effekt hatten.
Ferry folgte den Anweisungen von Paul Herz, doch Tonis unbestimmtes Gefühl, dass hier etwas Seltsames vor sich ging, wuchs mit jedem Augenblick. Hatte Steiners Assistent diese Stellprobe nur eingefädelt, um sie unauffällig voneinander zu trennen? Aber würde er so etwas wirklich tun? Und wo war eigentlich Steiner?
Anna Ferrys Aufmerksamkeit schien abgelenkt worden zu sein, denn sie reagierte nicht mehr auf die Zurufe von Paul Herz, sondern sah an Toni vorbei in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Toni drehte sich um, ein paar Meter von ihr entfernt stand Hermann Thiel.
Der Schauspieler hatte aufgrund seiner Statur etwas Gladiatorenhaftes. Mit der schiefen Nase, den schmalen Lippen und den Schlupflidern entsprach er nicht der gängigen Schönheitsnorm. Dennoch verliehen ihm seine Ausstrahlung und die Art, wie er sich bewegte, eine faszinierende Attraktivität. Thiel steuerte direkt auf Ferry zu, die hilfesuchend zu Paul Herz sah. Doch der hatte ihr den Rücken zugedreht. Die Frau mit Stoppelglatze, die Toni zu ihm gebracht hatte, zeigte ihm etwas auf dem Handy, das ihn augenscheinlich beunruhigte.
Thiel sprach unterdessen so leise mit Ferry, dass Toni kein Wort verstand. Die Schauspielerin schüttelte energisch den Kopf, er fasste nach ihrer Hand, doch sie entwand sich sofort seinem Griff.
„Du hast mich verraten“, zischte Ferry laut genug, dass Toni es hörte.
War das der Text aus dem Drehbuch, oder meinte sie das ernst? Er erwiderte etwas.
„Nein, es gibt keinen Weg“, sagte sie, „und es wird nie mehr einen Weg für uns geben.“
Thiel redete weiter energisch auf sie ein, doch Ferry trat einen Schritt zurück und sah ihn wütend an, während sie rief: „Paul, ich mache fünf Minuten Pause.“
„Du kannst jetzt nicht einfach wegrenn–“, begann Thiel.
„Sehr fein, willst du mir vielleicht verbieten, aufs Klo zu gehen?“, zischte sie ihn an.
Toni schaute ihr nach, gleichzeitig beschämt und voller Bewunderung. Am liebsten wäre sie ihr sofort gefolgt, doch Herz hatte sein Gespräch beendet und hatte sie erneut im Blick. Er hatte sein Handy in der Hand, sah darauf und dann wieder zu Toni. Und die Art, wie er das tat, verhieß nichts Gutes. Eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Ärger und – war das Angst? Toni wurde mulmig, sie lächelte ihm unbekümmert zu, so als wäre nichts. Er lächelte nicht zurück.
Zum Glück schritt Thiel wütend auf Herz zu, verstellte ihm den Weg und stemmte die Hände in die Hüften. Während er immer wieder den Kopf schüttelte, sagte er etwas, das auf die Entfernung klang wie: „… können so nicht arbeiten … Wahnsinn …“
Thiel verdeckte Toni. Sie nutzte den kurzen Augenblick und eilte in die Richtung, in die Ferry verschwunden war. Zuerst versuchte sie es bei Ferrys Wohnwagen, doch er war verschlossen. Auch bei dem Monitor war sie nicht. Von einem Techniker erfuhr sie, wo die Toiletten waren.
Als Toni die Treppen zum Sanitärwagen raufging, hatte sie wenig Hoffnung, tatsächlich auf die Schauspielerin zu treffen. Beim Öffnen der Tür stieg ihr Chlorgeruch in die Nase. Und dort stand Anna Ferry: Vor einem der Waschbecken wischte sie sich mit einem Papierhandtuch über die verweinten Augen. Sie registrierte Toni im Spiegel. Der Immobilienteil der Zeitung gestern, ihre Reaktion bei Thiels Erscheinen heute – beweinte Ferry da gerade eine gescheiterte Liebe?
„Oh, entschuldige, ich wusste nicht …“, begann Toni und stoppte.
Was sollte sie sagen? Dass du geweint hast? Dass du am Klo bist, so wie du es gesagt hast? Ihr blieb sicher nicht mehr viel Zeit, um herauszufinden, wer die Umbesetzung war und wie es um Steiner stand. Doch sie kam nicht weiter, jemand klopfte von draußen an die Tür.
„Anna, bist du da drin?“, rief Thiel.
„Bitte nicht“, flüsterte Anna Ferry noch immer mit dem Rücken zu Toni und gerade noch hörbar.
Die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Thiel sah besorgt aus. Bei Tonis Anblick entschuldigte er sich vielmals. „Bist du Mascha? Paul sucht dich.“
„Wirklich? Ah, okay.“ Toni versuchte, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, doch das war gar nicht nötig.
„Anna, können wir bitte reden?“, bat Thiel.
„Ich wüsste nicht, worüber noch“, blaffte Ferry, ohne sich vom Waschbecken wegzubewegen.
Toni konnte nicht hierbleiben. Herz würde sie entdecken. Mit einem Kopfnicken in Ferrys Richtung verließ sie die Toilette. Das alles steuerte auf eine Katastrophe zu. Denn was auch immer mit Paul Herz los war, sie musste damit rechnen, aufgeflogen zu sein. Zurück zum Set konnte sie nicht. Sich hier irgendwo zu verstecken und auf Ferry zu warten, hatte auch keinen Sinn. Sie sah sich um. Es blieb ihr nur noch eine Möglichkeit: die Unterlagen in Steiners Wohnwagen. Vielleicht konnte sie da noch etwas finden.
In der Hoffnung, dass der Regisseur sich irgendwo am Set befand, lief Toni zum Eingang und klopfte bei dem größten Wohnwagen mit den grünen Vorhängen an die Tür.
Sie hielt den Atem an und flehte, dass Steiner nicht da und die Tür unverschlossen war.
Ohne auf Antwort zu warten, öffnete sie. Er hatte tatsächlich nicht zugesperrt. Und der Wohnwagen war leer. Sie schlüpfte hinein, mit jagendem Puls. Ohne zu lesen, was auf den ganzen Papieren, die an den Wänden hingen, stand, fing sie an, sie zu fotografieren. Der Laptop war ausgeschaltet, aber da lagen weitere Computerausdrucke auf dem Schreibtisch. Sie fotografierte, obwohl das alles nur technische Details zu enthalten schien. Bei jedem Geräusch von draußen erstarrte sie und hielt die Luft an. Einmal hatte sie sogar den Eindruck, in der Entfernung Herz zu hören, der nach Mascha rief. Trotzdem machte sie weiter. Sie öffnete die einzige Lade des Schreibtischs. Da war ein angebissener Nussini-Riegel. Darunter lag ein roter Schnellhefter.
Toni nahm ihn heraus und klappte ihn auf. Das war sie. Die Besetzungsliste. Ein Name war durchgestrichen und ein anderer danebengeschrieben worden. Die Umbesetzung. Toni machte ein Foto. Und genau in dem Moment ging die Tür auf.
„Leg. Das. Sofort. Weg.“
Paul Herz stand in der geöffneten Wohnwagentür. Er starrte Toni wütend an, die Muskeln an seinem Hals waren gespannt wie Seile.
„Du sollst das weglegen, hab ich gesagt.“
Erst jetzt registrierte Toni, dass sie den Hefter mit der Besetzungsliste noch immer in der Hand hielt. „Entschuldige, ich wollte nur –“, begann sie, doch er fiel ihr ins Wort.
„Erspar mir deine Lügen. Wer bist du wirklich?“
„Wie bitte?“
Sie hatte die Frage sehr wohl verstanden, doch sie brauchte Zeit. Und vor allem eine gute Ausrede, mit der er sie gehen lassen würde.
„Zeig mir dein Handy“, befahl er.
„Ich … verstehe nicht.“
„Aha, du verstehst nicht. Na, dann werde ich dir mal auf die Sprünge helfen. Du bist nicht Viennawolf.“ Er zielte mit dem Zeigefinger auf sie, als wäre er eine Pistole. „Es sei denn, du bist ein sechzigjähriger Brite, der in Wien lebt und Freddy Wolf heißt.“
„Was ist denn hier los?“
Alexander Steiner war hinter Herz aufgetaucht.
Herz drehte sich um. Er wischte sich über die Stirn, räusperte sich. „Es tut mir furchtbar leid, Alexander. Es ist alles meine Schuld. Ich hätte sie überprüfen sollen, aber ich dachte nicht …“
„Wovon redest du, Paul?“
„Janka.“ Herz schnappte nach Luft. „Eine von den Produktionsassistentinnen – die mit den kurzen Haaren. Ich hab ihr nicht geglaubt, ich dachte, sie will sich wichtigmachen. Aber sie hat gesagt, die da wäre nicht Viennawolf, und sie würde den echten kennen. Als Beweis hat sie mir vorhin Fotos von ihm gezeigt. Und dieses Mädchen hier ist es nicht. Ich hab sie gerade in deinem Wohnwagen entdeckt und –“
„Und wer ist sie dann?“, fuhr Steiner so laut dazwischen, dass Toni zusammenzuckte. Seine Frage klang wie eine Drohung.
Paul Herz kam einen Schritt auf Toni zu. „Das wüsste ich auch gern.“