24

Edgar stellte sich schlafend, um dieser grauenhaften Krankenschwester zu entgehen, die seit heute Morgen unbedingt einen Einlauf bei ihm machen wollte. Sie hatte eine furchteinflößende Statur, und sein greisenhafter Bettnachbar hatte ihn bereits vor ihr gewarnt. „Sagen Sie – um Himmels willen! –, Ihre Verdauung ist in bester Ordnung.“

Er hatte seinen Rat befolgt, doch die Krankenschwester hatte das Gespräch der Zimmernachbarn mitangehört und Brehm daraufhin einen Vortrag über Darmgesundheit als Voraussetzung für einen funktionierenden Kreislauf gehalten. Mehr noch: Sie hatte seine Lüge persönlich genommen und war nun beleidigt, was sie ihn unmissverständlich spüren ließ. Als sie später zurückgekommen war, täuschte Edgar ein beherztes Schnarchen vor. Einem „Sie entkommen mir nicht“ war das erlösende Geräusch sich entfernender Schritte gefolgt, das ihn tatsächlich einschlafen ließ.

Er träumte von Kurt, Toni und Fernanda. Die beiden Frauen unterhielten sich, während das Segelschiff, auf dem sie sich befanden, am Ufer feststeckte und Kurt erfolglos versuchte, den Anker hochzuziehen.

„Was ist passiert?“, flüsterte Toni.

„Hat er Ihnen das nicht erzählt?“, fragte Fernanda leise. „Ach, Kurt. Die beiden kannten sich auch schon ewig. Ich glaube, zuerst hat er Edgar nur einen Job gegeben, als er von uns gegangen wurde. Keine schöne Sache damals. Als er davon erfahren hat, hat er Edgar eine Partnerschaft angeboten. Diese beiden …“ – Fernandas Lachen. Es klang schön und erinnerte Edgar an frühere Abende, die sie trinkend und plaudernd mit Kurt und Edith und manchmal auch mit Edgars aktueller Liebschaft verbracht hatten. – „Sie waren ein gutes Gespann. Ich weiß nicht, wie die beiden das hinbekommen haben. So unterschiedlich, wie sie waren. Und trotzdem die besten Freunde. Sie hatten beide diese Vorliebe für antike Möbel, sie konnten Stunden gemeinsam im Dorotheum verbringen. Neben der Arbeit. Edith, Kurts Frau, hat manchmal gesagt, sie hat den Eindruck, Kurt wäre mit Edgar verheiratet und nicht mit ihr.“

„Verkauft er die Möbel deshalb nicht?“

„Wahrscheinlich. Eine Hälfte davon gehört ja auch Kurt. Ich weiß nicht, ob sie mal darüber gesprochen haben, aber Kurt hat immer wieder Phasen gehabt, in denen er alles an den Nagel hängen wollte. Edith war sowieso nie begeistert von dem Job. Bei ihrem Kennenlernen waren sie noch jung, und Kurt hat Psychologie studiert. Da rechnest du nicht damit, dass dein Mann Detektiv wird, keine fixen Wochenenden, geschweige denn Feierabende hat. Ehebruch hält sich nicht an Bürozeiten.“ Fernanda seufzte. „Jedenfalls, diese Phasen von Kurt, wo ihm alles gereicht hat, waren normalerweise nach zwei, drei Wochen wieder vorbei. Aber dieses Mal hat es so ausgesehen, als hätte er wirklich genug. Midlife-Crisis.“ – Eine Weltreise, dachte Edgar. Kurt und Edith wollten auf Weltreise gehen. Auf einem Segelschiff. Was für ein Unsinn. Wo sie sich bereits nach einer Woche Griechenland über das unkomfortable Hotel und die unerträgliche Hitze beschwert hatten. – „Sie haben sich deswegen gestritten. Edgar behauptete, er brauche mehr Zeit, um die Übernahme der Detektei zu organisieren, einen neuen Partner zu finden. Aber ich denke, er hat einfach gehofft, Kurt überlegt es sich wieder. Kurt hat zugestimmt, und sie haben sich auf drei Monate geeinigt.“

Geschirrklappern vermischte sich mit Fernandas Stimme. Und ein Furzgeräusch, das sein Zimmernachbar mit „Pardon“ kommentierte. – Moment, wieso war der in seinem Traum?

Die Erkenntnis, dass er Fernandas und Tonis Stimmen hörte, weil sie tatsächlich in seinem Krankenzimmer waren, machte ihn schlagartig hellwach. Er öffnete seine Augen nur einen winzigen Spalt. Vor seinem Bett nahm er ihre Umrisse wahr. Wenigstens war Toni in Sicherheit. Er wollte sich gerade melden, da sah er einen weißen Kittel ins Zimmer rauschen. Bevor er erkennen konnte, ob es die gefürchtete Krankenschwester war, schloss er bereits die Augen.

„Er schläft“, sagte Fernanda leise.

„Ich hab darüber in der Zeitung gelesen. Aber da stand nicht, was wirklich passiert ist“, flüsterte Toni.

Das Thema ihrer Unterhaltung hatte er also nicht geträumt, sondern mitgehört.

„Es war einfach Pech“, fuhr Fernanda fort und seufzte tief. „An dem Abend gab es ein Gewitter. Sie hatten den Auftrag, eine Praxisgemeinschaft zu überwachen. Ich glaube, es waren Schönheitschirurgen. Oder Zahnärzte? Egal, sie sollten jedenfalls herausfinden, wer sich am Narkosemittel bedient. Warum Kurt nicht bei Edgar im Wagen geblieben, sondern in die Praxis gegangen ist, weiß ich nicht. Vielleicht um einen der Assistenzärzte zu stellen. Der hat das Narkosemittel immer gegen Kokain eingetauscht. Edgar hat nicht gesehen, dass hinter Kurt noch jemand in die Praxis gegangen ist. Der Dealer. Selbst total unter Drogen. Er hat im Affekt geschossen.“

Edgar konnte den Knall noch hören. Im ersten Moment hatte er gedacht, es wäre ein Donner. Dann der Schrei.

„Oh, Gott“, sagte Toni. „Ist er tot?“

„Nein, nein, der Schuss ging durch die Hüfte.“

„Gott sei Dank.“

„Ja. Aber …“

„Was denn?“

Was denn? Das war genau die richtige Frage in dem Zusammenhang.

„Na ja, Kurt war immer sehr sportlich. Und am Anfang dachten noch alle, das wird wieder. Aber so sieht es nicht aus. Jetzt kann er wenigstens mit Stock gehen. Das wird so bleiben, die Reha kann auch keine Wunder bewirken. Irgendwas mit durchtrennten Nerven. Er hat über ein Bein keine Kontrolle mehr.“

„Oh.“

„Ja. Edgar spricht nicht darüber, aber ich kenne ihn jetzt schon seit mehr als zwanzig Jahren. Er macht sich Vorwürfe.“ Fernanda senkte ihre Stimme noch mehr. „Er denkt, es ist seine Schuld. Weil er den Dealer nicht gesehen hat.“

Edgar dachte nicht, dass es seine Schuld war.

Er wusste es.

Was ihn in dieser Nacht wirklich abgelenkt hatte und warum ihm dieser Mann nicht aufgefallen war, konnte er nicht mehr sagen. Alles war so schnell gegangen. Vielleicht war es der Regen gewesen, vielleicht hatte er kurz auf sein Handy gesehen. Natürlich hatte keiner damit gerechnet, dass der Arzt sein Tauschgeschäft gleich in der Praxis durchziehen würde. Aber es hätte nicht passieren dürfen.

„Und Kurt, was sagt er dazu?“, fragte Toni.

Trotz der vielen Medikamente, die man Edgar seit seiner Einlieferung gestern eingeflößt hatte und die den Blutdruck niedrig halten sollten, gab der Monitor, an den er angeschlossen war, ein Piepen von sich. Er musste an etwas anderes denken. Sonst wäre die Krankenschwester alarmiert.

„Oh, ich glaube, er ist wach“, sagte Toni.

„Edgar, hörst du mich?“, fragte Fernanda.

Ohne seine Augen zu öffnen, sagte er: „Schon die ganze Zeit.“

Er spürte, wie Fernanda über seinen Arm streichelte. Als er hinsah, war er überrascht, dass es gar nicht sie, sondern Toni war. Es entstand eine kurze Pause, in der sie ihn anlächelte.

„Alles in Ordnung?“

Eine geschäftige junge Schwester kam ins Zimmer. Sie betätigte ein paar Knöpfe am Monitor, der sofort verstummte. Sie trug etwas in das Klemmbrett an seinem Fußende ein und fragte Edgar, ob er sich unwohl fühle oder Schmerzen habe. Als er verneinte, ging sie wieder. Vielleicht hatte er ja Glück und die gesamte Schicht der schrecklichen Krankenschwester verschlafen.

„Gut, ich lasse euch mal kurz allein“, murmelte Fernanda und reichte Brehm sein Handy. „Sonst verlier ich wirklich noch meinen Job, wenn ich euch zuhöre.“

Sie sah müde aus. Zuerst hatte sie darauf bestanden, ihn im Krankenwagen zu begleiten, und dann war sie heute Morgen nach ihrer Nachtschicht sofort zu ihm gekommen.

„Ich hol mir mal einen Kaffee. Wollen Sie auch was?“, fragte sie Toni.

„Fernanda – danke für alles. Aber geh bitte nach Hause und schlaf dich aus“, sagte Edgar, bevor sie antworten konnte.

„Bist du sicher?“

Er stützte sich auf den Ellbogen, was anstrengender war, als er sich anmerken ließ. „Ganz sicher. Mir geht es gut. Sie behalten mich doch nur zur Beobachtung hier.“ Fernandas skeptischem Blick standzuhalten, fiel ihm nicht leicht.

„Aber du rufst mich sofort an, wenn du etwas brauchst. Und Frau Lorenz, Sie wissen Bescheid. Meine Nummer haben Sie ja.“

„Natürlich“, nickte Toni.

Die beiden Frauen sahen sich einen Moment zu lange in die Augen. Es war eindeutig, dass da irgendwas vor sich ging. Sie verabschiedeten sich. Als Fernanda Edgar zum Abschied ein Bussi auf die Wange gab, ignorierte sie seine Frage, was denn los sei, mit einem Augenrollen.

Es gefiel ihm gar nicht, dass die beiden nun gemeinsame Sache machten. Wahrscheinlich redete Fernanda auf Toni ein, er müsse sich schonen. So ein Unsinn.

„Es war nur der Wein, den hätte ich nicht trinken dürfen“, verteidigte er sich, als Fernanda gegangen war, und ließ sich wieder aufs Bett sinken.

Toni seufzte. „Wie lange müssen Sie hierbleiben?“

„Wenn es nach mir geht, gar nicht.“

Sie setzte sich zu ihm aufs Bett, drehte seinem Nachbarn den Rücken zu. Eine seltsam vertraute Nähe herrschte zwischen den beiden. Toni holte langsam etwas aus ihrer Jackentasche und hielt es ihm mit zwei Fingern hin.

Edgar brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass es der USB-Stick war, den er gestern mit auf die Polizeistation gebracht hatte.

„Es ist drauf“, flüsterte Toni.

„Das Drehb–?“, begann er, und sie nickte, bevor er es ausgesprochen hatte. „Fernanda?“ Sie nickte noch einmal.

Meine Güte, er würde ihr dafür nicht nur eines, sondern unzählige Abendessen kochen. Nach allem, was sie bereits riskiert hatte, nun auch noch das.

„Ich dachte, ich drucke es mal aus und komme dann wieder.“

„Waren Sie auf dem Filmset?“

„Ja, war ich. Und ich habe die Besetzungsliste fotografiert. Das mit der Umbesetzung stimmt. Aber ich glaube nicht, dass das etwas mit dem Tagebuch zu tun hat. Und man sollte noch einmal überprüfen, ob Vincent Blums Agentur seine Unterlagen wirklich für die umzubesetzende Rolle an Steiners Produktionsfirma geschickt hat.“

„Warum?“

Toni wischte auf ihrem Handy herum und hielt ihm ein Foto einer weißhaarigen Dame entgegen. Ohne Brille sah er sie nur verschwommen, aber es war eindeutig, dass es sich um eine ältere Frau handelte.

„Weil das die Umbesetzung ist, von der die Rede war. Es ging um die Rolle der Großmutter von Anna Ferry. Die Erstbesetzung ist in der Dusche ausgerutscht, darum kann sie nicht drehen. Sie ist achtundsiebzig, spielt gelegentlich noch im Theater in der Josefstadt und heißt Renate Frühwirt.“

„Oh. Dann hat sie wohl kaum dieses Tagebuch geschickt.“

„Genau.“ Toni runzelte die Stirn. „Finden Sie es nicht auch komisch, dass Vincent Blum diese Umbesetzung als Grund genannt hat, warum er bei Steiners Party gearbeitet hat?“

Er gab es nicht gerne zu, aber der Einwand war berechtigt. Jetzt gab es bereits mehrere Indizien, die gegen Blum sprachen. Vielleicht hatte Edgar den Beamten doch Unrecht getan? Und Vincent Blum war nicht so unschuldig, wie er wirkte?

„Ich verstehe nur noch immer nicht, was Blums Motiv hätte sein können. Außerdem, dieses Tagebuch …“ Sie zögerte.

„Was ist damit?“

„Es fällt mir sehr schwer zu glauben, dass der Inhalt stimmt. Nicht nur wegen Steiner selbst. Heute hat auch Anna Ferry mit mir über ihn gesprochen, und dann hat er mich …“

Edgar hatte das Gefühl, sie würde versuchen, unauffällig auf den Herzmonitor zu sehen. „Es geht mir gut. Wirklich.“

Sie nickte nicht sehr überzeugt. „Aber es gibt da jemand anderen. Paul Herz.“

„Steiners Assistent, ich weiß.“

„Ich werde nicht schlau aus ihm. Er ist irgendwie … ich weiß auch nicht.“

„Was denn?“

„Er verhält sich merkwürdig. Zuerst zu liebenswürdig. Dann zu unfreundlich.“ Toni biss sich auf die Unterlippe. „Kennen Sie diese Menschen, die sich total unhöflich an der Kasse vordrängeln und dann ganz besonders nett zur Kassiererin sind? Als hätten sie das gar nicht absichtlich gemacht. Was sie aber haben.“

„Ha, so etwas macht mich rasend.“

„Ganz genau. Und so ist Paul Herz.“

„Das verstehe ich jetzt nicht, waren Sie mit ihm einkaufen?“

„Nein, das war nur so eine Metapher.“ Sie sagte das so bedeutungsschwanger, er musste ein Grinsen unterdrücken. „Ich meine, er wirkt im ersten Moment reizend, aber ich hab den Eindruck, er ist jemand, der immer danach geht, wie er für sich den größten Vorteil aus einer Situation herausholt. Also zum Beispiel: Anna Ferry sucht gerade eine Wohnung. Sie hat – oder besser hatte – eine Beziehung, die in die Brüche ging, und Herz hat einfach –“

„Mit wem hatte sie eine Beziehung?“

„Wie es aussieht, mit Hermann Thiel. Online hab ich darüber nichts gefunden, was aber auch nur bedeuten kann, dass sie es geheim halten. Jedenfalls, laut Herz, kam es wegen eines Spiels zur Trennung.“ Bevor er fragen konnte, sagte sie schon: „Aber welches Spiel das sein soll, hat er nicht gesagt.“

„Hm. Ist Thiel nicht auch in diesem Film?“

„Ja, er hat sogar die männliche Hauptrolle. Und Ferry die weibliche. Jedenfalls“, sie beugte sich näher zu ihm, „ich hab mir gedacht: Eigentlich könnte doch Herz an Steiners Stelle sein. Er ist wie er Regisseur, hat die Filmakademie besucht. Aber er ist nur der Assistent, während Steiner den ganzen Ruhm abbekommt. Warum?“

„Ich verstehe.“

Toni stand auf. „Aber eines nach dem anderen. Zuerst das Drehbuch …“ Edgar hatte den Eindruck, sie wolle noch etwas sagen. Doch sie schien zu zögern, jetzt schaute sie unverhohlen auf den Herzmonitor. „Ich komme so schnell wie möglich wieder“, sagte sie.

„Wenn Sie den Drucker in der Detektei benutzen wollen, der Schlüssel ist …“, begann er, zeigte zum Kleiderhaken neben der Tür und stoppte. Die Schwester war unbemerkt ins Zimmer gekommen. Wie ein Racheengel in Weiß stand sie im Türrahmen.

„Ah, jetzt sind Sie wach.“

Ihr Grinsen war furchteinflößend. Und was sie in der Hand hatte, gefiel Edgar gar nicht. Überhaupt nicht. Der Herzmonitor fing wieder an zu piepsen, energischer als zuvor. Er fasste nach Tonis Hand und zischte: „Bitte bleiben Sie.“

Es war eine boshafte Ironie des Schicksals, dass eine Stunde nach dem Einlauf die Visite kam und der Arzt Edgar mit einer neuen Medikation entließ. Er gab es nicht gerne zu, aber er fühlte sich tatsächlich besser.

Toni war in der Detektei gewesen, als er sie angerufen hatte. Sein Auto stand noch immer beim Hauptkommissariat – wenn es nicht schon abgeschleppt worden war. Aber darum würde er sich später kümmern. Er nahm ein Taxi.

Als er in der Detektei ankam, lag Toni Lorenz lesend auf der Chaiselongue. Sie hatte die Schuhe ausgezogen, und der Kater schmiegte sich zusammengerollt an ihre Füße. Es war ein ungewohntes Bild, schön und friedlich. Wenn Edgar ehrlich war, hatte er nie vorgehabt, sein Leben so alleine zu verbringen, wie er es nun tat. Es war ihm gar nicht bewusst gewesen, aber Kurt war seine Familie. Und auch Edith und Fernanda.

Wieso hatte eigentlich noch nie ein Mann diese Stelle eingenommen? Kandidaten gab es genug, aber niemanden, mit dem es auf Dauer funktioniert hätte. Fehlte ihm vielleicht diese Liebesfähigkeit, von der Toni für ihren Felix anscheinend zu viel hatte?

Es gefiel ihm nicht, dass sie Felix ihm gegenüber nicht mehr erwähnt hatte. Wahrscheinlich hatte er ein paar herzergreifende Lügen aufgetischt, und Toni war weich geworden. Wie hatte schon seine Mutter gesagt: Nur ein Gulasch schmeckt aufgewärmt. Und noch dazu war dieses hier verdorben.

„Und, was steht drin?“, fragte Edgar.

Toni schreckte hoch. „Ups, ich hab Sie gar nicht kommen gehört.“ Sie reichte ihm die Hälfte des Drehbuchs, das sie bereits gelesen hatte, und er setzte sich an den Schreibtisch. „Ich bin mir nicht sicher, was das soll.“ Sie runzelte die Stirn und zuckte mit den Achseln. „Bis jetzt ergibt nichts, was da drinsteht, einen Sinn. Aber vielleicht muss man es erst zu Ende lesen.“

Schon nach der dritten Seite fühlte Edgar sich verwirrt. Waren das die Medikamente? Sein Zustand? Oder hatten diese Zeilen wirklich keinen Zusammenhang? Alle Personen schienen nicht nur ständig den Ort zu wechseln, auch die Beziehungen zueinander änderten sich auf gefühlt jeder zweiten Seite. Da waren es einmal der Vater und seine Tochter, dann waren es doch der Lehrer und seine Schülerin. Und es wurde nicht besser. Im Gegenteil.

„Das soll das Drehbuch sein?“, fragte Edgar. In seinem Bauch rumorte es. Er tat so, als würde er es nicht bemerken.

„Ich verstehe es auch nicht. Es ist die einzige Datei gewesen, aber …“ Toni kam zu Edgar und steckte den Stick in den Computer. „Schauen Sie bitte mal nach. Vielleicht hab ich ja was übersehen. Ich lese es inzwischen zu Ende.“

Edgar suchte, scrollte, versuchte es sogar auf einem Laptop, den er für Außeneinsätze gekauft und nie verwendet hatte. Bis auf die Datei mit dem Titel „Drehbuch“ war nichts auf dem Stick abgespeichert.

Erst nachdem Edgar selbst das gesamte Drehbuch gelesen hatte, konnte er die Freundin von Sascha Schwarz endlich erreichen: „Sie haben die falsche Datei“, sagte Carla. „Unter ‚Drehbuch‘ hat Sascha immer nur alles abgespeichert, was er aus der Version, an der er gerade gearbeitet hat, rausgeworfen hat. Das weiß ich, weil mir selbst mal dieser Fehler passiert ist. Ich wollte ihm eine Freude machen und hab es an eine Agentur gemailt, aber –“

„Das heißt, wir haben hier nur eine Zusammenfassung?“, unterbrach Edgar sie. Wenn das so war, dann hatte er wertvolle Stunden vergeudet.

„Eine Zusammenfassung von allem, was er rausgestrichen hat, ja.“

Edgar unterdrückte ein Fluchen. „Und unter welchem Namen hat er die aktuelle Version abgespeichert?“

„Das weiß ich nicht.“ Carla fing an zu weinen. „Es war immer der Titel. Wahrscheinlich finden Sie die richtige Datei nach dem Datum der letzten Änderung.“

Sie erkundigte sich noch, ob Edgar schon etwas rausgefunden hatte. Er wollte sie mit keiner Floskel abspeisen und sagte ehrlich, dass sich der Fall schwieriger als angenommen herausstellte. Er verschwieg ihr allerdings, dass Vincent Blum offenbar doch nicht über jeden Verdacht erhaben war. Obwohl Edgars Instinkt ihm noch immer etwas anderes sagte. Na ja, vielleicht war das nicht unbedingt sein detektivischer Instinkt, rügte er sich selbst.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Toni, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

„Ich muss Fernanda darum bitten, noch mal an den Computer von Sascha Schwarz zu gehen. Müssen Sie irgendwohin?“

Etwas an ihrem Blick irritierte ihn. Sie nickte, behauptete, sie hätte noch eine Verabredung und müsse vorher nach Hause, um sich umzuziehen. Edgar verkniff sich die Frage, mit wem. Es war ihre Sache. Toni war erwachsen, und wenn sie sich einem Betrüger an den Hals werfen wollte, konnte er sie nicht davon abhalten. Obwohl sie einen Fehler machte. Denn natürlich traf sie diesen Felix Meier.

„Wie die Sache morgen auch ausgeht“, er kratzte sich am Kopf, „Sie bekommen auf jeden Fall ein Honorar. Schreiben Sie mir einfach die Stunden zusammen.“

„Können wir das ein anderes Mal besprechen? Ich muss jetzt wirklich los. Aber ich melde mich später noch. Bis wann kann ich anrufen?“

„Immer.“

Als Toni gegangen war, rief er Fernanda an.

„Ich stehe bis in alle Zeiten in deiner Schuld, Fernanda. Du kannst von mir haben, was du möchtest –“

„Oh Gott, was brauchst du jetzt noch?“

„Die Datei auf dem Stick. Es ist eine falsche Version. Ich brauche die Datei mit dem letzten aktuellen Datum. Wirklich, Fernanda, ich –“

„Edgar“, unterbrach sie ihn. „Selbst wenn ich wollte, kann ich dir nicht helfen. Der Laptop ist nicht mehr bei uns. Die Staatsanwaltschaft hat ihn. Ich komme da nicht mehr dran.“

„Aber, warum –“

„Vincent Blum ist in Untersuchungshaft.“

„Wurde was gefunden?“

„Das weiß ich nicht. Ich hab irgendwas von einer Verwechslung gehört. Frag mich nicht, was damit gemeint ist.“

„Eine Verwechslung? Aber wieso haben sie ihn dann festgenommen?“

„Ich hab nicht die geringste Ahnung.“

Nachdem Edgar aufgelegt hatte, war sein erster Impuls, Toni anzurufen. Er ließ es aber bleiben.

Fernanda hatte von einer Verwechslung gesprochen. Was sollte das bedeuten?

Edgar stand auf und trat ans Fenster. Ihm war flau im Magen. Er hatte schon wieder vergessen, etwas zu essen. Vielleicht tat ihm ein bisschen frische Luft gut, um sein Hirn auszulüften.

Beim Italiener, ein paar Nebenstraßen entfernt, bestellte er sich Spaghetti und widerstand der Versuchung, nach dem Essen noch einen Espresso zu trinken.

Als er den Kellner um die Rechnung bat, betrat eine Frau das schummrige Lokal. Im ersten Moment hielt er sie für Toni. Er wollte ihr schon winken, doch dann kam sie näher, und er erkannte, dass er sie verwechselt hatte.

Eine Verwechslung.

Edgar legte das Geld auf den Tisch. Obwohl sich sein rumpelndes Herz beschwerte, sprang er auf und lief vor die Tür. Noch auf dem Weg nach draußen zog er das Handy aus der Hosentasche.

„Ja, bitte?“, meldete sich Carla.

„Hier ist noch mal Edgar Brehm. Ich brauche bitte die Maße von Sascha Schwarz. Wie groß war er, wie viel hat er gewogen? Und haben Sie ein paar Ganzkörperfotos aus verschiedenen Blickwinkeln?“