War das eben ein Kratzen gewesen? Da, schon wieder? Es wurde heftiger. Der Kater.
Dankbar für die Unterbrechung entschuldigte Edgar sich und ging zur Tür. Der Kater saß davor und sah ihn auffordernd an. Er musste hinausgeschlüpft sein, als Sybille Steiner eingetreten war. Mit einer Hand schob er ihn sanft weg und vertröstete ihn flüsternd auf später, dann schloss er die Tür und kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück.
Sybille Steiner stand unverändert neben der Chaiselongue. Sie wurde ungeduldig, sah auf ihre mit Diamanten besetzte goldene Armbanduhr.
„Das heißt, Anna Ferry hat die Nacht ganz in der Nähe Ihrer Villa verbracht, nur vier, fünf Minuten entfernt?“, fragte er in einem nachdenklichen Tonfall, als wäre ihm das eben erst in den Sinn gekommen. Natürlich wusste er, wo Hannes Koblingers Haus sich befand, gleich nach dem Gespräch mit Ferry hatte er die Adresse gegoogelt.
„Ja, und?“ Sybille Steiner zuckte völlig ungerührt mit den Schultern.
An dieser Stelle wäre es so einfach für sie, den Verdacht auf Ferry zu lenken. Warum aber tat sie es nicht? Irgendeinen Plan musste sie mit dieser Drehbuch-Geschichte doch verfolgen. Was beabsichtigte sie mit ihrer Reaktion? Wenn es stimmte, was Sybille Steiner über den Inhalt des Drehbuchs erzählt hatte, dann würde es das perfekte Motiv für Ferry liefern. In Verbindung mit dem Inhalt des Tagebuchs fast schon zu perfekt.
Hätte er nicht vor einer halben Stunde diesen Anruf bekommen, hätte er ihr das wahrscheinlich alles geglaubt. Das Labor hatte sich gemeldet. Die beiden DNA-Proben, die er eingeschickt hatte, waren ident. Kein Zweifel. Bei ihrem ersten Besuch hatte Sybille Steiner geraucht und rote Lippenstiftspuren auf dem Filter der Zigarette hinterlassen. Es war dieselbe DNA, die das Labor auf der Gummierung des Kuverts gefunden hatte, in dem Ferrys Tagebuch angeblich zugestellt worden war. Ein winziger, aber bedeutungsvoller Fehler: Hätte Sybille Steiner ein selbstklebendes Kuvert verwendet oder nicht in seinem Büro geraucht, wäre Brehm ihr nicht so leicht auf die Spur gekommen.
Er hatte sie nicht verdächtigt, warum auch, sie war schließlich seine Auftraggeberin. Bis zu seinem Anruf wegen der angeblichen Umbesetzung, von der Vincent Blum gesprochen hatte.
Es war ihm erst viel zu spät klar geworden. Eigentlich hätte Sybille Steiner auf jede Spur, die Aufklärung brachte, erleichtert, verwundert oder zumindest irgendwie reagieren müssen. Aber das hatte sie nicht. Im Gegenteil.
Sie hatte gesagt: „Eine Umbesetzung hat sicher nichts damit zu tun.“
Es war nur eine Nebenbemerkung, die ihr wahrscheinlich versehentlich rausgerutscht war. Aber woher hatte sie das wissen können? Und wenn sie angeblich keine Ahnung hatte, warum ging sie dann davon aus?
Es konnte nur bedeuten, dass sie bereits alles wusste. Grund genug für Edgar, seinem Gefühl nachzugehen und diese DNA-Analyse durchzuführen.
„Ich muss jetzt wirklich gehen“, sagte Sybille Steiner und drehte sich zur Tür.
„Eine Frage noch“, hielt Edgar sie auf. „Ihr Mann, wissen Sie, ob er bei der Party an diesem Abend Alkohol getrunken hat?“
Sie wirkte erstaunt. „Natürlich hat er das.“
„Natürlich? Ich dachte, er trinkt nie.“
„Das gibt er vor.“ Ihr Lachen war mehr als abschätzig. „Dabei trinkt er nur nie vor zweiundzwanzig Uhr. Darum taucht er auch erst so spät bei jeder Party auf, sogar bei seiner eigenen. Warum fragen Sie?“
„Wissen Sie noch, hat Ihr Mann an dem Abend der Party viel getrunken?“
„Sehr viel.“
Im Gegensatz dazu, wie gut sie sich sonst im Griff hatte, klang diese Aussage hasserfüllt. Was war an diesem Abend noch passiert?
„Dem Barkeeper wird der Mord angelastet.“
„Ich weiß.“ In ihrem regungslosen Gesicht war nicht zu erkennen, was sie davon hielt. „Ich hoffe, es klärt sich alles auf. Ich muss jetzt wirklich zu Zoe.“
Sie nickte ihm zu, drehte sich zur Tür. Aber er durfte sie auf keinen Fall gehen lassen.
„Sie haben eine sehr nette Tochter.“
Diese Bemerkung schien Sybille Steiner zögern zu lassen. Dieses gleichzeitig überraschte und ehrliche Lächeln, das in ihrem Gesicht auftauchte, erinnerte Edgar an die alten Familienfotos in der Villa.
„Danke.“
Er hatte die Angel ausgeworfen, und wie es aussah, schluckte sie den Köder. Vielleicht brachte ihn diese Schiene weiter.
„Zoe und ihr Vater – haben die beiden ein gutes Verhältnis?“
„Wieso fragen Sie?“
Edgar lehnte sich zurück. „Nun, weil es mich ehrlich gesagt überrascht hat, dass Zoe in diesem buddhistischen Zentrum bei dem Abschiedsritual war. Ich dachte mir, vielleicht hat ihr Vater sie darum gebeten hinzugehen. Und sie sagt es nicht, aus Angst, es könnte ihn verdächtig machen.“
„Das kann sein. Ich weiß es nicht.“
Sie seufzte, schien etwas sagen zu wollen. Er wartete einen Moment, doch sie schwieg. Wenigstens blieb sie.
„Sie war sehr aufgewühlt“, sagte er vorsichtig. „Geht es ihr schon besser?“
Sybille Steiner sah ihn gedankenverloren an. „Zoe ist sensibler, als es gut für sie ist.“
Ihre Worte klangen hart, fast mitleidlos. Edgar war sich nicht sicher. Sprach Sybille Steiner von sich oder ihrer Tochter?
„Inwieweit?“
„Sie nimmt sich alles sehr zu Herzen. Hat sich zu viel um die Zuneigung von Alexander bemüht.“
Er wartete einen Moment. „Sprechen wir immer noch von Zoe?“, fragte er.
Es war ein gewagter Vorstoß, aber sie durfte sein Büro nicht verlassen.
„Natürlich tun wir das.“ Ihre Augen weiteten sich, ihr Tonfall hatte sich geändert, keine Spur mehr von der Zärtlichkeit, mit der sie eben von ihrer Tochter gesprochen hatte. „Auf Wiedersehen, Herr Brehm.“
Es klang nach einem endgültigen Abschied. Sie nickte ihm zu und verließ das Büro. Edgar lauschte noch ihren Schritten im Treppenhaus.
Mist, er hatte es verbockt! Und was sollte er jetzt tun? Um Vincent Blums Chancen stand es immer schlechter, aber wie könnte er jetzt weiter vorgehen? Er brauchte Beweise.
Der Kater tapste beleidigt durch die geöffnete Tür. Er sprang auf die Chaiselongue und fuhr trotzig mit seinen Krallen über den Möbelstoff. Edgar hatte jetzt keinen Nerv dafür, sich darum zu kümmern.
Schon seit dem Gespräch mit Ferry war es ihm nicht mehr aus dem Sinn gegangen: Er kannte den Inhalt dieses Ehevertrags natürlich nicht, aber er konnte davon ausgehen, dass eine redselige Ehefrau höchstwahrscheinlich leer ausgehen würde. Eine Ehefrau allerdings, die Angst hatte, betrogen zu werden oder mit einem Menschen zusammenzuleben, der eine Frau sexuell genötigt haben könnte, und deshalb einen Privatdetektiv engagierte, handelte vollkommen nachvollziehbar.
Ging es Sybille Steiner um das Vermögen? Sie hatte sich ohne Zweifel an einen luxuriösen Lebensstil gewöhnt.
Hatte Edgar Ergebnisse liefern sollen, in deren Richtung sie ihn subtil manövriert hatte? Es kam nicht selten vor, dass Klienten gar nicht die Wahrheit herausfinden, sondern bloß ihren eigenen Verdacht bestätigt haben wollten. Solche Fälle waren schwierig, da der Handlungsspielraum ständig eingeschränkt wurde.
Aber vielleicht hatte Sybille Steiner ihn gar nicht wegen eines Verdachts engagiert, sondern um sich selbst damit ein Alibi zu liefern?
Er drehte sich auf dem Stuhl zum Fenster. Der Himmel war wolkenverhangen und fast schwarz, zum Regen war nun auch Sturm gekommen.
Was waren die Fakten? Laut Sybille Steiner handelte Schwarz’ Drehbuch von einem älteren Regisseur, der eine junge Schauspielerin immer wieder missbraucht und manipuliert. Sie erpresst ihn, doch er ist zu gut vernetzt, und sie hat keine Chance. Schließlich hält sie es nicht mehr aus und macht einen Selbstmordversuch. Er findet sie, erkennt seinen Fehler, wird geläutert und verhilft ihr als Wiedergutmachung zu einer außergewöhnlichen Karriere im Filmgeschäft.
Das hatte Sybille Steiner ihm erzählt, bevor er mit Anna Ferry und ihrer Andeutung des Ehevertrags gekommen war und sie plötzlich eine Kehrtwendung gemacht und den Auftrag beendet hatte.
Oder war es genau das, worauf sie gewartet hatte? Und brauchte darum seine Dienste nicht mehr?
Brehm hatte keine Zweifel, dass der Tagebucheintrag wirklich vor vier Jahren geschrieben worden war.
Möglich, dass die ganze Sache nicht so harmlos abgelaufen war, wie Ferry es jetzt darstellte. Und sollte Sybille Steiner die Wahrheit gesagt haben, dann könnte dieses Drehbuch von Ferry und Steiner handeln. Aber woher wusste Sascha Schwarz davon? Und warum hätte er Steiner das Drehbuch überlassen sollen? Um ihn zu erpressen? Und selbst wenn man annahm, dass jemand die – bewusste? unbewusste? – Verbindung zwischen Drehbuch und Tagebuch erkannt hätte und den Autor deshalb umgebracht und versucht hatte, es wie einen Unfall aussehen zu lassen: Wieso hätte Steiner das ihn kompromittierende Drehbuch aufheben sollen?
Sprach das alles nicht vielmehr dafür, dass Sascha Schwarz nie das Ziel gewesen war? Und er nur wegen seiner Ähnlichkeit mit Alexander Steiner gestorben war? Dem unglaublichen Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein?
Vielleicht war Sybille Steiner wirklich am nächsten Morgen von dem Toten in ihrem Pool überrascht worden. Aber nicht von der Leiche – sondern davon, dass es sich bei ihr nicht um ihren Mann handelte. Den sie viel lieber als Toten gesehen hätte. Natürlich konnte sie ihn jetzt nicht mehr umbringen, wo die Polizei schon auf den Plan gerufen worden war.
Doch dann hatte sie das Drehbuch entdeckt, das ihr ein wunderbares Motiv lieferte. In Kombination mit dem Tagebuch würde die Spur rasch zu Alexander Steiner führen. Vielleicht war ein Mord an ihm also gar nicht mehr nötig, um ihn sich vom Hals zu schaffen? Der betrügende und übergriffige Ehemann würde als verurteilter Mörder im Gefängnis sitzen. Und sie käme bequem an das gesamte Vermögen heran.
Konnte es so gewesen sein?
Edgar streckte die Arme über den Kopf, seine Schultern krachten. Wie sollte er jetzt vorgehen? Er hatte weder ausreichende Beweise noch den Auftrag, weiter zu ermitteln. Außerdem, in seiner beruflichen Stellung, die Diskretion nicht nur voraussetzte, sondern die der Eckpfeiler seines Berufsstands war, wie wäre es ihm überhaupt möglich, gegen seine Auftraggeberin zu ermitteln?
Er gähnte, der Schlafmangel machte sich bemerkbar.
Noch mal, was waren die reinen Fakten, Sybille Steiner betreffend?
Es gab ein Drehbuch, dessen toter Autor im Dunkeln wahrscheinlich nicht von Alexander Steiner zu unterscheiden war. Dazu einen angeblich vier Jahre alten Eintrag in ein Tagebuch von Anna Ferry über Alexander Steiner. Ob der vor zwei Wochen tatsächlich von einer fremden Person in den Briefkasten der Steiners gesteckt geworden war, wäre kaum zu überprüfen. Und dann gab es noch einen unschuldigen Schauspieler, dem man den Mord anlastete.
Doch genau genommen ging Edgar das alles nichts mehr an. Er nahm das Kuvert voller Geldscheine, das Sybille Steiner dagelassen hatte.
Lauter lila Scheine. Seine finanziellen Probleme waren damit zu einem großen Teil gelöst. Er sollte jetzt aufhören. Die Ermittlungen waren abgeschlossen. Er war Detektiv, er machte das, wofür er bezahlt wurde. Alles andere wäre in seiner Situation Wahnsinn.
Es sei denn … vielleicht musste er sich gar nicht darum kümmern. Vielleicht reichte ein unverfänglicher Anruf bei Fernanda, bei dem er ein, zwei Bemerkungen fallen lassen würde. Fernanda wusste, woran er arbeitete.
Sein Handy klingelte irgendwo unter den Unterlagen. Er wühlte sich durch – es war Toni.
„Hallo?“
Sie sprach so leise, dass er kein Wort verstand.
„Wie bitte?“
„Ich bin im H… und ich ha… gefunden.“
„Wo sind Sie?“
„Im Haus der Steiners.“
„Ja, ja. Sehr witzig. Wo sind Sie wirklich? Vor dem Büro?“
„Im Haus von den Steiners.“
„Sie …“, er war sofort hellwach. „Was? WAS?“
„Ja. Keine Sorge, ich bin allein. Ich war vorhin bei Ihnen, ich hab Ihr Gespräch mit Sybille Steiner gehört. Wegen Ferry, dem Drehbuch –“
„Um Gottes willen.“
„Ja, ich weiß. Es war Ferry.“
Edgar schoss von seinem Schreibtischstuhl hoch. Sein Puls raste.
„NEIN! RAUS! SOFORT RAUS DA!“
„Es ist niemand zu Hause. Steiner dreht, und seine Frau hat doch zu Ihnen gesagt, sie ist mit ihrer Tochter beim Arzt. Ich hab hier noch mehr von Ferrys Tagebüchern. Sie und Steiner … das ist doch der Beweis …“
„Scheiße, Ihre Fingerabdrücke. Wie sind Sie überhaupt auf diese Schwachsinnsidee gekommen?“
Edgar fing an zu schwitzen. Er musste sie sofort da rausholen. Autoschlüssel. Wo waren die verdammten Autoschlüssel?
„Alexander Steiner hat mich vorhin angerufen. Er hat gesagt, dass er mich heute Abend treffen will. Und dann hat er mich gefragt, ob ich die Angst in mir loslassen kann.“ Ihre Stimme war gekippt und klang schrill. „‚Die Angst in mir loslassen.‘ Genau das, was Ferry in das Tagebuch geschrieben hat.“
„Schauen Sie, dass Sie sofort verschwinden.“ Endlich hatte er die blöden Autoschlüssel. „Sie gehen jetzt da raus.“
Toni sagte nichts, aber es hörte sich an, als würde sie Möbel rücken.
„Und lassen Sie alles, wo es ist.“
„Oh Gott.“
„Was, was?“ Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
„Da … in Steiners Schreibtisch sind Fotos … von Ferry …“
„Noch mal: Lassen Sie alles, wo es ist, und raus.“
„Aber Herr Brehm … die liegen einfach so in seinem Schreibtisch …“
Edgar schnappte nach Luft. In seiner Brust wurde es eng.
„Herr Brehm …“, sagte Toni, ihr Tonfall hatte sich radikal verändert.
Und dann hörte Edgar die Stimme eines Mädchens.
„Papa? Papa, ich glaub, da ist wer in deinem Zimmer.“