Toni hörte Brehm noch diverse Flüche ausstoßen, als sie das Handy sinken ließ. Zoe war so unvermittelt in das Arbeitszimmer ihres Vaters gestürmt, sie hatte keine Zeit mehr gehabt, das Drehbuch aus der Hand zu legen oder Ferrys weitere Tagebücher zurück in die Schreibtischlade zu legen. Geschweige denn, sich selbst ein Versteck zu suchen.
„Was …“, begann das Mädchen und stoppte. „Papa. Mama.“ Sie hatte gar nicht laut gerufen, so als hätte ihre Stimme versagt, während sie Toni anstarrte. „Ich kenn dich.“
Toni wusste nicht, was sie erwidern sollte. Was hätte es auch noch bringen sollen? Sybille und Alexander Steiner tauchten bereits im Türrahmen hinter ihrer Tochter auf.
„Toni?“ Alexander Steiner sah sie ungläubig an.
Auch Sybille Steiner schien sich an ihre Begegnung bei Brehms Zusammenbruch in der Detektei zu erinnern. „Toni?“, fragte sie erschrocken und drehte sich zu ihrem Mann. „Du kennst sie?“
„Ja … sie … eine Schauspielerin …“, sein Blick glitt zu den Fotos in Tonis Hand, dann zu den Tagebüchern. „Aber wieso … woher hast du …“
„Ich habe sie engagiert.“
„Du hast was?“ Alexander Steiner sah zwischen seiner Frau und Toni hin und her, als würde er noch immer nicht begreifen.
„Sie arbeiten doch für Herrn Brehm?“, fragte Sybille Steiner.
„Ich …“, begann sie, überlegte und nickte schließlich. „Ja, ich arbeite für ihn. Aber er hat nichts damit zu tun, dass ich hier bin. Ich habe vorhin Ihr Gespräch mitgehört … in seinem Büro … und ich weiß, dass es Ferry war, und wollte Beweise –“
„Ferry war was?“, fiel Sybille Steiner ihr ins Wort. „Die Geliebte meines Mannes? Sollen wir das so nennen? Ist das die passende Bezeichnung? Oder nennt man das nun anders? Was sie auch war, sie und unzählige andere –“
„Nein, ich meine, sie war –“ Toni stoppte. Zoe stand noch immer wie versteinert da.
„Was?“, blaffte Sybille Steiner sie an. „Was war sie?“ Die Anwesenheit ihrer Tochter kümmerte sie offenbar nicht.
„Sie hat Sascha Schwarz … im Pool … das war sie.“
„Anna soll das gewesen … bist du verrückt?“, fragte Alexander Steiner wütend.
„Wegen des Drehbuchs. Und Ihnen und ihr“, sagte Toni und deutete auf die Tagebücher.
Alexander Steiner sah seine Frau an. „Wovon redet sie, was soll das, Sybille?“
„Sie redet davon, dass sie glaubt, Anna hätte was mit dem Mord zu tun.“
Alexander Steiner stieß ein Lachen aus, doch seine Frau sah ihn ungerührt an.
„Ich weiß, dass es nicht Anna war. Sondern du, Alexander.“
Steiners Kopf zuckte, als wäre er an einem Gummiband befestigt. Das Lachen erstarrte auf seinem Gesicht. „Was redest du da?“
„Dass ich weiß, dass du es warst, Alexander. Ich hab das Drehbuch gelesen. Wegen dem du diesen Kellner umgebracht hast. Du widerlicher Mistkerl. Mir war klar, dass mir niemand geglaubt hätte. Also hab ich einen Privatdetektiv engagiert.“
„Du hast …“, er fuhr sich durch die Haare, trat einen Schritt Richtung Toni und wieder zurück zu seiner Frau. „Bist du noch ganz bei Trost?“
„So klar wie jetzt war ich schon lange nicht.“ Sie versuchte, Fassung zu bewahren, aber ihr Kinn zitterte merklich. „Es ist aus, Alexander. Ich weiß, dass du es warst. Und ich kann es beweisen.“
Steiners Kopf wurde rot, er deutete mit dem Zeigefinger auf seine Frau, als wollte er sie erschießen. „Weißt du was? Ich lass dich einweisen. Du bist ja nicht mehr normal. Kein Wunder, dass unsere Tochter diese Störungen hat, bei dir als Mutter dreht ja jeder durch!“, brüllte er.
„Du bist das größte Arschloch und denkst immer, die anderen sind das Problem!“, brüllte sie zurück. Ihre Augen waren voller Tränen. „Annas Tagebücher. Ihre Nacktfotos, die du von ihr gemacht hast. Hast du geglaubt, ich finde das alles nicht? Denkst du, ich kenne deine miesen kleinen Verstecke nicht nach fünfzehn Jahren Ehe? Hinter der Bücherwand und in dem geheimen Fach der Kommode, wo du dein Kokain lagerst?“ Steiners schockiertem Blick nach war er wirklich überrascht. „Ich hab das alles in dein Schreibtischfach gelegt, damit die Polizei es findet. Mit dem Drehbuch. Ich weiß es, Alexander. Immer schon. Ich weiß von den zahllosen Schauspielerinnen, die sich dir an den Hals werfen. Das hat dich nie interessiert. Du wolltest die Jagd. Schon immer. Und je schwieriger es wird, desto mehr reizt es dich. Dann kannst du deinen Trumpf einsetzen.“ Sie warf die Arme in die Höhe. „Deine großartige und bedeutende Position. Du nutzt sie aus, um diesen Frauen das Gefühl zu geben, sie wären etwas ganz Besonderes. Und dann zerbrichst du sie, zwingst sie zu tun, was du willst …“ Tränen liefen ihr über die Wangen. „Es ekelt mich an. Und ich habe es so satt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie satt ich es habe.“ Sie deutete auf sich. „Und ich habe gedacht, es ist meine Schuld, dass du das Interesse an mir verlierst.“
„Ich verstehe kein Wort“, sagte Steiner. „Drehst du jetzt völlig durch?“
„Du hast nichts gemerkt, gar nichts. Nie. Dieser Drehbuchautor ist dir auf die Schliche gekommen. Zoe hat es dir selbst gesagt, als sie dir sein Drehbuch bei der Party gegeben hat.“
„Was hat sie mir gesagt?“
„Dass sie das Drehbuch dem Bitlinger aus der Tasche genommen hat.“
Das Mädchen zuckte zurück, doch ihre Eltern schienen es nicht zu bemerken.
„Jetzt tu nicht so, Alexander, ich war doch dabei, ich bin neben dir gestanden.“ Sybille Steiner sah ihren Mann hasserfüllt an. „Oder hast du mich nicht bemerkt, weil du schon so besoffen warst und unbedingt diese kleine Blonde ficken wolltest?“
„Oh Gott, du bist wirklich durchgedreht“, sagte Alexander Steiner.
Vom Flur her waren Schritte zu hören. Toni flehte, dass es Brehm war.
„Alexander? Alexander, wo bist du? Wir sollten jetzt weiter zur Indoor-Location, wenn wir heute noch was dreh–“ Paul Herz stoppte mitten im Satz, als er Steiners Büro betrat. „Was ist hier los? Ihr seht aus … ist alles in Ordnung?“ Erst jetzt schien er Toni zu registrieren. „Und was machst du hier? Ihr … was soll das alles?“
Alexander Steiner hob beide Hände in die Luft, es sah aus, als würde er sich ergeben. „Meine Frau ist durchgedreht. Sie glaubt, ich habe diesen Kellner in unserem Pool ersäuft.“
„Er ist nicht ersoffen.“ Sybille Steiner wirkte so wütend, als würde sie ihrem Mann im nächsten Moment an die Gurgel gehen. Ihr Gesicht war zu einer Fratze verzogen. „Du hast mit der Metallleiste auf ihn gezielt, weil du dachtest, es sieht dann wie ein Unfall aus.“
„Hörst du“, sagte Alexander Steiner ruhig zu Paul Herz. Die Anwesenheit seines Assistenten schien dafür zu sorgen, dass er seine Fassung wiedergewann. Er deutete auf Toni. „Und die da ist auch engagiert, sie gehört zu einem Privatdetektiv.“
„Was?“ Herz war sichtlich um Fassung bemüht. Er trat zu Sybille Steiner, fast so, als wollte er sie aus dem Zimmer schieben. „Wir beruhigen uns jetzt mal alle, das ist –“
„Fass mich nicht an“, fauchte sie, als er sie am Oberarm berührte.
Paul Herz trat zurück, er stand nun zwischen Alexander Steiner und seiner Frau, als wäre er der Schiedsrichter in einem Boxkampf.
„Siehst du, ich sag ja, sie ist durchgedreht“, sagte Alexander Steiner.
„Wollen wir nicht ins Wohnzimmer gehen, uns hinsetzen und in Ruhe darüber reden?“, fragte Paul Herz.
Die Ehepartner sahen sich über Herz hinweg voller Hass an.
Unbemerkt von allen außer Toni hatte Zoe lautlos zu weinen begonnen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, ihre Schultern bebten. Toni folgte ihrem Blick. Das Mädchen sah Paul Herz an. Hatte sie Angst vor ihm? Ihr Schluchzen wurde heftiger, es schüttelte sie am ganzen Körper. Ein Klingeln an der Tür beendete das Duell der hasserfüllten Blicke zwischen dem Ehepaar.
„Hast du wirklich die Polizei –?“, fragte Steiner seine Frau.
Ohne auf ihn zu reagieren, verließ sie das Arbeitszimmer.
Toni hoffte, dass es diesmal Brehm war, aber wie sie hörte, war es nur Steiners ungeduldig gewordener Fahrer.
Sybille Steiner kam zurück. Jetzt erst schien sie das Weinen ihrer Tochter zu bemerken. „Zoe, geh auf dein Zimmer.“
Das Mädchen blieb stehen, wo es war.
„Zoe, bitte“, sagte Alexander Steiner, „jetzt mach du nicht auch noch so ein Theater. Hier geht es ja zu wie in einem Affenhaus!“
Schlagartig verebbte Zoes Schluchzen, dann sah sie zu Herz. Hatte er gerade ein Kopfschütteln angedeutet? Deckte das Mädchen ihn? Es war eindeutig, dass da etwas im Gange war.
„Zoe, vielleicht solltest du wirklich auf dein Zimmer –“, begann Paul Herz.
„Sag es ihnen, Paul“, unterbrach sie ihn.
„Komm, du bist sehr aufgebracht, es ist besser …“, sagte er mit bemüht besänftigendem Tonfall. Er konnte aber nicht verbergen, wie schwer es ihm fiel, die Fassung zu bewahren.
„Paul, was soll das?“, fragte Alexander Steiner.
„Sag es ihnen“, wiederholte Zoe.
„Paul … du“, stammelte Sybille Steiner. Ihre Augen weiteten sich.
„Zoe, du bist sehr durcheinander, magst du dich nicht erst mal ausruhen?“, bemühte sich Herz erneut.
„SAG ES IHNEN!“, schrie sie jetzt.
Stille. Die Anspannung im Raum war kaum zu ertragen.
Herz nahm seinen Blick nicht von Zoe. „Du weißt ja nicht, was du da tust“, sagte er, doch sein beschwichtigender Tonfall klang zittrig. „Komm, geh auf dein Zimmer.“
Zoe brach in verzweifeltes Schluchzen aus.
„Was hast du getan?“ Sybille Steiner sah Herz fassungslos an.
Er schaute hilfesuchend zu Alexander Steiner, doch der verschränkte nur die Arme und trat einen Schritt zurück.
„Ich verstehe hier gar nichts mehr. Was soll das, Paul? Wovon redet Zoe?“
„Nichts. Es ist nichts. Okay?“, antwortete er laut, seine Stimme klang nun hysterisch, sein Brustkorb hob sich hektisch.
Zoe schluchzte noch mehr. Sie versuchte, zu sprechen, brachte aber nur abgehackte Laute hervor.
Und dann ging alles blitzschnell: Noch bevor Toni begriff, was passierte, hatte sich Sybille Steiner schon auf Paul Herz gestürzt. Sie trommelte mit ihren Fäusten auf ihn ein. Herz duckte sich. Versuchte, seine Arme schützend um den Kopf zu legen.
„Hör auf“, wimmerte er. „Hör auf!“
Doch sie hörte nicht auf. Sie prügelte auf ihn ein. Als würde sie all ihre aufgestaute Wut an ihm auslassen. Trotz seiner geringen Größe wäre Herz ihr körperlich überlegen gewesen. Doch er ließ sie weiter auf sich einschlagen. Es war ein groteskes Bild. Toni schaute zu Alexander Steiner, der dem Geschehen fassungslos zusah.
„Aufhören!“, schrie Toni. „Aufhören!“
Doch Sybille Steiner reagierte nicht, schließlich schlug sie nur noch ins Leere. Paul Herz heulte und wimmerte. Endlich hörte sie auf, sank erschöpft zu Boden.
Die folgende Stille war surreal – bis Edgar Brehm sie durchbrach.
In dem Tumult hatte ihn niemand kommen gehört. Er stand im Türrahmen, klatschnass und außer Atem.
„Sind Sie von der Polizei?“, fragte Alexander Steiner.
„Ich bin … Detektiv … Ihre Frau hat … mich engagiert.“ Keuchend stützte er sich an den Oberschenkeln ab. „Zoe …“
„Verschwinden Sie“, fauchte Alexander Steiner.
„… habe versucht, sie aufzuhalten … aber sie … war schneller.“ Er rang nach Luft.
Sybille Steiner erwachte aus der Erstarrung. Mit verweinten Augen sah sie sich suchend um.
„Sie sollen verschwinden, hab ich gesagt“, wiederholte Alexander Steiner.
Es war seine Frau, die aussprach, was Brehm versucht hatte allen klarzumachen: „Zoe ist weg.“