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Toni machte sich Vorwürfe. Ihr war klar, dass es nicht in ihrer Verantwortung lag, auf Zoe aufzupassen, aber trotzdem fühlte sie sich elend. Wieso war ihr entgangen, dass Zoe abgehauen war? Das Mädchen war vollkommen außer sich gewesen. Was hatte sie damit gemeint, als sie gesagt hatte, dass Paul Herz es sagen solle? Was wusste sie?

Hatte sie Paul Herz gedeckt? Toni selbst hatte ihn ja schon als Täter in Betracht gezogen. Er hatte ein Motiv: Wenn Alexander Steiner unterging, würde Herz seine Position verlieren. Vorausgesetzt, das alles hatte mit dem Drehbuch von Sascha Schwarz zu tun.

Toni ließ Herz nicht aus den Augen. Er schien noch immer schockiert über Sybille Steiners Ausbruch. Die Angst war ihm anzusehen.

Als Brehm endlich wieder zu Atem kam, erzählte er, wie Zoe in ihn reingerannt war, als er das Haus betreten hatte. Ihr Gesicht hatte sich vor Schreck verzerrt, als sie in ihm den vermeintlichen Polizisten erkannt hatte.

Brehm wollte sie aufhalten, aber sie war ihm sofort entschlüpft. Quer über den Rasen hatte er es noch geschafft, sie zu verfolgen. Als er auf dem Gehweg ankam, war nichts mehr von ihr zu sehen. Er lief die Straße hoch und runter, doch Zoe war weg.

„Wir teilen uns auf“, befahl Alexander Steiner. So wie er es sagte, schien er froh darüber sein, hier wegzukommen. „Paul, du kommst mit mir, wir fahren mit dem Auto die Gegend ab.“ Seine Frau wollte protestieren: „Aber –“ Hasserfüllt sah sie zum Assistenten ihres Mannes.

Versuchte Steiner, Paul Herz zu schützen? Oder unter vier Augen zu erfahren, was Zoe ihm vorwarf?

Steiner ließ seine Frau nicht weiter zu Wort kommen: „Sybille, du rufst ihre Freundinnen an. Falls sie dort auftaucht.“

„Nein.“

„Doch! Das ist genau das, was du jetzt tun wirst!“

„Damit alle wissen, was hier los ist?“

„Dann lass dir eine Ausrede einfallen, verdammt.“ Toni dachte schon, keiner würde mehr Notiz von ihr und Brehm nehmen, da fauchte Alexander Steiner: „Und ihr verschwindet hier.“

„Nein!“ Anscheinend reichte es Sybille Steiner, bei ihrem Mann immer abzublitzen. Sie stellte sich ihm in den Weg und deutete auf Brehm. „Er arbeitet noch immer für mich. Und er wird auch nach Zoe suchen.“ Ihre Stimme hatte einen irritierend triumphalen Klang. Sie starrte ihn kühl an.

„Mach doch, was du willst“, zischte Alexander Steiner und verschwand aus dem Zimmer, Paul Herz folgte ihm.

Was war hier los? Wer schützte hier wen?

„Wo kann Zoe sein?“, fragte Toni.

Doch Sybille Steiner beachtete sie nicht. „Haben Sie ein Auto?“, fragte sie Brehm. Als er nickte, gab sie ihm ein Zeichen mitzukommen.

Brehm blieb stehen und machte keine Anstalten, Sybille Steiners Aufforderung zu folgen. Sie zog ihren Strickmantel enger, strich sich die Haare aus der Stirn. Ihre Hand zitterte.

„Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht …“ Sie atmete tief ein. „Ich fühle mich gerade nicht in der Verfassung, selbst zu fahren. Und es gibt einen kleinen Park, nicht weit von hier. Zoe war früher manchmal dort zum Skaten.“

Sie schien sich wieder gefasst zu haben. Fast so, als wäre sie es gewohnt, ihre Emotionen in Schach halten zu müssen.

Erst jetzt nickte Brehm ihr zu. „Meine Assistentin bleibt hier, falls Zoe auftaucht.“

„Ja, in Ordnung. Danke.“

Toni bemerkte noch Brehms drängenden Blick Richtung Schreibtisch, dann verließ er mit Sybille Steiner das Büro.

Was hatte er damit gemeint? Sollte sie den Schreibtisch weiter durchsuchen? Meinte er Ferrys Tagebücher? Oder ihre Fotos?

Toni versuchte, sich zu konzentrieren, aber ihr Puls raste. Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, öffnete sie eine Lade nach der anderen. In den seitlichen Laden waren nur Papiere, Entwürfe, Rechnungen. In der großen Lade in der Mitte lagen einige Setcards von Schauspielerinnen. Toni holte ihr Handy hervor, um Fotos zu machen. Da erst merkte sie, dass sie ihr Gespräch mit Brehm nie beendet hatte. Er war noch immer in der Leitung. Vielleicht sogar absichtlich? Sie hörte das Gespräch von ihm und Sybille Steiner mit an, es waren nur Anweisungen, wo er langfahren sollte. Vorsichtshalber legte sie nicht auf.

Brehm musste bis zu seinem Eintreffen alles mitangehört haben. Was fiel Toni gerade nicht ein? Wieso Brehms Blick zum Schreibtisch? Sollte sie ihn fragen? Er war ja noch in der Leitung. Aber wie sollte sie das anstellen, ohne dass Sybille Steiner Wind davon bekam? Diese Möglichkeit schied aus. Sie musste sich selbst erinnern.

Sybille Steiner …. Sybille Steiner … – Wovon hatte Sybille Steiner gesprochen? Das Tagebuch … die Drogen … die Fotos … Das Drehbuch. Das Drehbuch! Das war es! Sie hatte ihrem Mann vorgeworfen, mit dem Tod von Sascha Schwarz in Verbindung zu stehen. Und dabei hatte sie neben den Tagebüchern und Fotos auch das Drehbuch erwähnt. Das sie im Schreibtisch versteckt hatte. Genau, das musste Brehm gemeint haben. Aber Toni hatte doch schon alles darin durchgesehen, wieso hatte sie es dann vorhin nicht gefunden?

Erneut durchwühlte sie sämtliche Laden, aber da war kein Drehbuch. Vielleicht musste man sie ganz herausziehen? Doch sosehr Toni auch daran zog und ruckelte, es klappte nicht. Also legte sie sich auf den Boden und untersuchte die Unterseiten auf Geheimfächer hin. Aber da war nichts.

Sie stand wieder auf. Noch einmal von vorn: Sybille Steiner kannte das Drehbuch und setzte es nicht nur mit ihrem Mann in Verbindung, sondern auch mit dem Tod von Sascha Schwarz. Was hatte sie noch gesagt? Sie hatte Verstecke erwähnt! Aber wo?

Toni sah sich um, ihr Blick fiel auf die schwarze Kommode mit den Eisenbeschlägen unter dem Fenster. Ein Versteck darin, genau, das hatte sie gesagt! Vielleicht war das Drehbuch dort? Die Kommode hatte vier Fächer, zwei davon mit Klapptüren. Toni musste nicht lange suchen. In einem der Klapptürfächer befand sich an der Rückwand eine zweite schwarze Verkleidung, die sich mühelos herausziehen ließ. Doch dahinter war nur ein kleines schwarzes Lederetui versteckt, in dem sich eine geringe Menge Kokain in einem Plastikbeutel befand. Hatte Sybille Steiner nicht noch ein Versteck erwähnt? Toni versuchte, sich zu erinnern, sah sich erneut im Büro um.

Sie musste überlegen. Toni stützte sich auf die Kommode, die bedrohlich zu knarren begann. Sie ging in die Knie, lehnte sich mit dem Rücken an die Kommode und ließ ihren Blick wieder durch das Büro gleiten.

Noch ein Versteck. Sybille Steiner hatte von zwei gesprochen, Toni war sich ganz sicher. Aber da war sonst nur die geschwungene Stehlampe, der Schreibtisch, das Bücherregal dahinter … Natürlich! – Bücherwand hatte Sybille Steiner es genannt, hinter der Bücherwand.

Als Toni aufstand, blitzte im Augenwinkel etwas Weißes zwischen Schreibtischplatte und mittlerer Lade hervor. Man konnte es nur von hier aus sehen. Sie krabbelte hinüber und zog es heraus, doch es blieb bei der Hälfte stecken. Aber auch so konnte sie die Titelseite lesen: „Die verlorene Episode“ von Sascha Schwarz. Das Drehbuch. Sie hatte es gefunden!

Mit einer Hand versuchte Toni, die Tischplatte anzuheben, um es ganz herauszuziehen. Es steckte fest. Vielleicht gab es doch eine einfachere Möglichkeit. Sie umrundete den Tisch, zog von der anderen Seite des Schreibtischs mit ganzer Kraft an der mittleren Lade.

Genau in dem Moment hörte sie Schritte und Stimmen. Alexander Steiner kam zurück. „Wir werden das jetzt klären“, sagte er. „Also, wovon –“

Toni ließ die Lade los, sprang zurück, riss mit ganzer Kraft daran – endlich hielt sie das Drehbuch in der Hand.

„Was soll das? Was machst du noch da?“

Sie wirbelte herum, hielt das Drehbuch hinter ihrem Rücken.

Alexander Steiner stand in der Tür, die Hände auf die Oberarme seiner durchnässten Tochter gelegt, die er vor sich ins Büro schob. Paul Herz blickte über Steiners Schulter. Toni sah Zoe an. Das Mädchen zitterte, ihre Lippen bebten, sie weinte noch immer. Oder schon wieder. Sie durfte sie auf keinen Fall mit den beiden Männern alleine lassen.

„Los. Raus“, sagte Alexander Steiner.

„Nein.“ Toni blieb stehen, wo sie war.

Steiner kam bedrohlich auf sie zu. „Wenn du nicht gleich gehst …“ Sie hielt seinem Blick stand. „Das wird ein Nachspiel für dich haben“, sagte er. „Ein Anruf, und das Konservatorium kannst du dir abschminken.“

Zoe schluchzte weiter.

„Alexander“, Paul Herz schob sich an Steiner vorbei, er wich Tonis Blick aus. „Vielleicht bringe ich Zoe am besten auf ihr Zimmer. Sie muss sich umziehen und –“

„Nein“, unterbrach ihn Zoe weinend. Ihr Oberkörper zitterte.

„Jetzt reicht es aber“, sagte Steiner. Er nahm sein Handy, wählte eine Nummer. „Hallo, hier ist Alexander Steiner. … Ja, genau der. Können Sie bitte jemanden vorbeischicken. Hier befindet sich eine junge Frau, die mein Haus unrechtmäßig betreten hat und sich weigert zu gehen.“

Kaum hatte er aufgelegt, kamen Brehm und Sybille Steiner zurück. Toni zog das Drehbuch hinter ihrem Rücken hervor. „Hier, ich hab es.“

Doch Brehm hatte nur Augen für Zoe. Er ging an den anderen vorbei direkt auf das Mädchen zu. „Du wolltest es nicht, Zoe“, sagte er völlig unvermittelt und beugte sich zu ihr. „Es war ein Unfall, nicht wahr?“