Toni lag im Bett und starrte auf die Zimmerdecke. Es war kurz vor sechs, sie war mit klopfendem Herzen aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Der gestrige Tag ging ihr nicht aus dem Kopf.
Keiner von ihnen hatte etwas gesagt, als dieser Polizist seine Kollegen verständigte, Alexander Steiner seine Aussage machte und ihn die Beamten schließlich abführten. Es schien ein unausgesprochenes Abkommen zu herrschen zwischen den Anwesenden, die die Wahrheit gehört hatten. Zoe Steiner war wohl ein paar Mal nahe dran gewesen, doch noch alles zu erzählen, aber die Blicke ihres Vaters hatten sie zurückgehalten.
Als die Polizei abgezogen war, nahm Brehm Ferrys Tagebücher an sich. Die Fotos zerriss er und steckte die Schnipsel in seine Hosentasche. Niemand reagierte darauf. Vielleicht war es auch der Schock, der alle verstummen lassen hatte.
Brehm hatte Toni ein Zeichen gegeben zu gehen. Sie waren schon bei der Tür, als sich Toni noch einmal umdrehte. Eine Frage ließ sie immer noch nicht los: „Frau Steiner, Paul … wenn Sie beide das alles die ganze Zeit gewusst, die Tagebücher und Fotos gekannt haben … wieso haben Sie nie etwas gesagt?“ Keiner von ihnen antwortete. „War es wirklich wegen des Ehevertrags und des Jobs?“
Herz drehte sich weg, Sybille Steiner sah Toni regungslos an. Langsam schüttelte sie den Kopf, griff nach der Hand ihrer Tochter. Und verließ ohne ein Wort mit ihr das Zimmer.
„Es gab nie einen Ehevertrag“, sagte Herz. „Das hat Alexander immer seinen … er hat es den Frauen erzählt, als Begründung, warum er sich nicht scheiden lassen kann.“ Er sah zu den Tagebüchern in Brehms Hand. „Bringen Sie die Anna?“
Brehm nickte. Herz trat zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann folgte er Sybille Steiner und ihrer Tochter. Dieses Problem würde er nicht lösen können.
Toni und Brehm gingen schweigend zum Auto, erst als sie drinsaßen, fragte er: „Macht es Ihnen was aus, wenn wir einen kurzen Umweg nehmen? Danach bringe ich Sie nach Hause. Der Vertrag hat Zeit bis morgen.“
Toni nickte, und Brehm schaltete das Radio ein. Toni war dankbar dafür, sich von der Stimme des Moderators ablenken zu lassen. Doch wie lange würde es dauern, bis die Neuigkeiten an die Öffentlichkeit gelangten? Würde man Steiner überhaupt glauben, dass er den Mord begangen hatte? Toni versuchte einzuordnen, was in seinem Büro eben geschehen war: Hatte er die Tat auf sich genommen, um seiner Tochter einen Prozess zu ersparen? Oder weil er sich für das große Ganze verantwortlich fühlte? War es der Preis, der nun zu zahlen war für alles, was Steiner in den letzten Jahren getan hatte? Was passierte nun mit Zoe Steiner?
Der Regen hatte endlich aufgehört und strahlendem Sonnenschein Platz gemacht, als sie bei einem Wohnhaus im neunten Bezirk hielten, vor dem ein paar der Lkws der Filmproduktionsfirma standen.
„Ist sie hier?“, fragte Toni.
Brehm nickte. „Sie mussten wegen des Regens den Drehort wechseln“, murmelte er. „Laut Herz wollte Steiner am Weg dorthin kurz zu Hause vorbeifahren, Notizen holen. Wäre er nicht gekommen …“
Er stieg aus, ohne den Satz zu beenden, sprach einen der Securitymänner an und kehrte wieder zurück.
„Sie kommt gleich“, sagte er und setzte sich ins Auto.
Anna Ferry trat voll kostümiert aus dem Gebäude, der Securitymann deutete auf den Wagen, und sie schritt aufgebracht in ihre Richtung. Sie schien mehr als ungehalten über die Störung.
Brehm ließ das Fenster herunter. „Auf der Rückbank liegt etwas für Sie.“
Ferry bemerkte Toni und war sichtlich überrascht, sie hier zu treffen. Dann entdeckte sie die Hefte auf der Rückbank. „Sind das …?“
Brehm nickte, und die Schauspielerin öffnete sofort die hintere Tür. Doch statt sich die Tagebücher zu nehmen, stieg sie ein.
„Was wollen Sie dafür?“, fragte sie Brehm.
„Nichts. Sie gehören Ihnen.“
Ferry stieß einen erstaunten Laut aus. „Wo ist Alexander?“
Brehm schüttelte den Kopf. Er griff in seine Hosentasche, reichte ihr die Fotoschnipsel. „Das sind Ihre. Wir müssen los“, sagte er, doch Anna Ferry dachte nicht daran auszusteigen.
„Du gehörst zu ihm?“, fragte sie Toni. „Paul hat gesagt, du hast mit der Instagram-Sache gelogen und bist eine Schauspielschülerin?“
„Stimmt beides.“
„Welche Schule?“
Die Frage überraschte Toni. Bis jetzt hatte sie vermieden, Ferry anzusehen, nun drehte sie sich um. „Konservatorium, erstes Jahr.“
Ferry lächelte, es wirkte fast wehmütig. Ihr Blick lag auf den Fotoschnipseln, die sie so fest in der Hand hielt, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
„Du hast Glück.“
„Wegen der Schule?“
„Nein. Weil sich die Zeiten ändern. Hoffe ich.“
Sie sah auf die Hefte. „Ich dachte nie, dass … Ich hab immer Tagebuch geschrieben. Bereits als Kind. Wenn ich schreibe, kann ich besser denken.“ Sie schaute geistesabwesend aus dem Seitenfenster.
„Er hat mich gefragt, ob ich die Angst in mir loslassen kann“, sagte Toni. Es war eine Erleichterung, das auszusprechen.
Anna Ferry nickte, ohne den Blick abzuwenden. „Es … damals … mit Alexander … ich war mir am Anfang nicht sicher, was das ist. Es war verwirrend. Tief im Inneren wusste ich, es war nicht richtig. Aber … ich war geschmeichelt. Am Anfang. Dumm, oder? Dann wollte ich es beenden. Er hat mir gedroht. Wenn ich das tue, würde ich nie wieder als Schauspielerin einen Job bekommen.“ Sie strich sich über den Trenchcoat. „Also hab ich geschwiegen. Nachdem ich diesen Zusammenbruch hatte, hat er sich distanziert. Vielleicht hat er mich auch einfach nur ersetzt. Mir ging es immer schlechter. Ich musste irgendwas tun. Darum hab ich ihn abgepasst und ihm dieses Heft gegeben, mit dem Sie gestern angekommen sind.“ Sie machte eine Kopfbewegung Richtung Brehm. „Alexander ist zu mir nach Hause gekommen. Er ist ausgerastet. Hat mich gezwungen, ihm alle Tagebücher zu geben. Als Gegenleistung für … eine Karriere. Und ich“, sie biss sich auf die Lippen. „Ich habe mich darauf eingelassen.“
„Aber wieso, du bist so eine gute Schauspielerin, du hättest es doch –“
„Weißt du, wie viele Jahre ich arbeitslos war, in Cafés und bei allen möglichen Events gejobbt hab? Vielleicht war ich damals auch einfach nicht gut genug? Vielleicht bin ich besser geworden? In diesem Beruf hat man Glück. Oder man bekommt die Chance, reinwachsen zu dürfen. Wenn jemand etwas in dir sieht, an das du zwar glaubst, das du dann aber doch nicht zeigen kannst. So absurd es klingt: So jemand war Alexander. Er hat es gesehen. Trotz allem.“
Dachte sie das wirklich? Oder war es eine Rechtfertigung, die es ihr leichter machte, das alles zu ertragen?
„Wieso hat er Ihre Tagebücher nicht vernichtet?“, fragte Brehm.
„Um etwas gegen mich in der Hand zu haben. Einen Beweis für unser … Gegengeschäft. Falls ich mal auf die Idee komme zu reden.“ Sie verstummte.
„Das wolltest du ja auch nie“, sagte Toni. Sie konnte die Enttäuschung nicht verbergen.
„Doch“, verteidigte sich Ferry. „Ich wollte es immer wieder. Und dann, als #MeToo kam, habe ich mir gedacht, jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Vielleicht war es feig. Ich hab ja nur beschlossen, mich anzuschließen … Aber dieses Lügen, es sollte endlich ein Ende haben. Dann habe ich gesehen, wie in der Öffentlichkeit mit den Frauen umgegangen wird, die sich melden.“ Sie senkte den Blick.
„Und Hermann Thiel? Hat er sich deshalb von dir getrennt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nicht er wollte diese Trennung. Sondern ich. Er war erschüttert, als er durch das blöde Spiel davon erfahren hat. Hat gesagt, wir müssen die Dreharbeiten sofort abbrechen. Er war so außer sich, wollte Alexander damit konfrontieren. Aber was hätte das für einen Sinn gehabt? Dann wäre es öffentlich geworden. Alles, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut habe … Wir wussten doch beide, wie in den Medien damit umgegangen wird. Darum haben wir ja sogar unsere Beziehung vor der Presse geheim gehalten, um unsere Ruhe zu haben.“ Sie fixierte Toni. „War ich feig? Sicher war ich das. Aber nur weil ich diesen Beruf ausübe, hab ich kein Recht, feig zu sein? Beim Spielen kommt es darauf an, wie sensibel, empfindsam, durchlässig du bist. Aber wie kommt man damit im echten Leben zurecht?“ Ferrys Blick war klar und mitleidslos. „Ich wollte immer nur Schauspielerin sein. Arbeiten und davon leben können. Nichts weiter.“
Und dann war sie einfach ausgestiegen, und Brehm hatte Toni nach Hause gebracht.
Toni zog sich die Decke bis unters Kinn. Sie fühlte sich so alleine wie schon lange nicht mehr. Sie sollte aufstehen, sich einen Kaffee machen, duschen, anziehen. Aber sie war einfach zu erschöpft. Vielleicht auch einfach nur zu traurig.
Antriebslos blieb sie liegen, bis ihr Handy einen Benachrichtigungston von sich gab.
Es war Brehm: Sind Sie wach? Ich komme gerade von Kubra.
Sie rief ihn sofort an. „So früh?“
„Konnte nicht schlafen. Und ich dachte mir, die Chance, ihn anzutreffen, ist jetzt am höchsten.“
„Und?“
„Er ist nicht gerade ein angenehmer Zeitgenosse. Das Geld ist weg. Aber ich hab wenigstens zwei Schmuckstücke zurückbekommen. Einen Brillantring und eine Perlenkette.“
„Wie haben Sie das gemacht?“
„Manchmal ist es ganz hilfreich, dass ich früher bei der Polizei war. Ich hab ihm gesagt, er kann mir geben, was er hat. Oder er bekommt Besuch von meinen ehemaligen Kollegen. Das hat ihn überzeugt. Die restlichen Schmuckstücke hat Meier angeblich selbst verkauft.“
Toni setzte sich auf. Sie hatte damit gerechnet, trotzdem war es ein Schlag, das alles zu hören. Besonders, nachdem sie Felix und Lena gestern zusammen gesehen hatte. Die bis jetzt nicht zurückgerufen hatte.
„Sonst ist also alles weg.“
Toni kamen die Tränen.
„Ja. Wie ich vermutet habe. Meier ist ein Spieler. Er ist in ein paar dubiose Geschäfte verwickelt. Und …“ Er räusperte sich.
„Was?“
„Toni, es tut mir wirklich leid. Anscheinend sind Sie nicht die einzige Freundin, deren Geld er sich geholt hat. Sofern Kubra die Wahrheit sagt, wovon ich ausgehe. Er war bis vor einem Jahr im Gefängnis und hat keine Lust auf einen weiteren Aufenthalt.“
Sie lehnte sich nach hinten in die Kissen und schloss die Augen.
„Können Sie mich abholen?“, fragte sie. „Ich muss was erledigen. Da hätte ich Sie gerne dabei.“