36

Obwohl Lena völlig verschlafen war, als sie öffnete, konnte Toni ihr ansehen, wie erschrocken sie war. Nicht nur, dass Toni um diese Uhrzeit vor ihrer Tür stand, sondern dass sie auch noch Brehm im Schlepptau hatte.

„Du … was …?“, stammelte Lena in ihrem Pyjama.

„Ich will Felix sprechen.“

„Was? Aber du … wieso?“

„Ich weiß es, Lena. Ich habe euch gesehen.“

Lena drehte sich um und sah in ihre Wohnung. „Nicht so laut, er schläft –“

„Das ist mir scheißegal! Wie lange ist das schon gelaufen?“ Toni musste sich zurückhalten, um nicht zu heulen.

Sie schien Lena mit dieser Frage getroffen zu haben, sie zuckte zurück und schüttelte heftig den Kopf. „Da ist nichts gelaufen. Es ist nicht so, Toni …“ Sie sah zu Brehm, schien abzuwägen, ob seine Anwesenheit sie störte, und sagte dann: „Einen Moment.“

Lena verschwand in der Wohnung, kam nach ein paar Sekunden zurück, trat mit ihren nackten Füßen auf den Steinboden im Treppenhaus und zog vorsichtig die Tür hinter sich zu.

„Hier.“ Sie reichte Toni ein zusammengerolltes Geldbündel – das mussten um die zwanzig Hunderteuroscheine sein. „Das ist alles, was er bei sich hatte“, flüsterte sie. „Ich hab ihm gesagt, er kann ein paar Tage hier bleiben. Ich glaub, da kommt noch mehr.“

„Was ist das?“

„Dein Geld. Das gehört dir. Er glaubt, ich steh auf ihn.“ Lena verdrehte die Augen.

„Das tust du nicht?“

„Was? Natürlich nicht. Er ist vorgestern in der Nacht angekommen, hat gesagt, dass du ihn rausgeworfen hast“, flüsterte sie. „Hat geheult, der Gschichtldrucker. Ich hab so getan, als würd mich das alles total interessieren, weil er doch so toll ist. Der Arsch. Hab ihm sagen müssen, wir können keinen Sex haben, weil ich doch deine Freundin bin und es nicht übers Herz bringe, aber immer schon in ihn verliebt war. Darum konnt ich dich auch nicht anrufen, ich hab Angst gehabt, er kriegt was mit. Er schläft im Wohnzimmer, während ich einen auf Ophelia mache. Und sein Geld hat er bei mir versteckt. Aber der Depp hat nicht bemerkt, dass ich die Laptopkamera die ganze Zeit laufen lasse, wenn er da ist. Er denkt, der Computer ist an, damit er ihn benutzen kann.“

„Du machst was?“

„Lena“, kam es von drinnen. „Lena, wo bist du?“

„Scheiße“, sagte Lena noch, da öffnete Felix bereits die Tür.

Er sah die Scheine in Tonis Hand, schaute zu Lena, als könnte er nicht verstehen, was da vor sich ging. „Das ist … woher hast du das?“ Er griff nach der Rolle, doch Brehm war schneller und packte ihn am Handgelenk.

„Loslassen“, sagte Brehm. Seine Stimme klang bedrohlich.

Das schien zu wirken. Felix ließ los, ging wütend zurück in die Wohnung und kam wenig später vollständig bekleidet mit Rucksack heraus.

„Und ich hab dir vertraut“, giftete er Lena an.

„Es war mir ein Vergnügen, du Arschloch“, sagte Lena und wirkte dabei fast fröhlich.

„Toni“, begann Felix, „können wir kurz reden? Alleine?“

Mit seinen großen Augen sah er sie sehnsuchtsvoll an. Es war dieser Blick, mit dem er ihr gesagt hatte, wie sehr er sie liebte. Den sie so sehr vermisst hatte.

Sie trat einen Schritt näher zu ihm. Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, seine Wange an ihrer Wange. Sie spürte seine Bartstoppeln, die sie so oft beim Küssen gekratzt hatten.

„Ich bin nur hergekommen, weil ich dir sagen wollte, dass ich dich angezeigt habe“, flüsterte sie in sein Ohr.

Während der ganzen Fahrt in die Detektei warf ihr Brehm immer wieder Seitenblicke zu. Als müsse er sich vergewissern, dass es ihr gut ging.

„Es ist alles okay“, sagte Toni schließlich. Obwohl sich das nicht so anfühlte. Toni wollte bei Lena bleiben. Sie verstand noch immer nicht, wie sie ihre Freundin hatte verdächtigen können.

„Seien Sie nicht so streng zu sich. Das war alles ein bisschen viel“, beruhigte Brehm sie.

Er bestand darauf, dass sie das Bürokratische endlich hinter sich brachten, bevor der unvermeidliche Behördenbesuch wegen der Geschichte mit Steiner vor der Tür stand. Also hatte Toni mit Lena ausgemacht, sich in einer Stunde zum Frühstück am Naschmarkt zu treffen.

„Mit Herrn Meier, da haben Sie mir eben sehr imponiert“, sagte Brehm.

„Wissen Sie, was ich nicht verstehe? Dieser letzte Satz in dem Tagebuch. Den hat Sybille Steiner geschrieben, nicht wahr?“

Brehm nickte.

„Aber warum? Sie dachte doch wirklich, ihr Mann hat Sascha Schwarz umgebracht. Damit hätte sie den Verdacht von ihm abgelenkt.“

„Das Drehbuch.“

„Bitte?“

„Sie hat von dem Drehbuch erzählt, in dem die Schauspielerin versucht, den Regisseur zu erpressen. Ich denke, darum hat sie es in das Tagebuch geschrieben. Um die Spur zu verdichten.“

Brehm parkte gerade ein, da läutete sein Handy. Weil sich hinter ihm bereits eine Kolonne gebildet hatte, bat er Toni, den Anruf entgegenzunehmen.

„Hier bei Brehm“, antwortete Toni.

„Oh, hallo. Hier ist Vincent Blum. Kann ich Herrn Brehm sprechen?“

„Einen Moment.“

Brehm stellte den Motor ab, und Toni drückte ihm das Handy in die Hand. Als sie Vincent Blums Namen nannte, breitete sich ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

„Hier Brehm … das freut mich“, sagte er und öffnete die Autotür. „Nein, nein, ein Honorar ist nicht nötig. Sie haben mich ja nicht –“ Plötzlich stoppte er mitten im Aussteigen. „Wie bitte?“, fragte er laut. „Das … ähm …“, stammelte er.

Wurde Brehm gerade rot? Toni trat neben ihn. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er noch immer den Autoschlüssel vor das Schloss hielt, als hätte ihn jemand versteinert.

„Es ist gerade ungünstig, ich rufe Sie zurück … Was? … Nein, das ist keine Ausrede … Ja, ich würde es sagen, wenn es so wäre. Ich melde mich.“

„Will er ein Date mit Ihnen?“

Die Frage hatte Toni halb im Scherz gemeint, doch Brehms Blick sprach Bände. Er schüttelte den Kopf – ob er damit Vincent Blum oder seine Antwort meinte, wusste sie nicht.

„Und gehen Sie mit ihm aus?“

Brehm schüttelte erneut den Kopf und ging in die Detektei. Erst als er hinter seinem Schreibtisch saß, Toni auf dem Thron Platz genommen hatte und er ihr den Vertrag zur Unterschrift hinhielt, fragte sie ihn: „Warum nicht?“

„Warum? Er ist zwanzig Jahre zu jung. Mindestens“, brummte er.

„Na und? Vielleicht ist das ja gut für Ihr Herz.“

Brehm zog eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts darauf. Stattdessen griff er in die Schreibtischschublade und reichte ihr ein prall gefülltes Kuvert.

Schon beim ersten Blick hinein wusste sie: Es war zu viel Geld.

„Ich möchte dazu keinen Kommentar hören“, sagte er. „Es sollte für die Rückstände in der Seniorenresidenz und die nächsten beiden Monate reichen.“

„Danke, Herr Brehm, ich –“

Er winkte ab, doch sie stand auf, und er sah sie ein wenig erschrocken an, als sie neben seinen Stuhl trat.

„Was?“, fragte er.

Toni musste sich fast gar nicht hinunterbeugen, als sie ihn umarmte. Wenn sie stand und er saß, waren sie annähernd gleich groß.

Brehms Körper fühlte sich fester an, als sie erwartet hatte. Im ersten Moment schien er sich zu verkrampfen, doch dann entspannte er sich, sein Muskelkorsett gab nach. Er tätschelte ihr unbeholfen den Rücken.

An der Tür waren Kratzgeräusche zu hören.

Toni ließ ihn los, sah noch, wie er verlegen lächelte, als sie die Tür öffnete.

Der Kater sah zu ihr hoch und miaute vorwurfsvoll.

„Sie hatten recht.“ Brehm war neben sie getreten. Er hatte die Arme verschränkt, vielleicht hatte er Angst, sie könnte ihn sonst noch einmal umarmen. Körperliche Nähe war er eindeutig nicht gewohnt. „Er heißt Kater wegen ‚Frühstück bei Tiffany‘“, sagte er.

Die beiden lächelten einander an und reichten sich die Hand zur Verabschiedung.

Toni hörte noch, wie Brehm den Kater um Entschuldigung dafür bat, dass er schon wieder kein Fressen für ihn besorgt hatte, als sie die Treppe hinunterging.

Der Supermarkt war nicht weit. Sie kaufte vier Dosen der teuersten Sorte und einen Sack Trockenfutter.

Als sie zurückkam, stand die Tür zu Brehms Detektei offen. Er saß hinter dem Schreibtisch und bemerkte sie nicht, da er gerade telefonierte.

„Hallo, Kurt“, sagte er ins Handy. „Ich bin’s, Edgar. Wie geht’s dir?“

Um ihn nicht zu stören, stellte Toni das Katzenfutter so leise wie möglich ab und schloss die Tür des Büros. Während sie die Treppe erneut hinabstieg, wurde ihr warm ums Herz.

Lena wartete bereits im Schanigarten ihres Lieblingslokals am Naschmarkt. Sie studierten die Speisekarte, entschieden sich wie immer für ein griechisches Frühstück mit Kaffee, und Toni bestellte sich auch gleich noch ein Schokocroissant dazu. Sie war vollkommen ausgehungert.

„Es tut mir so leid, dass ich auch nur einen Moment geglaubt hab, du und Felix … also dass da was laufen könnte von deiner Seite“, sagte Toni zu Lena, als die Kellnerin ihre Bestellung aufgenommen hatte. „Und das soll wirklich keine Ausrede sein, aber in letzter Zeit warst du so anders, und dann hast du im Unterricht geweint, und als ich dich und ihn in der U-Bahn gesehen habe … ich hab mich einfach nicht mehr ausgekannt. Entschuldige, es tut mir wirklich, wirklich leid.“

Lena verschränkte nachdenklich die Arme und lehnte sich zurück.

„Was?“, fragte Toni. „Bist du mir böse?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht.“

„Was ist es dann?“

„Es gibt da wirklich was.“

Toni spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. „Was ist los?“

„Ich glaub nicht, dass ich auf die Schauspielschule gehöre.“

„Was?“

„Ich glaube, ich bin einfach keine Schauspielerin.“ Sie klang verzweifelt. „Ich wäre gerne eine, ich dachte, ich bin eine, und alle hätten sich geirrt, die mich nicht aufgenommen haben. Aber ich glaube, nicht die haben sich geirrt. Sondern ich.“

„Ich versteh nicht, was du meinst, Lena.“

„Ich werde die Schule hinschmeißen.“

„Moment mal, hat die Schmitz was gesagt?“

Lena schüttelte den Kopf. „Nein, und darum geht es auch nicht …“

„Du hast es so viele Jahre versucht, und dann, nachdem es endlich geklappt hat, willst du hinschmeißen?“

„Ja, genau, davon red ich doch. Wie eine Irre bin ich von Aufnahmeprüfung zu Aufnahmeprüfung getingelt. Ich war eine Kämpferin, ich hab einfach nicht aufgegeben. Das war mein Ziel, dafür hab ich beschissene Jobs angenommen, um mir die Vorbereitung für die Aufnahmeprüfungen, die Flug- und Zugtickets zu leisten. Und jetzt bin ich drin, sogar in der, in die ich am meisten wollte, und alle sind so emotional und spüren so viel und drücken ihre Gefühle aus. Und bei mir? Nix. Nada. Ich fühle gar nichts. Ich kann das einfach nicht. Ich glaub, ich hab mir die ganzen Jahre nur was vorgemacht.“ Toni wollte etwas sagen, aber Lena sprach weiter und ließ sich auch von der Kellnerin, die den Kaffee brachte, nicht ablenken. Sie lehnte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. „Wie ich bei dieser Übung von der Schmitz alle gehört hab, wie sie brüllen und seufzen und loslassen. Ich hab es so versucht. Aber bei mir war da nix mit brüllen und seufzen und loslassen. Und darum hab ich geheult. Es ist ja nicht nur in ihrer Stunde so, sondern auch in den anderen.“ Sie seufzte, senkte den Kopf. „Ich sag irgendwelche Texte auf, und ich denk mir, wie lang dauert es noch, bis sie draufkommen, dass es ein Fehler war, mich aufzunehmen? Dass ich nix kann. Am Anfang hab ich mir noch gedacht, das wird sich schon irgendwann ändern. Aber je mehr ich euch alle sehe und je mehr ich dich gesehen hab … dir fällt das alles so leicht, und ich fühl mich immer mehr wie die totale Versagerin.“

„Lena“, Toni beugte sich vor und legte ihre Hand auf die ihrer Freundin. „Ich sage dir das jetzt mit Liebe und Wertschätzung: Du hast einen Knall.“

Verwundert zog Lena die Augenbrauen zusammen.

„Es ist überhaupt kein Wunder, dass es dir so geht“, fuhr Toni fort.

„Doch, das ist ein –“

„Nein, ist es nicht. Du hast dir den Arsch aufgerissen, um aufgenommen zu werden. Und jetzt machst du dir die ganze Zeit einen irren Druck, du lässt dir nichts durchgehen, kontrollierst dich, um nur ja nicht zu versagen.“

„Ja. Und das soll nicht so sein.“

„Ich weiß nicht, ob es so sein soll oder nicht. Und du weißt das auch nicht.“

„Aber das ist doch Scheiße.“

„Ja, vielleicht ist das Scheiße, aber soll ich dir was sagen? Aus jeder Scheiße wird irgendwann auch mal Dünger.“

Sie sahen sich an und prusteten laut los.