1914
Es war schon eine halbe Stunde nach Mitternacht, als Alice sich aus dem Haus stahl. Diesmal nahm sie eine andere Route zum Fluss. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Haus Augen hatte, die sie beobachteten, aber alles war dunkel und still, nur der Geruch nach ausgeblasenen Kerzen und gelöschten Öllampen lag in der Luft.
Drüben, am kornischen Ufer, war es frischer. Regen zog auf. Sie hoffte, das Wetter würde halten, bis sie wieder in Abbotswood House war.
Sie schlich zum Cottage in der Hoffnung, Zach würde draußen auf sie warten, doch stattdessen hörte sie Stimmen. Edmund. Was zum Teufel hatte er hier zu suchen?
»Um Himmels willen, Zach, das ist kein Spiel!«, hörte sie ihn sagen.
»Das weiß ich«, erwiderte Zach ruhig.
»Was denkst du, wie hoch du pokerst? Glaubst du wirklich, die anderen würden nichts bemerken?«
»Niemand sieht uns zusammen.«
»Das stimmt nicht. Du hast sie heute zum Haus zurückbegleitet, und mindestens zehn Leute haben das Spektakel verfolgt. Mein Gott, ihr beide habt förmlich geglüht im Nachmittagslicht.«
Alice trat lautlos ans Fenster und beobachtete, wie Edmund an den Kamin trat.
»Ist dir klar, wie ihre Zukunft aussieht?«, fragte Zach.
»Nichts Schlimmes.« Edmund wirbelte herum. Im Licht der Flammen sah Alice sein Gesicht. Er hatte noch nie so ernst dreingeblickt. »Nein, das ist nicht ganz richtig. Es gibt bereits Gerede, dass sie mental instabil sei und dass man sie fortschicken wird, wenn sie nicht bald einen Ehemann findet.«
»Nein.« Zachs Stimme wurde lauter.
Alice fasste sich an die Kehle. Ihre Beine gaben nach, sie sackte zu Boden. Ihre Ohren rauschten.
»Was ist mit dir? Du kannst dir gar nicht vorstellen, was man mit dir machen wird, wenn die Sache auffliegt, und ich werde kaum in der Lage sein, dich zu schützen.«
Schweigen. Auf allen vieren krabbelte Alice hinter ein Gebüsch und gab sich alle Mühe, klar zu denken. Edmund durfte sie hier nicht sehen. Die Tür schwang auf, und ihr Freund aus Kindertagen stürmte heraus, dann blieb er stehen und drehte sich um. »Zach, ich würde alles für dich tun, aber sei um Himmels willen kein gottverdammter Narr. Ruiniere nicht euer beider Leben.« Damit marschierte er hinunter zum Fluss.
Alice erbebte, als sie sah, wie sich Zach mit den Fingern durchs Haar fuhr. Sie wollte zu ihm laufen, aber zunächst musste sie sich sicher sein, dass Edmund fort war. Sie konnte nur hoffen, dass er in Abbotswood nicht nach ihr suchte. Gerade als Zach die Tür schließen wollte, sprang sie auf. Er erstarrte.
»Zach«, wisperte sie und rannte zu ihm. Er zog sie nicht in seine Arme, stattdessen trat er zur Seite und ließ sie eintreten, bevor er fest die Tür hinter ihnen schloss. Edmunds Worte hingen zwischen ihnen in der Luft. Sie spürte die Macht, die ihnen innewohnte, aber sie würde nicht zulassen, dass sie ihre Liebe zu ihm besiegten.
»Ich habe alles gehört.« Sie stemmte die Hände in die Seiten und nahm am Tisch Platz.
Er riss die Augen auf.
»Ja, vielleicht nicht alles, aber doch genug, um zu wissen, warum du so distanziert bist.«
Er setzte sich ihr gegenüber. Zwischen ihnen auf dem Tisch stand das mitternächtliche Festmahl, das er wie bei jedem ihrer Besuche für sie vorbereitet hatte. Diesmal hatte er eine Schale Himbeeren gepflückt, dazu gab es Schinken und Brot. Sie kämpfte gegen die Tränen an. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren.
»Noch ist nicht alles verloren«, behauptete sie.
Wieder strich er sich mit den Fingern durch die Haare. »Wie kannst du das sagen?«
»Edmund durchschaut uns, weil er uns beide kennt.«
»Und was ist mit Nanny?«
Alice holte tief Luft. »Sie hat uns nicht zusammen erlebt.«
»Du hast gehört, was Edmund gesagt hat, Ali. Ich darf nicht zulassen, dass dir das passiert!«
»Ich habe es ebenfalls gehört, aber für seine Behauptungen gibt es keine Beweise. Wir müssen eben vorsichtig sein.« Sie stand auf.
»Aber wie?«
Sie dehnte den Nacken, sortierte ihre Gedanken und verdrängte ihre Furcht. »Keine Angelausflüge in der nächsten Zeit.«
Er nickte. »Wie werden wir uns verständigen?«
Sie strich sich nachdenklich mit der Hand über den Mund, während sie sich in seinem Cottage umsah. »Notfalls mit Federn und Fliegen und Büchern«, antwortete sie schließlich.
Er stand auf und schritt unruhig im Zimmer auf und ab. »Das könnte funktionieren.«
»Wir brauchen Zeit, um das Diadem zu verkaufen, die Papiere aufzutreiben und unsere Schiffspassage zu buchen.« Sie holte tief Luft. »Ich weiß nichts von einem Plan, mich von hier fortzuschicken, und ich werde brav sein. Eine perfekte Dame.« Sie lachte trocken. »Ich werde im Haus sitzen und nähen und lesen und Fliegen binden. Ich werde Nanny bei ihren kurzen Spaziergängen durch die Gärten begleiten und unterwegs das Sonettbuch für dich hinterlegen.«
»Wir brauchen einen Code.« Er rieb seinen Nacken. »Als Kinder haben Edmund und ich uns einen ausgedacht.«
Alice schüttelte den Kopf. »Er wird ihn wiedererkennen.«
»Er wird nicht ewig hier sein.« Er blieb am Feuer stehen.
Sie musste sich zwingen, sich nicht in seine Arme zu stürzen, denn das durfte sie nicht, wenn sie sich einen Plan zurechtlegen wollten. »Du hast recht.«
Er sah sie an. In seinem Blick lag so viel Gefühl, dass sie es nicht länger aushielt und zu ihm ging, doch dann blieb sie stehen. Sie musste Distanz halten, jemand hätte sie durch das Fenster beobachten können. Wer wusste schon, ob dieser fürchterliche Evans nicht auch zu nachtschlafender Zeit durch die Gegend schlich? »Ich bin immer noch deine Verlobte, Zach. Ich werde dich heiraten, und wir werden gemeinsam nach Amerika gehen.«
»Das wünsche ich mir von ganzem Herzen«, pflichtete er ihr bei.
»Genau wie ich.« Sie drehte sich um und wandte sich zur Treppe. »Vielleicht ist das unsere letzte Chance: Bitte komm mit mir und liebe mich.«
»Ja«, sagte er und folgte ihr die Stufen hinauf.
Es regnete heftig, als sie den Fluss überquerte, doch es wurde bereits hell. Es hatte länger gedauert als gedacht, ihr den Geheimcode seiner Kindheit beizubringen, aber sie hatten es geschafft, und er hatte eine Karte angefertigt, auf der die Orte eingezeichnet waren, an der sie ihre Nachrichten hinterlassen konnten. Alice zog das Boot ans Ufer und huschte am Schwimmteich vorbei. Auf diesem Weg konnte sie ungesehen ins Haus gelangen. Selbst um diese frühe Uhrzeit stieg schon Rauch aus den Kaminen. Jetzt hing alles davon ab, dass sie ihre Rolle als untadelige Dame perfekt spielte. Doch zuvor würde sie noch eine letzte Runde im Teich drehen.
Sie zog sich aus und stürzte sich ins Wasser. Ihre Haut spannte sich vor Kälte, doch sie pflügte in großen, ungleichmäßigen Zügen durch den Teich. Gräser strichen um ihre Beine, erinnerten sie an Zachs Hände auf ihrer Haut. Sie tauchte unter und ließ die Pflanzen ihre Brüste liebkosen. Als sie an der Leiter wieder an die Oberfläche kam und nach den Sprossen griff, sah sie Edmund am Ufer stehen. Sie erstarrte.
»Guten Morgen, Schlingelchen.« Er stand direkt neben ihrer Kleidung.
»Morgen.« Sie zitterte im kalten Wasser.
»Vielleicht solltest du herauskommen und dich anziehen. Ganz gleich, wie schön du nackt bist, wirst du in mir keine Leidenschaft entfachen, das weißt du. Allerdings kann ich meine Hand nicht für den Jäger ins Feuer legen, der Patrouille geht, weil man einen Jungen gesehen hat, der nachts das Gelände durchstreift.« Er verschränkte die Arme vor der Brust.
Sie stieg aus dem Wasser und streifte hastig ihre durchweichte Kleidung über. Edmund schwieg, und Alice wünschte sich inständig, er würde etwas sagen. Irgendetwas. Als sie angezogen war, drehte sie ihre Haare zu einem Knoten und setzte den Hut auf.
»Du gibst einen ausgesprochen attraktiven Jungen ab, aber lass den Hut weg«, sagte er.
Sie warf ihm einen Seitenblick zu.
»Ich möchte nicht, dass der Jäger dich wiedererkennt.«
»Oh.« Sie drehte den Hut in den Händen.
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Ihr fiel auf, dass Zach genau die gleiche Bewegung machte, wenn er nervös war. »Nanny ahnt etwas.«
»Nein.« Alice schloss die Augen, um das auszublenden, was er ihr klarzumachen versuchte.
Er schüttelte den Kopf. »Alice, du warst in der Vergangenheit vieles, aber niemals dumm.«
Sie wirbelte zu ihm herum und funkelte ihn an.
»Spar dir die Kraft. Du wirst sie brauchen, um dich und ihn zu retten.«
Sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.
»Bitte spar dir deinen Trotz. Ich weiß, dass du ihn liebst, was mich nicht überrascht.«
Alice machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch Edmund fuhr fort: »Schlingelchen, wenn du ihn liebst, wirst du fortgehen. Sollte eure Affäre auffliegen, wird man ihn vernichten.«
Sie ballte die Hände zu Fäusten.
»Du bist die Tochter eines Dukes, und er ist ein Flussmeister, der nie mehr eine Arbeit finden wird. Er hat nichts anderes vorzuweisen als seine Liebe zu Shakespeare, und die wird ihm keine neue Anstellung eintragen.«
Dem konnte sie nicht widersprechen. Ihre Schultern sackten herab.
»So ist es schon besser.« Er räusperte sich. »Nanny späht aus dem Fenster, wie es alle Gouvernanten zu tun pflegen. Sieh um Himmels willen zu, dass sie uns das hier abkauft, Schlingelchen.«
Alice drückte den nassen Hut fest zusammen, dann kehrte sie mit Edmund zum Haus zurück. Der Regen prasselte auf sie herab. Sie stellten sich in der Laube im Garten vor dem Kinderflügel unter. Nanny kam aus dem Haus und gesellte sich zu ihnen.
»Guten Morgen.« Edmund schenkte Nanny sein charmantestes Lächeln. »Ich bin froh, dass ich mich ertüchtigt habe, solange der Regen noch gnädig war.« Er wedelte elegant mit der Hand. »Ich glaube kaum, dass er heute noch nachlässt.«
Nanny schaute in Richtung Wald auf der anderen Seite des Tamar. Alice hielt den Atem an.
»Da pflichte ich Ihnen bei, Lord Edmund.« Sie wandte sich an Alice und musterte deren durchweichte Kleidung. »Waren Sie wieder einmal schwimmen, Alice?«
Alice nickte stumm.
»Ich halte das für wenig angebracht.« Nanny zog tadelnd eine Augenbraue in die Höhe.
Wieder nickte Alice.
»Ich wünsche Sie zu sprechen, sobald Sie die nasse Kleidung gewechselt haben. Das Gleiche gilt für Sie, Edmund. Sie sind ja ebenfalls völlig durchweicht.«
»Selbstverständlich, Nanny.« Er senkte leicht den Kopf und verschwand im Haus.
Nanny konzentrierte sich auf Alice. »Ich hoffe nur, dass Sie nicht zu weit gegangen sind, junge Dame.« Damit drehte sie sich um und kehrte zurück in das kleine Zimmer im Kinderflügel.
Mit hämmerndem Herzen hastete Alice in ihr Zimmer, wobei sie im Stillen die Worte wiederholte, die sie vor nicht allzu langer Zeit zu Zach gesagt hatte. Dass es immer noch funktionieren konnte. Heute war der fünfte August, und bis Weihnachten würden sie Abbotswood verlassen haben und in Amerika sein.
Susan zog ihr wortlos die nasse Kleidung aus. Ihre steife Art zeigte deutlich ihre Missbilligung. Sie hatte Alice gewarnt. Mein Gott, wie stand sie nun vor den Angestellten da? Wie eine verwöhnte, verdorbene Prinzessin. Aber das war sie schon lange nicht mehr. Sie wusste, dass die äußere Erscheinung täuschen konnte. So viele Leute hatten sie heute Morgen gesehen, hauptsächlich Bedienstete.
Alice stieg in das heiße Bad, das Susan ihr eingelassen hatte. Sobald die Zofe sich zurückgezogen hatte, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Ihr Plan musste funktionieren. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, damit er aufging. Für einige Monate wollte sie sich vorbildlich verhalten und alle davon überzeugen, dass sie durchaus fügsam und bereit war, einen geistlosen Mann mit Titel, Land und Geld zu heiraten. Das ging allerdings nur, wenn sie tief im Innern wusste, dass es einen Ausweg gab. Sie hatte Liebe erfahren. Für sie gab es kein Zurück.
Sie hörte ihre Cousine ihren Namen rufen, noch bevor sie an der Badezimmertür erschien. »Darf ich reinkommen?«
»Ja.« Alice rutschte tiefer ins Wasser.
Constance hielt eine Zeitung in den Händen. »Krieg.«
»Wie bitte?« Alice setzte sich auf.
»Wir befinden uns im Krieg.« Bei dem letzten Wort überschlug sich Constance’ Stimme.
»Nein.« Alice schloss für einen Moment die Augen. Bei all dem, was passiert war, hatte sie das Ultimatum des Premierministers ganz vergessen. Sie starrte auf die Zeitung in den zitternden Händen ihrer Cousine. »Halt still, damit ich lesen kann.« Constance trat näher an die Badewanne heran.
Großbritannien erklärt Deutschland den Krieg
»Mummy hat heute Morgen angerufen«, teilte Constance ihr kopfschüttelnd mit. »William hat sich bereits gemeldet.«
»Nein«, wiederholte Alice und stand auf. Die Zofe erschien mit einem Handtuch. »Ich hatte gehofft, es würde nicht so weit kommen.«
»Lord Edmund bereitet sich auf seine Abreise vor«, teilte Susan ihr mit.
»Ich muss mich schnell anziehen.« Alice sah ihre Cousine an.
»Er wird das Gleiche tun wie William.« Constance holte tief Luft. »Alle werden sich melden.« Sie verließ das Zimmer, damit Alice sich ankleiden konnte.
Während Susan Alice’ Rock richtete, versuchte Alice, sich nicht allzu viele Gedanken zu machen. Sie betete inständig, dass die Regierung recht behielt und der Krieg nicht lange dauern würde. Gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfend starrte sie in den Spiegel und sagte: »Bitte mach irgendetwas mit meinem Haar, es muss schnell gehen.« Sie hatte keine Zeit zu verlieren, hatte viel zu lange in der Badewanne gelegen.
»Sie werden alle in den Krieg ziehen, Mylady.«
Alice atmete tief durch, drückte Susans Hand und eilte hinunter ins Vestibül. Dort stand Edmund, die Automobilhandschuhe in der Hand, und wartete. Er wirkte schon jetzt anders als der Mann, mit dem sie heute Morgen am Schwimmteich gewesen war.
»Da bist du ja, Schlingelchen.« Er lächelte. »Ich fahre in die Kaserne von Bodmin, um mich zu melden.« Seine Augen schweiften zum Fenster und hinaus auf den Vorplatz. Sie folgte seinem Blick. Zach stand neben dem Wagen und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
»Jetzt?« Sie wandte sich vom Fenster ab.
Edmund nickte. »Du hast das hier vergessen.« Er hielt ihr das Sonettbuch hin. Sie gab sich alle Mühe, es mit ruhiger Hand entgegenzunehmen. Der Code. Alice drehte sich zu Zach um. Er hielt ihren Blick für eine Sekunde fest, dann schaute er zu Boden.
»Ich denke, das ist das Beste. Und jetzt Kopf hoch!« Er legte ihr den Zeigefinger unters Kinn und hob ihren Kopf an. In diesem Moment betrat Nanny das Vestibül. »Bald sind wir alle wieder da.« Er ließ die Hand sinken, dann warf er ihr einen durchdringenden Blick zu und ging hinaus auf den Vorplatz, auf dem sich mehrere Männer mit ihren Angehörigen versammelt hatten. Alice folgte ihm.
Constance rannte zu ihm und rief: »Wie viele von euch werden sich melden?«
»Ich habe den Wagen voll kornischer Männer. Vermutlich werden sich bald weitere Gruppen nach Tavistock und Exeter auf den Weg machen.«
»Gute Reise.« Nanny kam aus dem Haus und küsste Edmunds Wange. »Und halten Sie uns bitte auf dem Laufenden.«
»Selbstverständlich, Nanny.«
Alice drückte das Buch so fest an ihre Brust, dass ihre Finger weiß wurden. Edmund drehte sich zu ihr, küsste sie auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr: »So ist es am besten. Sei artig, Schlingelchen.« Er drückte ihren Arm, gab Constance einen Klaps auf den Kopf und kletterte auf den Fahrersitz. Die Männer stiegen ein. Zach folgte als Letzter.
Als der Wagen davonfuhr, fing sie seinen Blick auf. Traurigkeit lag darin, aber sie spürte auch seine Aufregung, die er mit den anderen Männern teilte. Sie alle zogen in den Krieg, nur sie blieb hier zurück, nutzlos. Sie hätten einander, und sie hätte niemanden.
Gott, so durfte sie nicht denken. Sie sollte stolz auf die Männer sein, die ihre Pflicht erfüllten, dem König und dem Land dienten. Die ihr Leben riskierten, doch das war sie nicht. Sie schaute die Frauen an, die dem Wagen mit ihren Ehemännern, Söhnen und Brüdern nachblickten, und sah Tränen und tapferes Lächeln. Sie waren nicht eifersüchtig. Nein, sie waren traurig, besorgt, aber nicht zornig. Vielleicht hatte ihre Mutter recht, und Alice war tatsächlich ein fürchterlicher Mensch, für niemanden von Nutzen.
Nanny ging Alice und Constance voran in den Garten vor dem Kinderflügel. Von hier aus konnten sie sehen, wie der Wagen die Zufahrt von Abbotswood hinunterrollte. Als er außer Sichtweite war, drehte sie sich zu Alice um, betrachtete sie eingehend und sagte: »Es ist nie leicht, die Menschen, die man liebt, in den Krieg ziehen zu sehen.« Sie berührte Alice’ Wange und murmelte kaum hörbar: »Allerdings hätte es kaum einen besseren Zeitpunkt geben können.«
»Habt ihr schon gefrühstückt?«, wollte Constance wissen.
Nanny und Alice schüttelten die Köpfe.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich im Augenblick Appetit verspüre«, erwiderte Nanny, dann fügte sie hinzu: »Und Alice bestimmt auch nicht.« Sie gab dem Mädchen einen sanften Schubs. »Ab mit Ihnen.«
Als Constance im Haus verschwunden war, sah sie Alice an und sagte: »Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie einen Geist gesehen …«, sie kniff die Augen zusammen, »und vielleicht haben Sie das ja auch. Ruhen Sie sich ein wenig aus. Wir unterhalten uns später.«
Alice nickte und taumelte in ihr Zimmer, das Sonettbuch ans Herz gedrückt. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und endlich allein war, schlug sie es auf und suchte nach einem der vereinbarten Zeichen. Eine kleine Schwalbenfeder fiel aufs Bett. Sie hob sie auf und strich damit über ihre Wange. Die Schwalbe war der Vogel der wahren Liebe. Sie betrachtete das Sonett, das sie markierte. Nummer 116. Sie runzelte die Stirn. Dort hatte die Feder schon beim letzten Mal gelegen. Allerdings würde er ihr das Buch wohl kaum zurückgeben, ohne ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Sie las:
Fürwahr! Nicht will ich die Vermählung hindern
Getreuer Seelen. Lieb’ ist ja nicht Liebe
Wenn sie beim Wankelmuth sich kann vermindern,
Und nicht auch treu dem Ungetreuen bliebe.
O nein! Sie ist ein starkes Felsenriff,
An dem sich Sturm und Brandung donnernd bricht,
Ein Stern ist sie, für manch bedrängtes Schiff,
Gemessen ist sein Stand, sein Einfluss nicht.
Er hatte diese Verse in ihrer letzten gemeinsamen Liebesnacht rezitiert. Ihre Hand zitterte, als sie das zusammengefaltete Blatt Papier zwischen den Seiten hervorzog.
Lady meines Herzens,
mir fehlt die Zeit, mehr als ein paar Worte zu schreiben. Ich muss gehen, doch das wird uns letztendlich zusammenbringen. Indem ich Dich verlasse, ebne ich uns den Weg. Wenn der Krieg vorbei ist, werde ich nicht nach Abbotswood zurückkehren, aber ich kehre zu Dir zurück, so wie die Schwalben in jedem Frühjahr zurückkehren. Du bist mein Herz, meine Seele, mein Leben.
In Eile und so voller Liebe
für immer der Deine
Z.
Seine Liebe zu ihr war unerschütterlich. Sie wollte, dass er bei ihr war, doch sie verstand seine Entscheidung.
Alice stand auf und trat ans Fenster. Draußen hatte der Himmel aufgeklart, die Sonne schien, der Fluss glitzerte. Schwalben segelten durch die Luft, doch ihr Herz war in einem Automobil auf dem Weg in den Krieg, und sie wusste nicht, wann oder wie sie jemals wieder von ihm hören würde.