11

Jane

Sie wachte mit hämmerndem Schädel auf.

Nein, das war es nicht. Da schlug jemand gegen die Tür. Ein echtes Geräusch. Alarmierend in seiner Intensität.

Jane lag im Bett, oben auf der Decke. Die Lichter brannten.

Schmerz strahlte hinter ihren Augäpfeln. An den Schläfen spürte sie das Pumpen ihres schlagenden Herzens. Ihr Kopf schien gleich zu zerspringen.

Von draußen rief eine Männerstimme ihren Namen. Es klang verärgert. Unerbittlich.

Jane zog sich ein Kissen über den Kopf.

Sie kannte diesen Morgen-danach-Moment gut, wenn alles sich dem Kater ergeben musste. Einmal war sie nach einer durchzechten Nacht aufgestanden, um sich ein Glas Wasser zu holen, und hatte auf das Geschirr im Spülbecken gekotzt. Sie war selbst erschrocken, hatte aber beschlossen, die Sache zu ignorieren, bis sie sich, etwas später, darum kümmern könnte.

War der Mann an der Tür gekommen, um zu sagen, dass sie ihre Handtasche in der Bar vergessen hatte? Oder hatte sie ihn beleidigt oder sonst wie verletzt? Jane hatte keinen Schimmer. Und genauso wenig besaß sie die nötige Energie, um irgendetwas zu unternehmen, worum auch immer es sich handeln mochte.

Der Mann verstummte und das Hämmern hörte auf. Er war wohl gegangen. Immerhin.

Also. Was zum Teufel war passiert?

Denk. Denk nach.

Sie war mit einer Gruppe in Charlie’s Chowder House gewesen. Vielleicht mit zwölf oder fünfzehn Einheimischen, die meisten von ihnen ältere Herrschaften wie Abe und Charlie selbst. Die Küche hatte für den Abend schon geschlossen, Kellnerinnen und Küchenpersonal waren bereits nach Hause geschickt worden. Im Restaurantbereich waren die Lichter aus, der Fußboden gekehrt. Alle hatten sich an der Bar getroffen. Eine spontane Zusammenkunft von Freunden. Jane erinnerte sich, dass Abe nach solchen Abenden mit urkomischen Storys zur Arbeit gekommen war, als sie noch ein Teenager war. Dass er sie eingeladen hatte dazuzukommen, weckte etwas von der alten Begeisterung in ihr.

Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass Lydia Beazley laut und dicht neben ihr von einem Buch über Edgar Allen Poe sprach, das sie gerade gelesen habe. Poe sei ein Miesepeter in Bezug auf Fortschritt gewesen und empört darüber, dass in New York City wunderschöne alte Gebäude abgerissen wurden, damit man unansehnliche neue errichten konnte.

»Wie ironisch«, sagte Lydia, »wenn ich bedenke, dass ich mich wegen ihrer historischen Bedeutung praktisch an Häuser gekettet habe, die zu Poes Lebzeiten erbaut wurden.«

Lydia begann zu lachen und konnte gar nicht mehr aufhören. Jane dachte noch, diese seltsame Streberin ist sehr betrunken. Sie selbst nicht. Darauf war sie stolz.

Als sie dazustieß, tranken alle diesen Cocktail, der Dark and Stormy heißt. Jemand stellte auch vor Jane ein Glas davon hin. Da sagte sie sich, sie würde nicht mehr als diesen einen trinken – vielleicht sogar nur die Hälfte. Anschließend würde sie nach Hause gehen, fernsehen, nie wieder trinken und auch niemand erzählen, dass sie es getan hatte. Dazu bestünde auch keine Notwendigkeit. Sie brach ja nicht mit ihrer Abstinenz. Sie gönnte sich bloß eine Pause davon nach einem schlimmen Abend. Einem Abend, an dem sie offiziell ihren geliebten Job los war, an dem ihr Ehemann ihre Anrufe nicht entgegennahm, weil er ein Date mit seiner Ex-Frau hatte, und an dem sie erfuhr, dass sie versehentlich Komplizin einer Grabschändung geworden war. Da konnte ihr das doch wirklich keiner verübeln.

Jane erinnerte sich auch noch, dass aus einem Drink bei allen anderen zwei und dann drei wurden. Aber wer wusste, wie viele sie schon gehabt hatten, bevor sie dazukam. Inzwischen nippte sie noch an ihrem ersten, ließ sich viel Zeit damit und kam sich dabei tugendhaft vor. Charlie hatte irgendwann gemeint, er habe kein Ingwerbier mehr, weshalb sie vielleicht Schluss machen sollten. Aber stattdessen suchten alle sich irgendeine Alternative aus. Jane bestellte ein Selters. Lydia wollte Chardonnay, doch davon hatte Charlie keinen offen und wollte nur für sie keine ganze Flasche entkorken. Sie fragte Jane, ob sie eine mit ihr teilen wolle, und Jane stimmte zu. Sie dachte, es sei doch nichts dabei, ein Glas vor sich stehen zu haben, nur um so zu tun als ob. Sie würde ihn nicht trinken, denn sie mochte Chardonnay nicht mal besonders.

Die Flasche stand direkt zwischen ihren beiden Gläsern auf der Bar. Sodass sie jederzeit zugreifen und sich nachschenken konnten, ohne zu fragen.

Irgendwann war ein Mann vorbeigekommen, um Lydia Hallo zu sagen. Sie stellte ihn Jane als Teddy McCarthy vor, den Manager des Lake Grove Country Club.

»Teddy! Jane und ich haben uns gefragt, woher der Club seinen Namen hat. Weißt du das?«

Daraufhin erzählte er, dass der Country Club nach dem Lake Grove Inn benannt war. Dem Eigentümer gefiel der Name, und erst als alle Schilder produziert und aufgehängt waren, kam er dahinter, dass es in der Nähe überhaupt keinen See gab. Damit war das geklärt. Hätten die Dinge am frühen Abend im Haus ihrer Schwester nicht eine seltsame Wendung genommen, dann hätte Jane so eine Info vielleicht direkt Genevieve geschrieben.

Nachdem sie eine halbe Stunde geredet hatten, wollte Jane mehr Wasser, doch da Charlie inzwischen nicht mehr hinter der Bar stand und sie einfach nur ihre Kehle befeuchten wollte, nahm sie einen Schluck von dem Wein. Schon füllte Lydia ihre beiden Gläser nach. Und dann?

Hatte sie Lydia davon erzählt, dass Genevieve den alten Friedhof hatte umgraben lassen? Was hatte sie überhaupt gesagt?

Das Hämmern ging wieder los. Jetzt klang es näher. Der Mann war nicht gegangen. Er war direkt vor ihrem Schlafzimmerfenster und klopfte an die Scheibe. Du meine Güte!

Janes Herz raste. Furcht verdrängte alle anderen Gefühle. Ohne das Kissen von ihrem Kopf zu nehmen, tastete sie auf dem Bett nach ihrem Handy. Für den Fall, dass sie den Notruf 911 wählen musste. Als sie es gefunden hatte, drehte sie den Kopf und spähte aufs Display. Siebzehn verpasste Anrufe und vierzehn Nachrichten von David.

David.

Der Mann am Fenster war David.

Jane stand vom Bett auf, ging zum Fenster und zog das Rollo hoch. Es war noch dunkel draußen. Er stand da und sah stinksauer aus.

Sie hob den Zeigefinger und lief zur Haustür. Dabei merkte sie, dass sie noch die Kleidung vom Vorabend trug, inklusive den Schuhen.

Jane schaltete das Licht auf der Veranda ein. Motten flatterten aus allen Ecken, als hätte jemand Konfetti in die Luft geworfen. Rasch machte sie das Licht wieder aus.

David kam um die Ecke, doch anstatt auf sie zuzugehen, marschierte er zu seinem Auto, das in der Einfahrt stand.

Janes Auto war weg. Hatte sie einen Unfall gehabt? War David bei ihr gewesen?

»David?«, rief sie. »Was machst du hier? Wo willst du hin?«

Er kam nicht näher.

»Es ist halb fünf Uhr morgens«, sagte er. »Ich bin um drei Uhr losgefahren, weil du mich irrsinnig oft angerufen, aber dann bei keinem meiner Anrufe abgehoben hast und ich dachte, du wärst tot.«

»Tut mir leid. Ich bin eingeschlafen.«

»Egal. Ich bin nur gekommen, um sicherzugehen, dass du noch lebst. Das tust du. Jetzt fahre ich wieder.«

»Warte«, sagte sie. »Bitte. Ich bin ganz durcheinander.«

»Wovon bist du durcheinander?«, fragte er. »Offensichtlich warst du betrunken. Das warst du.«

»Nein. Ich habe nicht mehr getrunken, seit …«

»Du hast also gestern Abend nichts getrunken?«

»Nein. Ich meine, doch. Das hab ich. Aber abgesehen davon.«

Er schlug die Hände vors Gesicht und fuhr sich dann mit den Fingern durch die Haare.

»Ich hatte den ganzen Abend nicht auf mein Handy geschaut. Als ich aus dem Restaurant kam, sah ich, dass du mich tausendmal angerufen hattest. Du hast auf meine Mailbox geschrien, ich weiß gar nicht mehr wie oft, dass du mein Geheimnis wüsstest, dass du mich entlarvt hättest.«

Sie zuckte zusammen.

»Das war aber das Geringste.«

»Was habe ich noch gesagt?«

»Was du noch gesagt hast? Bitte schön, hör’s dir selber an.« Er holte sein Handy heraus, mit einer derart aggressiven Bewegung, dass sie fröstelte. Ein paarmal tippte er aufs Display, und dann war ihre Stimme zu hören, brüllend: Du bist ein Feigling, David. Geh ran! Verdammt, ich hasse dich. Du hast mich nie geliebt. Das wussten wir beide doch schon immer, stimmt’s?

Jane musste an Allisons Mom, Betty, denken. Auf der Demenzstation rastete sie oft aus und brüllte. Zwei Mal schon hatte sie einer Pflegekraft ins Gesicht geschlagen. Dieses Verhalten passte so gar nicht zu allem, was Betty eigentlich ausmachte – Freundlichkeit, Gelassenheit und Selbstbeherrschung. Jane hatte schon vorher gehört, dass Demenzpatienten eine völlig andere Persönlichkeit entwickeln konnten. Woher war all die Wut gekommen? Wo hatte sie gesteckt, als Betty noch sie selbst war?

Manche Menschen glaubten, dass alles, was man betrunken sagte oder tat, das sei, was man tief in seinem Inneren sagen oder tun wollte. Die wahrhaftigsten Gefühle. Doch Jane wusste, dass das nicht stimmte. Alles, was sie auf die Mailbox gesprochen hatte, war das Gegenteil dessen, was sie meinte. Das Gegenteil von dem, was sie so sorgsam geplant hatte, ihm bei ihrem nächsten Gespräch zu sagen.

»Bitte lösch das«, meinte sie reumütig. »Ich war außer mir. Nichts davon hat irgendeine Bedeutung.«

»Ich habe drei Stunden lang versucht, dich zu erreichen«, sagte er. »Dann dachte ich, also entweder ist sie eingeschlafen oder tot. Und dass ich besser mal hinfahren und nachsehen sollte, was von beidem zutrifft.«

Es war ein Albtraum.

»Du hast dich mit Angela getroffen«, sagte sie in dem seltsamen Versuch, sich zu verteidigen. »Ich habe die Fotos auf Facebook gesehen. Seht ihr euch jetzt regelmäßig?«

»Du hast gesehen …« Er seufzte.

Sie hatte gedacht, er würde es leugnen oder irgendeine Erklärung liefern. Aber David sagte: »Du bist diejenige, die uns aufgegeben hat. Du bist gegangen. Ich schulde dir keine Erklärung.«

Nein, das hier war der eigentliche Albtraum.

Sie wollte ihn bitten, so zu tun, als wären die letzten paar Stunden nie geschehen. Denn sie hatte sich doch gebessert. Das hatte sie. Und sie wollte ihn zurück. Das hatte sie ihm sagen wollen. Doch jetzt war all das ausgeschlossen.

David machte den Mund auf, um weiterzusprechen, als gerade ein Sattelschlepper vorbeidonnerte.

Jane machte sich auf die übliche Überreaktion des Hundes gefasst.

Als kein Geräusch kam, wurde ihr klar, der Hund war nicht da.

»Walter«, sagte sie nur.

Die nächsten Stunden suchten sie. Zuerst liefen sie die Straße rauf und runter, riefen Walters Namen, raschelten mit einer Tüte Leckerlis und versprachen ihm Truthahn, Spielzeug und Speck, wenn er nur aus seinem Versteck käme. Sie durchkämmten die Gärten der noch schlafenden Nachbarn und liefen sogar etwa eine Meile mit Taschenlampen an der Shore Road entlang. Jane vermutete, sie beide dachten, dass er es, wenn er hierher geraten war, vermutlich nicht überlebt hatte. Die Küstenstraße bestand aus lauter scharfen Kurven, und die Autos rasten sie trotzdem entlang.

Abgesehen davon, wo sie weitersuchen sollten, sprachen sie über gar nichts. Jane fühlte sich wie der letzte Dreck. Nichts wünschte sie sich mehr, als wieder ins Bett zurückzukönnen, doch das traute sie sich nicht laut auszusprechen.

Irgendwann schlug David vor, mit dem Auto zu suchen, weil sie auf diese Weise ein größeres Gebiet abdecken könnten. In getrennten Fahrzeugen, machte er deutlich.

»Wo ist dein Auto?«, fragte er.

Jane erzählte, dass sie es am Vorabend in der Bucht stehengelassen hatte. Sie hoffte, dass das stimmte. Die Vorstellung, ihr Auto nicht finden zu können und das ihm gegenüber zugeben zu müssen, war zu demütigend. Zum Glück stand der Wagen genau dort, wo sie ihn geparkt hatte, um mit Walter spazieren zu gehen. Die Schlüssel steckten in dem Täschchen in ihrer Handtasche. Eine vernünftigere Version ihrer selbst hatte sie anscheinend dort hingetan.

Dankbar für immerhin das ließ sie sich auf den Fahrersitz sinken.

Als sie in den Rückspiegel schaute, sah Jane, dass die Mascara, die sie nicht mehr abgeschminkt hatte, unter ihren Augen verschmiert war. Ihre Haare sahen aus, als wäre sie stundenlang Cabrio gefahren. Eigentlich hatte sie sich für die Wiederbegegnung mit David eine neue, bessere Version von sich vorgestellt. Doch es war dieselbe alte, beschissene Version, die sie beide begrüßte.

Sie fand Abe wie üblich noch vor sieben Uhr bei seinem Boot. Er sah so fröhlich aus wie immer.

Jane schluckte ihre Tränen hinunter. Normalerweise machte sie um diese Zeit ihren Morgenspaziergang mit dem Hund. Hatte sie es, ohne das zu wissen, schon zum letzten Mal getan?

»Alles okay, Kiddo?«, fragte Abe. »Hab mir Sorgen um dich gemacht.«

»Wie bin ich nach Hause gekommen?«

»Zu Fuß. Ich hab angeboten, dich zu fahren, aber du hast drauf bestanden, dass du keine Hilfe von irgendwem brauchst.«

Die Erinnerung an ihre Schwester, die vor gar nicht langer Zeit in Janes Einfahrt gestritten hatte, kam ihr in den Sinn. War sie genauso schlimm gewesen?

»Ich schäme mich«, sagte sie. »Habe ich irgendwas besonders Blödes angestellt? Bei mir ist der Abend wie verschwommen.«

»Dich schämen? Nope«, meinte Abe. »Mach dir da mal keine Sorgen. Willkommen im Club.«

Jane wünschte, sie wäre die Person, die er in ihr sah, das brave Mädchen, bei dem so ein Verhalten die Ausnahme darstellte. Denn man musste sie in diesem Club nicht willkommen heißen. Sie war da schon Präsidentin, Vizepräsidentin, Generalsekretärin und Schatzmeisterin.

Abe sagte, Walter sei mit ihr im Chowder House gewesen. Er sei da rumgelaufen, habe mit einem Ball gespielt und sich von allen kraulen lassen. Als Jane ging, da war Abe sich fast sicher, sei Walter mitgekommen.

David fuhr in die Bibliothek, sobald sie auf hatte, um Flyer zu kopieren. Er schrieb ihr eine Nachricht, dass sie ihn am Eingang zum Strandpark treffen solle, damit er ihr die Hälfte davon geben könne.

Jane malte sich aus, wie sie seine Hand ergriff, sich entschuldigte und versprach, dass sie alles tun würde, wenn er sie nur wieder liebte und wieder so freundlich wie früher zu ihr wäre. Wenn er ihr nur noch eine einzige Chance gäbe. Sie wollte ihm erzählen, dass sie den gestrigen Tag mit trauernden Menschen verbracht hatte, die bereit waren zu glauben, dass ihre Verstorbenen mit Hilfe eines Mediums zurückkehren könnten. Und dass ihr dabei klar geworden war, wie harmlos ihrer beider Herausforderungen im Vergleich dazu waren. Aber jetzt war eindeutig nicht der Moment dafür. Also holte sie stattdessen nur zwei riesige Becher Iced Coffee und Muffins bei Millies Bakery.

Schon oft hatte sie das Gefühl gehabt, dass nach einem Abend, an den sie sich nicht mehr erinnerte, jede Person, mit der sie am nächsten Tag zu tun hatte, darüber Bescheid wusste, was für eine Idiotin sie aus sich gemacht hatte. Jetzt überkam sie dieses Gefühl, als das Mädchen hinter der Theke ihr das Wechselgeld gab. Diese vertraute Paranoia. Diese Scham.

Der Parkplatz am Strand war bereits voll. Touristen luden Klappstühle, Spielsachen und Strandmuscheln aus ihren Minivans. Sie diskutierten darüber, wo sie sich am besten niederlassen sollten, ohne die vielschichtige Krise zur Kenntnis zu nehmen, die sich direkt vor ihnen abspielte.

Als sie Walter mittags immer noch nicht gefunden hatten, sagte David, es tue ihm leid, aber er müsse nach Hause. Warum, sagte er nicht. Es war Sonntag. Jane fragte sich, ob er Angela daheim in seinem Schlafzimmer – ihrem Schlafzimmer – zurückgelassen hatte. Wobei das, wenn man es recht überlegte, früher seines und Angelas gewesen war. Sie verstand, dass er erschöpft war. Trotzdem wünschte sie sich, er würde bleiben. Ein Nickerchen auf dem Sofa ihrer Mutter machen. Mit ihr mittagessen gehen und reden. Zehn Jahre lang war David Janes Gegenüber gewesen. Aber jetzt nicht mehr. Er umarmte sie zum Abschied nicht mal.

Jane sah ihm nach, als er wegfuhr, und überlegte, ob sie wieder losheulen oder kotzen sollte. Vielleicht beides.

Sie rief ihre Schwester an, um das mit dem Hund zu berichten und sie zu fragen, ob sie kommen und suchen helfen würde.

»Du hast Walter verloren?«, fragte Holly, als wäre er ihr Kind. »Wie, Jane? Was ist denn passiert?«

»Er – er ist einfach rausgelaufen.«

»Jason wird am Boden zerstört sein«, meinte Holly.

»Denkst du?«

Wenn sie sich am Vortag die Mühe gemacht hätten, mit dem verdammten Hund spazieren zu gehen, dann wäre Jane vielleicht nie an die Bucht gefahren, hätte nicht wieder zu trinken begonnen, hätte David nicht tausendmal angerufen und die eventuelle Chance zunichte gemacht, ihn davon zu überzeugen, dass sie sich geändert hatte.

»Hilfst du mir jetzt suchen oder nicht?«, sagte Jane.

»Natürlich!«, sagte Holly ungehalten. »Also, ich nicht. Ich muss arbeiten. Aber Jason ganz bestimmt.«

Jane suchte überall.

Sie gewann Allison, Chris und deren Kinder als Hilfe. Allison rief noch ihre Babysitter, die Mitarbeiter vom Bed and Breakfast und gefühlt die halbe Stadt an. Sie bat alle mitzusuchen. Walter war quasi das Lindbergh-Baby.

Als sie zum Inn gekommen war, um dort Flyer auszulegen, erzählte Jane Allison alles, was am Vorabend passiert war, bis auf die Sache mit dem Trinken. Sie brachte es nicht über sich, ihre Freundin derart zu enttäuschen. Allison hatte deutlich gemacht, dass sie der Meinung war, Jane solle nicht trinken. Sie war stolz darauf, dass Jane es geschafft hatte aufzuhören. Da musste sie nicht von Janes Fehltritt erfahren. Also ließ Jane diesen Teil weg. Sie berichtete, dass sie ihren Job verloren, mit ihrer Schwester gestritten und diese schockierende Entdeckung über Genevieve gemacht hatte. Dass sie versucht hatte, David anzurufen, und stattdessen die Fotos von ihm und seiner Ex-Frau gesehen hatte. Dann hätte sie angerufen, um ihn zur Rede zu stellen, sei eingeschlafen und davon aufgewacht, dass er stinksauer vor ihrer Tür stand.

»Ich glaube, es ist mir endgültig gelungen, ihn zu vertreiben«, sagte sie.

»Wie genau kommst du darauf, ihn vertrieben zu haben, wenn er mitten in der Nacht höchstpersönlich aus einem anderen Bundesstaat angefahren kommt, um nach dir zu sehen?«, fragte Allison.

»Er hat zugegeben, dass er mit seiner Ex-Frau Abendessen war.«

»Was hat das zu bedeuten?«

»Keine Ahnung. Er wirkte so sauer auf mich.«

»Du musst zugeben, dass du dem Mann in diesem Jahr eine Menge zugemutet hast, aber eindeutig liegt ihm was an dir. Er liebt dich. Es ist nur …« Allison verstummte.

»Was?«

»Ich schätze, er versucht, sich selbst zu schützen.«

Warum empfand Jane gerade das wie einen Volltreffer? Weil es wahr war. Vielleicht lag es daran.

In jedem Laden, bei der Feuerwehr, in Cafés und Kunstgalerien, überall, wo Jane fragte, ob sie den Zettel wegen dem vermissten Hund aufhängen dürfe, fragten die Leute, was passiert sei. Jane log, dass das Tor im hinteren Garten nicht richtig geschlossen und Walter so entwischt war. Die Wahrheit wäre zu schrecklich gewesen. Und es wirkte bestimmt auch weniger glaubwürdig, dass diese mittelalte Frau in Caprihose sich derart betrunken hatte und jetzt nicht mehr wusste, was passiert war.

Mehrmals kam sie an Lydias Spielzeugladen vorbei, doch er war geschlossen.

Gegen drei Uhr nachmittags entdeckte Jane Lydia schließlich auf der anderen Straßenseite. Sie trug eine Sonnenbrille und hatte einen großen Thermo-Kaffeebecher dabei.

»Meine Komplizin!«, rief sie, als sie Jane herüberkommen sah. »Ich muss es heute büßen. Wie geht’s dir?«

»Ich fühle mich wie der Tod«, sagte Jane. »Was ist überhaupt passiert? Ich erinnere mich gar nicht, so viel getrunken zu haben.«

»Ich glaube, wir hatten zusammen zwei Flaschen von dem Weißen.«

»Mein Gott. Wirklich?« Jane musste das kurz sacken lassen. Dann fügte sie hinzu: »Und jetzt ist der Hund meiner Mutter verschwunden.«

Sie drückte Lydia ein paar Flyer in die Hand.

»Nicht die kleine Fellkugel!«, rief Lydia. »Er ist so süß. Du glaubst doch nicht, dass die Kojoten ihn erwischt haben, oder?«

»Bis du es gerade erwähnt hast noch nicht«, sagte Jane.

»Vergiss es. Bestimmt nicht. Er wird wieder auftauchen.«

Lydia schaute zu ihrem Laden. Eine Gruppe Schulkinder riss am Türgriff.

»Hey!«, rief sie. »Immer mit der Ruhe!«

»Ich schätze mal, die sind nicht wegen der Historical Society da«, scherzte Jane.

»Sie sehen eher aus wie einem Computerspiel entsprungen, finde ich. Aber apropos Historical Society: Ich fand deine Idee toll, sich mehr mit der Geschichte der Native Americans zu beschäftigen. Darüber sollten wir noch mal reden.«

Jane erinnerte sich gar nicht, das Thema angesprochen zu haben.

»Lustig war auch, was du über den alten Tom Crosby gesagt hast.«

»Ach ja? Was habe ich denn über ihn gesagt?«

»Du hast ihn einen Dieb und Lügner genannt und dass er deshalb seinen Laden dichtmachen und in den Untergrund musste.«

Jane schlug die Hand vor den Mund. »Ich kenne ihn nicht mal. So was hätte ich niemals sagen dürfen.«

Lydia zuckte mit den Schultern. »Ich kenne ihn. Du liegst nicht falsch.« Dann warf sie wieder einen Blick auf die Kinder vor ihrem Laden. »Ich glaube, ich sollte jetzt lieber gehen und unter den Kindern von Awadapquit Freude verbreiten, wie es so meine Art ist.«

Jane lachte.

Lydia streckte ihr den Thermobecher hin. »Hier, nimm das. Ich hab bisher nicht davon getrunken. Du siehst aus, als könntest du es brauchen. Ich hab noch was im Laden.«

Jane bedankte sich und ging zu ihrem Auto.

Sie fuhr die Main Street entlang, unentschlossen, wo sie als Nächstes hin sollte, als sie einen Schluck aus Lydias Becher nahm. Sie hätte beinahe aufs Lenkrad gespuckt. Es schmeckte kalt und salzig, überhaupt nicht wie erwartet. Sie brauchte eine Sekunde, um zu kapieren, dass Lydia ihr keinen Kaffee überlassen hatte, sondern eine starke Bloody Mary.

Jane lachte bitter. Lydia hatte nicht mal daran gedacht zu erwähnen, was in dem Becher war. Vielleicht trank sie hinter der Theke ihres niedlichen Spielzeugladens den ganzen Tag Bloody Marys, und keiner ahnte etwas.

Nachdem sie jeden Quadratzentimeter der Stadt abgesucht hatte, parkte Jane vor dem kleinen Friedhof an der Main Street. Dort hatte Allison sich einst auf die Suche nach Vornamen für ihre Kinder gemacht. Sie stieg aus, Lydias Becher in der Hand, und rief leise nach Walter. Dabei malte sie sich aus, wie er hinter einem Baum oder dem Denkmal mit den Namen der Bürgerkriegsopfer aus Awadapquit hervorkam, obwohl sie ahnte, dass er hier nicht war.

Es war überhaupt niemand da. Die hier Begrabenen waren schon so lange tot, dass alle, die sie hätten besuchen können, selbst auch schon lange tot waren.

Jane setzte sich auf eine Bank und betrachtete den Drink in ihrer Hand.

Der Wodka würde gegen die Kopfschmerzen helfen und gegen das alles überlagernde Gefühl, von einem Bus überfahren worden zu sein. Es stimmte, dass sie sich eingeredet hatte, gestern Abend wäre ein einmaliger Ausrutscher gewesen, doch man konnte durchaus argumentieren, dass der heutige Tag eine Verlängerung von gestern Abend sei.

Jane nahm einen Schluck, dann noch einen. Die Entscheidung war gefallen.

Sie mochte Friedhöfe, je älter, desto besser. Sie fand sie beruhigend, außerdem konnten sie ihr ein Gefühl von Perspektive verschaffen. Ein bisschen wie die Hellseherinnen im Camp Mira. Auf Urlaubsreisen besuchte sie alte Friedhöfe. In Paris war sie stundenlang auf dem Père Lachaise herumgestreift. In London hatte sie Kirchen besichtigt, in denen Königinnen und Könige in unterirdischen Gruften bestattet lagen.

Bevor das alles passierte, waren sie und David manchmal morgens über den Mount Auburn Cemetery in Cambridge gejoggt und hin und wieder stehengeblieben, um zu lesen, wen man dort begraben hatte. Die Gräber zum Ruhm großer Männer des 19. Jahrhunderts waren üblicherweise mit Frauenfiguren geschmückt. Mit Engeln, Göttinnen und ansonsten mit irgendwelchen phallischen Obelisken, die alles andere überragten.

Auf Frauengräbern stand immer zu lesen Gattin von. Es gab auf dem Mount Auburn nur ein Paar, das mit dieser Tradition brach. Auf dessen Grabstein stand Gatte von. Jane war immer neugierig, wer die beiden gewesen sein mochten.

Neuere Gräber übten nicht den gleichen Reiz aus. Sie waren den Lebenden zu nah. Geschmacklos und übertrieben, wie die Menschen selbst. Auf einigen Steinen sah man jetzt sogar lasergedruckte Fotos der Verstorbenen. Dann ließ sich nicht leugnen, wie menschlich sie gewesen waren. Da gab es nichts mehr zu romantisieren. Je kürzer der Tod zurücklag, desto häufiger kamen Besucher. Die hinterließen Folienballons und bunt gefärbte Nelken. Und Lilien aus Plastik, die monatelang dem Regen standhielten, bis zum nächsten Geburtstag oder Jubiläum.

Jane besuchte nie den Friedhof, wo ihre eigenen Angehörigen lagen. Die meisten Leute machten das nicht mehr, oder? Ihre Großmutter hatte sie einmal mitgenommen, um aufs Grab ihres Großvaters in irgendeiner Stadt in Massachusetts, aus der er stammte, Narzissenzwiebeln zu pflanzen. Nachdem sie dem Mann nie begegnet war, erwartete Jane keine großen Gefühle. Doch dann sah sie den Namen ihrer Großmutter unter seinem in den Stein gemeißelt. Dazu ihr Geburtsdatum und einen Strich, der in ihren Augen praktisch ein Fragezeichen darstellte – wann?

Allein die Existenz dieses Grabsteins fühlte sich unter anderem ungezogen an. Jane wollte ihre Großmutter davor schützen. Als sie dann wirklich starb, war Jane empört. Warum sollte sie so weit weg von ihnen begraben werden und für immer bei der Familie ihres Mannes sein müssen, die sie so schrecklich behandelt hatte? Janes Mutter sah die Sache eher praktisch – sie bezahlten ohnehin für die Grabstelle, also konnte man sie auch nutzen.

Kürzlich hatte Jane in einem Artikel gelesen, dass erstmals in der modernen Geschichte die meisten Menschen nicht mehr planten, wo sie nach ihrem Tod bestattet werden wollten. Bedeutete das, sie rückten von der Realität des Todes ab? Oder hofften sie sogar, ihm dadurch zu entgehen? Hatte es mit einem Mangel an Familiensinn, Tradition und Religiosität zu tun?

Jane war egal, was nach ihrem Tod mit ihr passieren würde. Von ihrem Selbst würde nichts mehr übrig sein. Obwohl sie gleichzeitig nicht im Traum daran denken würde, die Asche ihrer Mutter wegzuwerfen. Sie kam ihr geradezu heilig vor, auch wenn sie nicht sagen konnte, warum.

Jane leerte ihren Drink. Sogleich spürte sie ein angenehmes Summen im Kopf.

Nach einer Weile stand sie auf und ging Richtung Tor zurück. Vor der kleinen Figur eines Lamms blieb sie stehen. Unser Georgie war in verwitterten Stein gemeißelt, auf dem man die Jahreszahlen schon nicht mehr lesen konnte.

Kindergräber stimmten sie immer melancholisch. Der Tod eines fremden Dreijährigen vor hundert Jahren ließ sie Trauer tief in ihrem Inneren empfinden, als wäre das gestern passiert. Wie ertrugen Menschen solche schweren Verluste?

Samuel und Hannah Littleton hatten drei kleine Kinder begraben. Genevieve hatte deren Gräber zusammen mit denen ihrer Eltern beseitigt. Das machte die ganze Sache noch fürchterlicher. Wie konnte sie überhaupt mit so einer Tat leben?

Jane überlegte kurz. Ob die Geister der Littletons Genevieve wirklich heimsuchten. Wenn ja, dann hatte sie es jedenfalls verdient.

Fürchtete Genevieve sich so sehr vor ihren Gräbern, dass sie keine Lösung gefunden hatte, um diese Menschen dort zu belassen, wo sie einst geglaubt hatten, ihre endgültige Ruhestätte zu finden? Wusste sie nicht, dass überall Leute begraben lagen? Unter dem Boston Common, seinen grünen Picknickwiesen, dem hübschen Eislaufplatz und dem lustigen Karussell befanden sich an die tausend. Es handelte sich um die Armen und Kranken eines vergangenen Jahrhunderts. Um diejenigen, die man an Bäumen in eben diesem Park gehängt hatte, mit der Begründung, dass sie Kriminelle, Piraten, Hexen oder Natives waren.

In Portsmouth, New Hampshire, etwa fünfzehn Meilen von hier, entdeckten Bauarbeiter in dem Sommer nach Janes Collegeabschluss menschliche Überreste. Sie gehörten acht Afrikanern aus dem 18. Jahrhundert – Männern, Frauen und Kindern. Man hatte sie auf dem einzigen afrikanischen Friedhof in ganz Neuengland beigesetzt. Der Friedhof enthielt die Gebeine von knapp zweihundert weiteren freigelassenen und versklavten Menschen.

Ein Künstler hatte daraufhin ein Bild geschaffen, das Jane nie vergessen würde. Eine Darstellung der heutigen Gebäude entlang der Chestnut Street, allerdings versehen mit einem weißen Rechteck für jeden Holzsarg, der unter der asphaltierten Straße lag, auf der der Verkehr tobte.

Der Stadtrat und die Bürger von Portsmouth hatten einen Erinnerungspark finanziert. Bei dessen Einweihung wurden die exhumierten Körper erneut bestattet. Die ganze Stadt war gekommen, um die Errichtung eines Denkmals zu feiern, das wiederum an ein anderes, früheres Denkmal erinnerte, das fälschlicherweise irgendwann überbaut worden war.

Die Resonanz war wundervoll. Manche Leute verstanden die Bedeutung solcher Dinge. Sie waren nicht wie Genevieve, die solche Angst vor Geistern hatte.

Nein, jetzt erinnerte Jane sich. Es war nicht mal um Angst gegangen. Laut Jason ging es im Grunde genommen um Genevieves Plan, einen Pool bauen zu lassen. Mein Gott, was für ein Monster sie doch war.

Jane verließ den Friedhof, stieg wieder ins Auto und suchte weiter nach Walter. Während sie langsam die Shore Road entlangfuhr, merkte sie, dass sie leicht angetrunken war. Eigentlich hatte sie kein bestimmtes Ziel. Doch diese Wut, dieses Gefühl von Ungerechtigkeit loderte unter ihrer Haut. Als sie an die Abzweigung zu Genevieves Haus kam und die an den Briefkasten gebundenen weißen Ballons sah, die sich im Wind bewegten, fragte Jane sich allerdings, ob es nicht von vorneherein ihr Plan gewesen war herzukommen.

Sie erinnerte sich an Genevieves entsetztes Gesicht, als Jane davon erzählte, dass Leute die sterblichen Überreste von indigenen Menschen ausgegraben hatten. Leichen aus Gräbern?, hatte sie so scheinbar unschuldig und beunruhigt nachgefragt.

Jane stieg aus dem Auto und ging zur Haustür. Die stand offen, sodass sie bis zur Rückseite des Gebäudes hindurchsehen konnte. Dort saßen Leute auf der Terrasse.

Sie ging außen herum.

»Hallo«, sagte sie, während sie die Stufen hinaufstieg.

Weil Genevieve ja nicht wusste, was für eine Lawine sie am Vorabend losgetreten hatte, wirkte sie ehrlich erfreut, Jane zu sehen.

»Jane! Was für eine nette Überraschung. Ich möchte Ihnen unsere Freunde, die Davenports, vorstellen. Wir wollen gerade Steaks essen. Haben Sie Appetit? Ich habe ein paar Stück extra gekauft.«

Das Paar am Tisch trug Pink und warf Jane ein fahles Lächeln zu. Beide waren dünn und blass, und Janes einzige Gedanken waren, dass sie wohl viel Geld hatten und ein Eisenpräparat brauchten.

Ein gutaussehender älterer Typ in einem weißen Polohemd und Khaki-Shorts stand am Grill. Auch er sah nach Reichtum aus. Diese geraden weißen Zähne gab es nur für eine Menge Geld.

»Ich bin Paul«, sagte er. »Schön, Sie kennenzulernen. Genevieve spricht in höchsten Tönen von Ihnen.«

»Jane arbeitet in Harvard«, sagte Genevieve zu den Davenports. Die nickten in Zustimmung zur Institution, wenn nicht sogar zu Jane selbst.

Sie hatte vergessen, dass sie furchtbar aussah. Sie war ja überhaupt nicht zu Hause gewesen, um sich umzuziehen oder abzuschminken. Also trug sie die gleichen Sachen wie gestern, in denen sie noch dazu geschlafen hatte.

»Mein Hund ist weggelaufen«, sagte sie.

»Nein!«, rief Genevieve.

»Doch. Deshalb suche ich hier nach ihm.«

»Hier?«, fragte Paul.

»Also, überall. In der ganzen Gegend.«

»Haben Sie schon überlegt, Clementine zu konsultieren?«, meinte Genevieve. Und dann an die Davenports gewandt: »Clementine ist Janes Hellseherin. Wir sind gestern bei ihr gewesen.«

»Wie witzig«, sagte die Frau reserviert.

»Das war es«, bestätigte Genevieve. »Eigentlich ist das nicht mein Ding, aber ich dachte mir – was soll’s?«

Jane hätte sie am liebsten geohrfeigt.

»Genevieve, kann ich Sie einen Moment sprechen?«, sagte sie in einem Ton, bei dem alle die Augen aufrissen.

»Äh, klar«, erwiderte Genevieve. »Kommen Sie mit rein. Kann ich irgendjemand noch etwas bringen, wenn ich schon aufstehe?«

Keiner antwortete. Jane folgte ihr durch die Schiebetüren in die grellweiße Küche.

»Jane, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, flüsterte Genevieve. »Haben Sie getrunken?«

»Es kursiert ein Gerücht über Sie«, sagte Jane.

Genevieve wurde knallrot. »Was meinen Sie damit? Ist es was Schlimmes? Finden die Leute den Anbau zu protzig, ist es das?«

»Nein. Es geht das Gerücht, Sie hätten einen alten Friedhof beseitigt, um Platz für Ihren Pool zu schaffen.«

Genevieve erstarrte. Damit war klar, sie hatte absolut nicht damit gerechnet, dass Jane das Thema anschneiden würde.

»Der Junge, den Sie engagiert haben, um die Gräber zu beseitigen, kann seine Klappe nicht halten. Kein Wunder, dass die jetzt hier rumspuken. Nachdem Sie so etwas getan haben.«

Genevieve sah sie mit einem schiefen Lächeln an, als wäre sie sich nicht sicher, ob Jane nur Spaß machte.

»Alle in der Stadt wissen es«, sagte Jane.

Da ließ Genevieve sich auf einen der weißen französischen Bistrostühle sinken, die um den runden weißen Küchentisch standen.

»Oh Gott«, sagte sie.

So sehr sie sich vor Geistern fürchtete, hatte Genevieve noch mehr Angst davor, nicht gemocht zu werden.

»Und Sie haben mich in diesen ganzen Schlamassel mit reingezogen«, sagte Jane. »Sie wissen, dass das eine Straftat ist, oder? Man darf die Totenruhe nicht einfach stören.«

In diesem Punkt war sie sich nicht hundertprozentig sicher, aber es klang zutreffend.

Sie zuckten beide zusammen, als Paul sich zu Wort meldete. Keine von ihnen hatte ihn und Mrs Davenport reinkommen sehen.

»Gen«, sagte er. »Was hast du jetzt wieder angestellt? Was zum Teufel ist los?«