Dora Ekkehards kleines Reich hinter der Rückwand des Kinos bestand aus zwei Räumen. In der kleinen Kammer, die auch gleichzeitig als Verkaufsschalter diente, konnte man kaum treten. An der Wand gegenüber der Tür stand ein riesiger Kühlschrank, daneben die Kästen mit Bier und Erfrischungsgetränken. Unter dem großen Fenster rechts, an dem sie die Kinokarten verkaufte, waren Kartons mit Chipstüten und Süßigkeiten gestapelt. In der Mitte stand ein alter Drehstuhl. Damit konnte sie alle Zutaten für einen zünftigen Kinobesuch erreichen. Im Vorführraum standen drei große Projektoren. Die Schriftzüge und Namen der Firmen deuteten auf ein längst vergangenes Zeitalter. Obwohl die Vorführung nun schon seit fast zwei Stunden vorbei war, war es hier drinnen immer noch heiß und stickig. Auf einer kleinen Bank an der Wand saßen dicht gedrängt Birte und Markus. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Sie hielt krampfhaft eine Tasse in der Hand.
Rieder stellte Damp und sich vor. Damp war hinter Rieder in den engen Vorführraum getreten. Eigentlich war für ihn gar kein Platz mehr. Die Abluft der immer noch heißen Projektoren nahm ihm den Atem und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Außerdem bekam er Platzangst. Er quälte sich wieder zurück zur Tür. „Ich warte einfach draußen. Außerdem muss die Aussage von Frau Ekkehard noch aufgenommen werden.“ Damp drehte sich um und marschierte hinaus.
Rieder wandte sich den beiden Zeugen zu. „Sie haben also den Toten entdeckt?“
Birte und Markus berichteten, wie sie auf den Pfad abgebogen waren, sich auf den Kahn gesetzt hatten und Birte mit dem Fuß an den Toten gestoßen war. Danach waren sie zum Zeltkino gerannt. Dort hatten sie Dora Ekkehard von ihrem Fund erzählt. Die Kinofrau hatte dann gleich versucht, den Inselarzt zu erreichen.
„Als der Arzt da war, sollten wir hier warten. Und sie ist mit ihm zu dem ... Toten“, erzählte Birte. „Sie kam noch einmal zurück, um uns Bescheid zu sagen, dass sie die Polizei holen müsste. Seitdem sitzen wir hier.“
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Vor oder nach der Vorstellung?“
Beide sahen sich an und schüttelten dann den Kopf. „Wir wollen einfach nur nach Hause“, bat Birte ängstlich. „Das war so schrecklich. Wie er da lag.“ Die Frau war den Tränen nah.
„Ich kann Sie verstehen. Aber ich habe leider noch ein paar Fragen. Gab es einen Grund für Ihren Ausflug ins Strandwäldchen? Der Weg endet doch da einfach.“
Birte und Markus erröteten leicht und schauten betroffen auf den Fußboden. Markus fand zuerst die Sprache wieder. „Wir wollten noch ein bisschen allein sein.“ Er machte eine kurze Pause. „Nach dem Film!“
„Aber da hätten Sie doch auch an den Strand gehen können?“
„Ich meinte, völlig allein.“
„Mensch! Sind Sie so schwer von Verstand!“, platzte es aus Birte wütend heraus. „Warum will man allein sein? Im Dünenwald? Mondlicht. Sternenhimmel. Mein Gott!“
Rieder musste grinsen, ein wenig auch über seine eigene Begriffsstutzigkeit. „Schon klar. Und auf dem Weg dorthin? Ist Ihnen da jemand begegnet?“
Beide schüttelten den Kopf.
„Waren Sie davor schon mal dort?“
„Ja, ich“, antwortete Birte. „Im vergangenen Jahr habe ich dort ein paar Fotos von dem Boot gemacht. Es sah so schön aus, wie es von dem Efeu so langsam überwuchert wurde. Zwei Zweige rankten sich über den Kiel ...“
„Haben Sie die Fotos noch?“
„Hier?“
„Ich müsste nur auf meinem Computer nachschauen. Den habe ich im Häuschen.“
„Ach, Sie wohnen hier auf der Insel?“
„Nein, wir sind im Urlaub bei Freunden, deren Familie hier auf der Insel ein kleines Ferienhäuschen besitzt. In der Dünenheide.“
„Das wäre nett. Bliebe noch die Frage: Kannten Sie den Toten?“
Markus schüttelte den Kopf. „Nein! Wir kennen hier auf der Insel niemanden außer unseren Freunden.“
„Und in der Dunkelheit haben wir doch auch gar nichts richtig gesehen“, ergänzte Birte.
„Woher wussten Sie denn, dass er tot ist?“
„Das wussten wir doch nicht! Wir sind einfach losgerannt. Hierher, um Hilfe zu holen. Das haben wir Ihnen doch schon gesagt“, erklärte Markus, der langsam ungeduldig wurde. „Könnten wir endlich nach Hause? Unsere Freunde werden sich schon Sorgen machen.“
„Klar. Wir bringen Sie hin. Dann weiß ich auch gleich, wo ich Sie finde, damit Sie die Aussage unterschreiben können und falls es noch ein paar Fragen gibt.“ Rieder notierte die Telefonnummern. Die beiden würden noch bis Ende der Woche auf der Insel bleiben.
Damp hatte inzwischen die Aussage von Dora Ekkehard aufgenommen. Die Polizisten verglichen kurz ihre Notizen. Sie stimmten überein.
Auch die Kinofrau drängte zum Aufbruch. „Ich würde dann auch gern die Bude zumachen. Wenn es nichts weiter gibt ...“
„Momentan nicht.“ Rieder und Damp verabschiedeten sich von ihr. Sie ließen Birte und Markus in den Polizeiwagen einsteigen und fuhren davon.
„Was nun?“, fragte Damp. Sie hatten das Pärchen bis zum Häuschen ihrer Freunde gebracht. Es lag versteckt hinter ein paar Bäumen am Beginn der Dünenheide, ziemlich nah am Strand. In dem Holzhäuschen hinter den schmalen Birkenbäumen hatte noch Licht gebrannt. Rieder wäre am liebsten mit reingegangen, um sich die Fotos von dem Boot anzusehen und sie irgendwie zu kopieren. Sie wären ein guter Abgleich für Behm, wenn er morgen den Tatort besichtigen würde. Doch dann hatte er die geplagten Gesichter von Birte und Markus im Rückspiegel gesehen.
Damp trommelte aufs Lenkrad und sah auf die Uhr: „Gleich eins.“
„Was ist mit der Frau von Herrn Stein?“
Damp seufzte. „Muss das noch sein? Hat das nicht Zeit bis morgen?“
„Nein! Das muss sein. Wo wohnen die Steins?“
Statt einer Antwort wendete Damp den Wagen. Seine Wut ließ er beim Rangieren am Gaspedal und an der Bremse aus. Rieder wurde kräftig durchgeschüttelt. Die Hinfahrt über den Sandweg zum Haus der Freunde von Birte Seige und Markus Kasan war im Vergleich zur Rückfahrt eine Spazierfahrt gewesen. Jetzt gab Damp alles. Er bretterte durch die Kuhlen. Rieder hielt sich krampfhaft am Griff am Wagendach fest und streckte die Füße gegen den Boden. „Geht es auch etwas langsamer?“
Damp reagierte nicht. Über den Deichweg ging es in hohem Tempo bis zum Wiesenweg. Dort bogen sie links ab und fuhren durch das nächtliche Vitte, am Hafen und am Rathaus vorbei nach Kloster. Kein Mensch war mehr unterwegs. Alle Fenster waren dunkel. Die Insel wirkte wie ausgestorben.
Am Platz vor dem Inselmuseum in Kloster bremste Damp scharf. „Da wären wir.“
Rieder konnte nichts erkennen. Da war nur das Inselmuseum. Da würde Stein wohl nicht wohnen. Der alte Anker. Rechts der kleine Kiosk. „Was soll das?“, fragte Rieder irritiert.
Damp zeigte nach vorn: „Da ist es.“
Rieder schaute genauer hin. Und wirklich, da war ein Gartentor. Es war kaum zu erkennen unter dem Geäst der Sträucher und Bäume.
Die Polizisten stiegen aus. Keine Klingel. Rieder rüttelte am Tor. Verschlossen.
„Tja, das war’s dann wohl“, stellte Damp fest und war schon drauf und dran, zum Polizeiwagen zurückzugehen. Doch so leicht gab Rieder nicht auf: „Und wenn der Frau auch etwas passiert ist?“
Damp blieb stehen. Er schob mit einem Ruck seine Hände in die Hosentaschen. „Und danach hat, wer auch immer, das Gartentor wieder mit dem Schlüssel verschlossen.“ Kurzes Kopfschütteln. „Vergessen Sie es! Die Stein ist einfach nicht da. Basta. Wollen Sie die Frau jetzt noch auf der Insel suchen?“
Rieder und Damp starrten sich wie bei einem Duell an. Dann drehte sich Rieder um und begann über das Tor zu klettern. Das war gar nicht so leicht, denn es war mannshoch, und zwischen den Latten waren die Abstände zu klein, um sich mit den Füßen auf den Querriegeln abzustützen. Irgendwie schaffte er es aber, rüberzukommen. Schließlich musste er es seinem Kollegen zu beweisen.
Rieder tastete sich vorsichtig voran. Irgendwo musste es hier eine Treppe geben. Da wurde es plötzlich hell. Damp hatte den Scheinwerfer auf dem Dach des Polizeiautos eingeschaltet. Im Lichtkegel wurden Stufen sichtbar. Sie waren verrottet und wenig vertrauenerweckend. ‚Nicht gerade ein Aushängeschild für einen Bauunternehmer‘, dachte sich Rieder. Vorsichtig stieg er nach oben. Plötzlich blendete ihn auch von vorn ein Licht. „Frau Stein?“, rief Rieder. „Ich bin von der Polizei!“ Es kam keine Antwort. Wahrscheinlich hatte er nur einen Bewegungsmelder passiert und damit eine Lampe eingeschaltet. Trotzdem blieb er vorsichtig. Vor ihm lag eine grüne Wiese. Darauf stand ein mächtiges Reetdach-Haus mit einem runden verglasten Vorbau. Alle Fenster waren dunkel. Rieder schlich bis zum Haus. Als er sich umdrehte, war er überwältigt von dem Ausblick. Unter ihm glitzerte im Mondschein die Ostsee. Keine Spur von Nebel. Das Anschlagen der Wellen war zu hören. In der Ferne funkten die Leuchttürme der Insel Møn und vom Darß. Auf dem Meer blinkten die Leuchtbojen der Fahrrinne.
Rieder schaute durch die Erkerfenster in das Haus hinein. Er erkannte einen Couchtisch und zwei Sessel. Der Polizist erinnerte sich, dieses Haus immer auf der Fahrt nach Kloster hoch oben über dem Inselmuseum thronen zu sehen. Von unten hatte es wie ein Rundbau ausgesehen, doch nun entpuppte es sich als langgestrecktes Gebäude mit einer runden, verglasten Veranda. Der Lack blätterte ab. Auf der Rückseite befand sich die Haustür. Ohne Klingel. Rieder klopfte. Erst vorsichtig. Dann lauter. Aber niemand meldete sich. Er drückte die Klinke nach unten, aber die Tür gab nicht nach. Meistens versteckten die Hiddenseer ihre Hausschlüssel unter dem Abtreter oder in einem Blumenkasten in der Nähe. Rieder hob die Bastmatte vor der Tür hoch. Fehlanzeige. Und Blumenkübel waren nicht zu entdecken. Auf der Wiese hinter dem Haus stand eine Wäschespinne. Doch weder Badesachen noch Handtücher waren dort aufgehängt. Alles wirkte wie verlassen. Rieder ging zurück.
Damp lehnte mit verschränkten Armen an der Motorhaube, als sich Rieder wieder über das Tor quälte. Neben ihm stand Malte Fittkau mit seinem Fahrrad.
„Was machst du hier?“, fragte Rieder seinen Nachbarn.
„Kleiner Nachtspaziergang.“
‚Wer’s glaubt‘, sagte sich Rieder. ‚Die pure Neugier hat dich hergetrieben.‘ Zu Damp gewandt, bemerkte er: „Niemand da.“
Damp nickte. „Kein Wunder. Man erzählt sich, dass es bei den Steins schon länger kriselt.“
„Wer sagt das?“
„Der Inselfunk.“ Dabei wanderten Damps Pupillen in Richtung Fittkau. Früher waren Fittkau und Damp wie Feuer und Wasser gewesen. Waren sie aufeinandergetroffen, hatte es immer gleich Streit gegeben. Doch seit die beiden gemeinsam Jagd auf den Mörder des Inselpfarrers gemacht und dabei ihr Leben riskiert hatten, herrschte Waffenstillstand. Kein Frieden. Rieder war das nicht so recht. Bisher war Fittkau für ihn im Kleinkrieg mit seinem Kollegen Damp immer ein Verbündeter gewesen. Nun verhielt er sich neutral. Und dass die beiden nun geradezu harmonisch hier herumstanden, machte Rieder ärgerlich.
„Wir sehen uns morgen früh im Revier. Nacht.“
Damit marschierte er an Damp und Fittkau vorbei in Richtung Vitte.
„Wollen Sie nicht mitfahren?“, rief ihm sein Kollege noch hinterher.
Rieder antwortete nicht. Er war kurz davor, zu explodieren.
Wenig später fuhr Damp an ihm vorbei. Malte sah er später mit seinem Fahrrad über den Deich nach Vitte zurückfahren.
Obwohl er straff gelaufen war, hatte sich der Ärger über Damp und Malte Fittkau nicht verflüchtigt. Er schloss die Tür seines Häuschens im Wiesenweg auf, trat ein und knallte sie dann zu. In der kleinen Küche riss er den Kühlschrank auf, holte ein Bier raus. Die Schublade des Besteckkastens bekam auch noch seinen Frust zu spüren, als er den Flaschenöffner herausholte. Es öffnete die Flasche, da hörte er eine verschlafene Stimme von oben, aus dem kleinen Schlafzimmer unter dem Dach.
„Stefan?“ Er sah Charlottes nackte Beine die Holztreppe herunterlaufen. Sie trug ein äußerst kurzes Nachthemd. Der Anblick versöhnte Rieder und ließ seine Laune deutlich steigen. Sie küsste ihn. Strähnen ihrer blonden Haare fielen ihm ins Gesicht. Er umfasste sie an der Hüfte und zog sie zu sich heran.
„Wie spät ist es?“, hauchte sie verschlafen in sein Ohr.
„Zu früh. Gerade zwei.“ Er stellte das Bier auf den Küchentisch und begann sie sanft zu streicheln.
„Was ist eigentlich los?“
„Ein Herr Stein lag tot in der Nähe vom Zeltkino.“
Charlotte schaute erschrocken zu ihm hoch: „Was? Peter Stein?“
Rieder nickte. Er hatte aber keine Lust, mehr zu erzählen. „Lass uns hoch gehen. Eine nette Überraschung, dass du hier bist.“
Eigentlich kam Charlotte nur am Montag zu ihm nach Vitte, wenn in ihrem Strandcafé in Neuendorf Ruhetag war. Bei ihm gab es keine Dusche, nur ein großes Waschbecken. Und die Toilette war von außen zu begehen. So fuhr Rieder meist zu Charlotte nach Neuendorf. Sie hätte es gern gesehen, wenn er ganz zu ihr gezogen wäre. Bisher hatte er aber dieses Thema konsequent gemieden. Seine Ausrede: Es könnten nicht beide Polizisten in Neuendorf wohnen. Allerdings wollte er das Häuschen auch nicht aufgeben. Er mochte die niedrigen Räume, den Duft der alten Möbel, den Blick aus dem Fenster auf die Heckenrosen und nicht zuletzt seine Selbständigkeit. Trat er durch die Tür, fühlte er sich einfach zu Hause. Natürlich zeigten sich jetzt mit Beginn des Herbstes auch die Nachteile. Die Kälte drang durch die dünnen Wände. Es gab zwar im unteren Zimmer einen Ofen, aber oben, auf dem Schlafboden, musste er mit Radiatoren heizen. Mit Unbehagen hatte er beobachtet, wie der Stromzähler rotierte, wenn er sie in Betrieb nahm. Die Stromrechnung würde sich sehen lassen können. Trotzdem wollte er hier bleiben.
„Aber was ist denn genau passiert?“, drang Charlotte auf ihn ein.
„Ich erzähle es dir morgen früh. Jetzt bin ich einfach platt. Lass uns ins Bett gehen“, sagte Rieder.
Sie kletterten die schmale Holztreppe hoch. Im Bett schmiegte sich Charlotte eng an ihn. Zu mehr aber war er nicht mehr imstande. Trotzdem genoss er es, dass sie jetzt so nah beieinander unter dem Reetdach wie in einer Höhle lagen. Durch die halbrunden Fenster konnte man in die Weite schauen und sich langsam vom Schlaf einfangen lassen.