VI

Das Gartentor zum Grundstück der Steins am Inselmuseum war immer noch verschlossen. Rieder wollte sich gerade wieder auf sein Rad schwingen, um es am anderen Eingang des Grundstücks zu versuchen. Da kam aus dem kleinen Kiosk die Besitzerin gerannt. „Herr Polizist!“, rief sie. „Herr Polizist. Sie wollen bestimmt zu Frau Stein. Die Arme. Sie ist gerade zum Strand runter. Hoffentlich tut sie sich nichts an!“

Rieder blieb stehen. „Wie kommen Sie denn da drauf?“

„Würden Sie baden gehen, wenn Sie gerade erfahren haben, dass ihr Mann ermordet worden ist?“, entgegnete ihm die Kioskbesitzerin entrüstet. „Vielleicht machen Sie nun bald mal was!“

Rieder stellte sein Rad wieder ab und wollte in Richtung Strand. Da blieb er nochmal stehen.

„Was ist denn nun noch?“, rief die Frau.

„Wie sieht Frau Stein eigentlich aus?“, fragte der Polizist.

Rieder kletterte auf die kleine Mauer neben dem Inselmuseum und zwängte sich dann durch einen mit Heckenrosen überwachsenen Durchgang durch die Dünen zum Strand. Der Strand von Kloster war menschenleer. Für morgendliche Jogger war der Sand hier zu weich und zu tief. Auch von professionellen Bernsteinsuchern keine Spur. Durch den Steindamm, die Hucke, der hier das Steilufer schützte, gab es keinen Seetang, mit dem das Gold der Ostsee angespült wurde. Allerdings gab es eine kleine Lücke im Wall.

Gleich hinter der Düne lag ein rotes Badehandtuch im Sand, darauf ein weißer Bademantel. Eine einzelne Person schwamm im Wasser. Eigentlich sah man nur ihren Kopf. Auf dem Rücken liegend, strebte sie mit langsamen Kraulschlägen wieder dem Ufer entgegen. Rieder hatte schon die roten Haare erkannt. Also kein Grund zur Panik.

Erst kurz vor der schmalen Öffnung im Steindamm drehte sich Ulrike Stein auf den Bauch und tauchte aus den Wellen auf. Natürlich nackt. Im Gegenlicht der Morgensonne glänzte ihr nasser schlanker Körper. Rieder war das peinlich, aber er konnte sich gleichzeitig kaum losreißen von dem Anblick.

Sie nahm den Bademantel und schlüpfte hinein. Dann streckte sie Rieder die Hand entgegen. „Guten Morgen, ich bin Ulrike Stein. Sie sind der Zivilbeamte, der jetzt hier auf der Insel neben Damp Dienst tut. Nicht wahr?“ Bevor er etwas sagen konnte, bemerkte sie: „Und nun ist es wie im Krimi. Sie werden mir mitteilen, dass mein Mann zu Tode gekommen ist, und ich müsste eigentlich in Tränen ausbrechen.“

„So stellt man es sich vor.“

„Dann hat Ihr Film schon einen Riss. Ich weiß schon, dass Peter tot ist. Michael hat mich heute Morgen besucht. Also Herr Durk. Er war Peters bester Freund.“ Etwas im Tonfall dieses Nachsatzes ließ Rieder aufhorchen. Ulrike Stein nahm ihr rotes Handtuch und begann die glitzernden nassen Haare abzutrocknen.

„Es gibt allerdings noch ein paar Fragen mehr“, erklärte Rieder.

„Hätten Sie mich nicht eigentlich bestrafen müssen? Ich habe doch unbekleidet im Textilbereich gebadet. Ihr Kollege versteht da keinen Spaß.“

Ulrike Stein reichte Rieder eine dampfende Tasse Tee. Von der Veranda sah man auf Hiddensee herab. Wie eine Schlange lag die Insel zu ihren Füßen.

„Sind das momentan wirklich Ihre größten Sorgen?“, erwiderte Rieder. „Mich würde eher interessieren, warum jemand schwimmen geht, wenn er gerade erfahren hat, dass sein Ehepartner getötet wurde?“

Ulrike Stein schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.“ Sie ließ ihren Blick in die Ferne gleiten. „Da ist eine tiefe Traurigkeit, dass Peter tot ist. Er war über dreißig Jahre Teil meines Lebens und wird es auch bleiben. Aber sie haben sicher auch gehört, dass wir seit einiger Zeit getrennt gelebt haben. Oder?“

Rieder nickte. Sie drehte ihren Kopf und schaute ihm in die Augen. „Und was sagt sonst so der Inseltratsch?“

„Ich bin noch nicht so lange auf der Insel, um hier alle Geschichten zu kennen. Auch Ihr Mann war für mich bis gestern Abend ein Unbekannter.“

„Komisch ...“

„Wollen Sie gar nicht wissen, was passiert ist?“ Ulrike Stein stellte ihre Tasse ab, stand auf und trat an eines der Fenster. Sie drehte Rieder den Rücken zu und schaute hinaus. „Durk hat es mir schon erzählt. Er sei niedergeschlagen worden. Was soll ich da noch fragen?“

„Ich hatte versucht, Sie gestern Nacht noch zu erreichen. Aber ich habe Sie nicht angetroffen. Wo waren Sie gestern Abend?“

„Die berühmte Frage nach dem Alibi?“ Sie lächelte ein wenig. Rieder irritierte das. „Ich war bei Freunden. Sie machen hier gerade Urlaub und wohnen in Grieben im Hotel, Enddorn‘, in einem Appartement. Marie und Kurt Zabel. Ich habe dort auch übernachtet und bin erst heute Morgen hierher zurückgekommen. Durk stand schon vor der Tür und wartete auf mich.“

„Wie war denn das Verhältnis zu Ihrem Mann? Gab es Streit?“

Ulrike Stein dachte einen Moment nach. Rieder versuchte ihren Gesichtsausdruck zu ergründen.

„Nein, eigentlich nicht. Es wäre sicher übertrieben, dass wir nur im Guten auseinandergegangen wären, aber wir haben jeder für sich unser Leben hier auf der Insel weitergelebt. Er in seinem Haus in Vitte, ich hier auf dem Hügel in Kloster. Jeder hatte seine Arbeit ...“

„Was machen Sie?“

„Ich habe eine Praxis für Naturkosmetik und Physiotherapie in Vitte. Das war vielleicht auch zuletzt der einzige Berührungspunkt. Sein Lager und mein Laden liegen beide im Hafen von Vitte. Wir sind uns nicht oft begegnet. Er organisierte alles von seinem Haus aus oder war auf den Baustellen zu finden.“

„Warum haben Sie sich getrennt?“

„Auseinandergelebt.“ Ulrike Stein drehte sich wieder um und setzte sich auf das breite Fensterbrett. Sie verschränkte die Arme und zog die Schultern hoch. Es schien, als würde sie frieren. „Man glaubt, ein Kapitel eigentlich schon abgeschlossen zu haben. Und dann ist alles plötzlich wieder da. Und dann sitzt man hier, weiß, dass Peter tot ist und denkt die ganze Zeit, dass diese Veranda sein Lieblingsplatz war.“

„Kein Streit ums Geld? Ums Haus? Sind Sie eigentlich geschieden?“

„Scheidung war nie ein Thema. Das hätte alles nur komplizierter gemacht. Wir besitzen gemeinsam mehrere Häuser hier auf Hiddensee und wollten nicht um Grund und Boden streiten und damit Anwälte und Notare reich machen. Peter hat sich um alles gekümmert, die Vermietung der Ferienwohnungen mit allem Drum und Dran: Saubermachen, Rasen mähen und mir meinen Anteil an den Einkünften überwiesen. Das lief alles ohne Probleme. Peter war großzügig. Für alle Fälle habe ich noch mein eigenes Einkommen durch die Praxis. Die läuft in der Saison sehr gut, und so langsam macht sich auch unter den Hiddenseer Frauen die Erkenntnis breit, dass man ab und zu mal was für Körper, Haut und Seele tun sollte.“

„Haben Sie wieder eine neue Beziehung?“

„Spielt das eine Rolle?“

„Möglich. Bei Mord spielt immer alles eine Rolle.“

„Hier und da ein Abenteuer. Immer hübsch diskret. Nicht auf der Insel.“

„Und Ihr Mann?“

„Wie gesagt, wir sind seit zwei Jahren nicht nur getrennte Wege, sondern, soweit es die Insel erlaubt, auch unsere eigenen Wege gegangen. Man hörte dies und das ...“

„Was hörte man denn?“

„Kleine Affären. Ich glaube aber nichts Ernstes.“

„Mit wem?“

Schulterzucken.

„Ich denke, Hiddensee ist ein Dorf?“, hakte Rieder nach.

„Sie kannten auch nicht meinen Mann“, entgegnete Ulrike Stein schmunzelnd. „Ein bisschen müssen Sie auch selbst Ihre Arbeit machen, Herr Rieder.“

„Hätte es Sie gestört, wenn es was Ernstes gegeben hätte?“ „Vielleicht. Aber wir sind auch alle erwachsen. Oder?“ Ulrike Stein stand auf. „Noch einen Tee?“

Rieder spürte, dass sie das Thema nicht vertiefen wollte. „Nein, danke.“

„Aber ich will noch einen. Die Ostsee ist im Oktober doch schon ganz schön kalt.“ Sie ging mit ihrer Tasse in die Küche. Rieder folgte ihr. Sie spülte ihre Tasse aus und schaltete den Wasserkocher ein.

„Wer könnte ein Motiv haben, Ihren Mann zu töten?“, fragte der Polizist.

Schulterzucken. „Keine Ahnung. Hier auf der Insel war mein Mann beliebt. Alle ließen von ihm bauen, was zu bauen war. Dass es da mal Streit gibt, ist im Baugeschäft normal. Die Besitzer wollen Paläste für wenig Geld, und die Bauleute müssen oft lange auf ihr Geld warten.“ Sie tat einen Teebeutel in die Tasse und goss heißes Wasser drüber.

„Er saß seit fast zwanzig Jahren im Gemeinderat und wurde auch immer wiedergewählt. Das spricht doch eher dafür, dass er recht beliebt war. Aber darüber sollten Sie besser mit Durk reden.“

Sie gingen wieder zurück in die Veranda und setzten sich in die beiden Sessel. „Und außerhalb von Hiddensee?“

„Mit dem Verkauf eines Teils der Firma und dem Umzug nach Hiddensee hat er keine Aufträge außerhalb der Insel mehr angenommen. Für die letzten zwei Jahre kann ich Ihnen darüber allerdings nichts sagen. Hier gibt’s immer weniger neu zu bauen, um damit richtig viel Geld zu verdienen. Meist sind es Sanierungen oder Umbauten. Das bringt nicht so viel.“

„Was heißt: Umzug der Firma nach Hiddensee?“

Ulrike Stein stand und nahm ein Bild von der Wand. Sie gab es Rieder. „Peter und sein Vater.“

Das war nicht zu übersehen. Die Gesichtszüge und die Haltung glichen sich fast wie bei Zwillingen, wenn nicht der Altersunterschied gewesen wäre.

„Früher, als Peters Vater noch lebte, hatte die Firma ‚Inselbau‘ ihren Sitz auf Rügen. In Bergen“, erzählte Ulrike Stein weiter. „Willy Stein, mein Schwiegervater, starb kurz vor der Wende. Als Peter dann allein für die Firma verantwortlich war, wurde ihm irgendwann die Fahrerei zu viel. Jeden Morgen von der Insel rüber nach Rügen und abends wieder zurück, und das bei jedem Wetter. Hier gab es damals auch genug für ihn zu tun. Schon vor der Wende hatte er hier einen Bauhof betrieben. Das reichte ihm. Den Rest der Firma, die ‚Inselbau Rügen‘ hat er verkauft und hier aus dem Bauhof die ‚Inselbau Hiddensee‘ gemacht. Außerdem hat er dann auch noch so eine Art Deal gemacht mit den Baufirmen auf Rügen. Die bauen hier nicht und er dort nicht.“

„Und das funktioniert?“

„Ich denke schon.“

„Haben Sie eigentlich Kinder? Gibt es noch weitere Angehörige?“

Der Blick der Frau erstarrte. Sie nahm das Bild zurück und hängte es wieder an. „Kinder haben wir nicht. Peter hatte noch einen Bruder. Der lebt aber in Bremen.“

Als sie sich wieder umdrehte, wirkte sie angespannt. „Haben Sie noch mehr Fragen oder reicht das erstmal?“

Rieder stand auf. „Nein. Ich habe einen ersten Eindruck bekommen. Sie müssen Ihren Mann noch identifizieren. Wir haben ihn in die Leichenhalle an der Inselkirche gebracht. Ich werde natürlich auch Ihre Bekannten befragen müssen. Sie werden das verstehen?“

„Muss das sein?“

„Es geht um Ihr Alibi.“

„Das meine ich nicht“, erklärte sie. „Die Identifizierung. Möselbeck kennt ihn doch länger als ich. Seit Kindertagen. Und Durk auch. Die drei waren wie Pech und Schwefel seit der Schulzeit.“