XII

Damp fand Rieders Abgang zwar merkwürdig, war aber zugleich ganz froh, allein zum Hotel „Enddorn“ in Grieben zu fahren. Kurz vor Kloster bog er rechts ab. Er wollte nicht über den Kirchweg fahren. Die vielen Schlaglöcher gingen gewaltig auf seine Hüfte, und die hatte schon genug unter seinem Gewicht zu leiden. Auf dem Weißen Weg waren nur ein paar Radfahrer unterwegs. Im Vorbeifahren schaute Damp, ob sie halbwegs verkehrssicher aussahen, ersparte ihnen aber eine Kontrolle. Am Apartmenthotel „Dornbusch“ bemerkte er, dass das Hinweisschild mit dem heutigen Speiseangebot viel zu weit auf der Straße stand. Auf dem Rückweg würde er der schnippischen Restaurantleiterin einen Dämpfer verpassen und dafür sorgen, dass sie die Tafel unter seinen Augen an ihren ordnungsgemäßen Platz rückte.

An der Kreuzung Kirchweg/​Hafenweg musste der Polizist rechts weg. Auf dem Riedsal, dem kleinen See am Ortsausgang von Kloster, tummelten sich Wildgänse vor ihrem Abflug in den Süden. Damp beschleunigte etwas. Nachdem die Straße leicht bergauf gegangen war, konnte man von der Spitze schon die ersten Häuser von Grieben sehen. Von Kloster bis Grieben standen am Weg noch die alten hölzernen Strommasten mit den weißen Isolatoren. Auf den Leitungen hatten sich hunderte Schwalben versammelt.

Damp parkte den Wagen gegenüber vom Hotel „Enddorn“ auf dem Sandweg, der zum Leuchtturm führte. Linkerhand erhob sich der Rübenberg. Das alte Stromhäuschen hatte jemand so bemalt, dass es jetzt täuschend echt einem alten Bauernhaus glich.

Das Hotel lag am Ortseingang von Grieben, dem nördlichsten Dorf auf Hiddensee. Allerdings gab es keine Ortsschilder. Die Insel gilt als eine Gemeinde. Der Biergarten vor dem Hotel war verwaist. Es war auf der Insel schon zu kühl und zu windig, um draußen zu sitzen. Im Gastraum waren auch nur zwei Tische besetzt. Der Wirt Jürgen Groth war kurz nach der Wende aus Berlin auf die Insel gekommen. Für’n Appel und ’n Ei“, so hatte es Damp der ehemalige Inselpolizist Mohnke erzählt, hatte Groth das Ferienheim eines volkseigenen Betriebes von der Treuhand gekauft. Groth hatte das Gebäude aufwendig saniert und so ausgebaut, dass es nun auf zwei Etagen Apartments gab, alle mit Boddenblick. Im Erdgeschoss hatte jede Ferienwohnung eine Terrasse und einen Grillplatz. Über eine Wiese gelangte man an das Boddenufer. Dort hatte Groth eine Steganlage und ein Bootshaus bauen lassen. Für jedes Apartment stand ein Ruderboot bereit.

Groth’s Restaurant war für seine Fischgerichte bekannt. Er hatte von einigen Hiddenseern die Fischereirechte auf dem Bodden gepachtet. Sie waren froh, nach dem Niedergang der Küstenfischerei noch etwas Geld für ihre Anrechte zu bekommen, die früher über Jahrhunderte ihre Familien ernährt und sie während DDR-Zeiten auch wohlhabend gemacht hatten.

Groth hatte sich einen Kutter gekauft. Einer der Fischer hatte ihm alles beigebracht. Nun stellte er selbst Reusen und Netze, fuhr jeden Morgen raus und holte den Fang ein. Nur Fische aus eigenem Fang kamen auf den Tisch. Früher hatte er mehr heimgebracht, als er verwerten konnte und den Überschuss an andere Gaststätten auf der Insel verkauft. Das war ein hübsches Nebengeschäft gewesen. Nun gab es auch Tage, wo er ohne Fang heimkehrte. Der Fischbestand im Bodden hatte durch Überfischung stark abgenommen. Außerdem machten allen Fischern die wachsenden Kolonien der Kormorane im Norden und Süden von Hiddensee zu schaffen. Ein Kormoran frißt am Tag mindestens ein halbes Kilo Fisch. Die Fischer, auch Groth forderten einen Abschuss der Vögel. Das war aber im Biosphärenreservat verboten. Groth glaubte, mit anderen Fischern auf eine geniale Idee gekommen zu sein. Er hatte sich eine alte kleine Kanone besorgt. In der Brutzeit war er mit seinem Kutter und einigen Fischern zu den Kormoran-Kolonien gefahren und hatte dort die Kanone abgefeuert. Die aufgeschreckten Vögel flogen davon und blieben so lange weg, dass die Brut in den Eiern abstarb. Allerdings ging der Schuss nach hinten los. Groth hatte ein Kamerateam mitgenommen, das seinen Kampf gegen diese tierischen Feinde dokumentieren sollte. Nachdem der Film im Fernsehen gelaufen war, hatten ihn Naturschützer bei der Polizei angezeigt. Damp war bei ihm aufgetaucht und hatte die Kanone als Beweismittel beschlagnahmt. Im Prozess waren Groth und seine Fischerfreunde zu empfindlichen Geldstrafen verurteilt worden. Nun übte Groth nur noch stillen Protest in seinem Restaurant. Fing er nichts, gab es auch nichts außer Kartoffelsuppe und Bockwurst.

Als Damp hereinkam, stand Jürgen Groth hinterm Tresen und polierte Gläser. Er schien dem Inselpolizisten die Sache mit der Kormoran-Kanone nicht nachzutragen.

„Hallo Chef, was soll’s sein?“, begrüßte er jovial Damp. Der Polizist setzte die Mütze ab und hievte sich auf einen der Holzhocker vor der Theke.

„Es geht um Peter Stein?“

Groth hielt kurz inne. „Den Bauunternehmer?“

„Genau.“

„Was hat der alte Halsabschneider verbrochen?“ Er nahm das nächste nasse Glas vom Tresen und begann es abzutrocknen.

„Nichts. Er ist tot. Ermordet wahrscheinlich. Hat es sich noch nicht bis hierhin rumgesprochen?“

Groth legte Glas und Handtuch aus der Hand. „Woher? Am Morgen war ich draußen auf dem Bodden und dann hier. Seitdem meine polnische Küchenhilfe letzte Woche in die Heimat abgedampft ist, muss ich alles allein machen. Küche, Kneipe, Zimmermädchen. Gott sei Dank ist schon Herbstflaute.“ Dabei deutete er mit dem Kopf in den Schankraum. „Da bin ich aber platt. Der Stein tot. Auf den Schreck brauch’ ich einen Schnaps. Sie auch?“ Damp nickte.

Groth stellte zwei Schnapsgläser auf den Tresen, holte eine Flasche Aquavit hervor und schenkte ein. „Wundern tut’s mich nicht.“

Damp horchte auf. „Was soll das heißen?“

„Stein hat mir den ganzen Umbau hier gemacht. Gab ja keinen anderen auf der Insel. Und der hat auch keinen anderen auf die Insel gelassen. War wie bei der Mafia. Nicht mal eine Armatur durfte ich im Baumarkt kaufen. Ich musste alles von ihm nehmen. Möchte nicht wissen, was mich das zusätzlich gekostet hat.“ Groth hob sein Glas. „Aber nun mal Prost.“

Beide stürzten den Schnaps runter, verzogen kurz das Gesicht. „Der wärmt schön durch, wenn’s jetzt langsam kühl wird“, meinte Groth genussvoll.

Von einem der besetzten Tische winkte ein Mann. „Muss mich mal um meine Gäste kümmern.“ Er ging und kassierte ab.

„Nächste Woche noch. Dann mach’ ich bis Weihnachten erstmal zu“, erklärte der Wirt, nachdem er zu Damp zurückgekehrt war. „Aber was wollen Sie nun von mir? Ich hatte mit Stein schon lange nichts mehr zu tun.“

„Ich muss das Alibi von Frau Stein überprüfen.“

„Von Ulrike?“, fragte Groth verwundert nach. „Warum?“

„Routine, Herr Groth. Alles Routine“, antwortete der Polizist.

Groth füllte nochmal die Gläser. „Also auf die Ulrike lass’ ich nichts kommen. Die hat mit dem Tod ihres Ex bestimmt nichts zu tun. Die hat hier nie ein böses Wort über ihn fallen lassen. Nicht mal nach der Trennung.“ Er prostete dem Polizisten zu, und beide leerten wieder auf einen Zug die Gläser.

Damp knöpfte die Brusttasche seiner Uniformjacke auf. Er zog ein dickes Notizbuch samt Kugelschreiber heraus. „Sie werden verstehen, hier geht es um Mord. Da brauche ich es schon etwas genauer. War Frau Stein gestern hier? Wenn ja, von wann bis wann?“

„Frau Stein kam gegen siebzehn Uhr. Ich habe dann gegen sechs den Fisch zum Apartment der Zabels gebracht. In die Nummer sieben. Wie immer. Sie wollten Fisch grillen. Wie lange die gemacht haben, kann ich nicht sagen. Aber heute Morgen, so gegen sieben, vielleicht auch etwas später, kam Ulrike, äh, Frau Stein hier vorbei, hat noch einen Kaffee getrunken. Wir haben ein bisschen geklönt. Dann ist sie weg. Nach Haus, nehme ich an. Sie muss ja auch ihren Laden in Vitte irgendwann aufmachen. Ich bin danach rausgefahren und habe meine Reusen kontrolliert. War aber Ebbe in den Netzen.“

„Über Nacht war Frau Stein also hier?“

Groth senkte die Stimme, sah sich um und flüsterte dann: „Ich hab’ es eigentlich nicht gern, wenn Gäste hier ihre Freunde mit übernachten lassen. Ehrlich gesagt, ist es laut Hausordnung verboten. Aber bei den Zabels und Ulrike mach ich eine Ausnahme. Die Zabels kommen seit über fünfzehn Jahren hierher. Mehrmals im Jahr. Das sind Stammkunden. Sehen nicht auf die Mark, äh, den Euro. Ulrike kommt auch manchmal ins Hotel, wenn Gäste eine Massage wollen. Wir sind also auch so etwas wie Geschäftspartner.“

„Das war’s schon.“ Damp klappte sein Buch zu. „Sie müssen morgen früh noch kurz ins Revier kommen und Ihre Aussage unterschreiben.“

Er nahm seine Mütze vom Tresen und steckte sie unter den Arm. „Was bekommen Sie?“ Das war eher eine rhetorische Frage. Groth winkte ab: „Geht aufs Haus.“ Anders hatte das Damp auch nicht erwartet.

„Sind die Zabels in ihrem Apartment?“

Groth zuckte mit den Schultern. „Ich bin Hotelier und kein Pförtner. Ich überwache meine Gäste nicht. Sehen Sie doch selbst nach. Aus der Tür nach links und dann hinterm Haus wieder nach links. Die letzte Tür.“

Marie Zabel schien sich nicht zu wundern, dass ein Polizist vor der Tür stand. Sie bat Damp herein. Die Zabels hatten sich wahrscheinlich gerade eine Happy Hour gegönnt. Auf dem kleinen Couchtisch standen zwei Schnapsgläser und dazu eine Flasche „Danziger Goldwasser“. Marie Zabel ließ sich auf das Ecksofa plumpsen, auf dem auch ihr Mann saß. Der blickte Damp mit einem müden Blick an.

Marie Zabel hatte blondiertes Haar. Die bronzefarbene Bräune ihrer Haut stammte eindeutig nicht von der herbstlichen Ostseesonne. Eine weite weiße Bluse kaschierte nur wenig ihre beachtliche Körperfülle. Kurt Zabel hatte schütteres braunes Haar und trug ein weißes Unterhemd. Seine Haut hatte die gleiche künstliche Farbe wie die seiner Frau. Auf seiner behaarten Brust lag eine schwere Goldkette. Identische grün-lilafarbene Jogginghosen aus Ballonseide rundeten das Outfit der beiden ab.

Unaufgefordert setzte sich Damp auf einen Sessel.

„Wollen Sie auch einen?“, fragte Kurt Zabel und deutete auf die Flasche.

„Nein, ich bin im Dienst.“ Außerdem spürte er in seinen Beinen und im Kopf schon deutlich die Wirkung der zwei Aquavite. Er vertrug nicht viel.

„Das spielt doch hier auf der Insel keine Rolle, oder?“, legte Zabel nach, aber Damp ignorierte diese kleine Spitze. „Es geht um den Tod von Peter Stein ...“

„Wir haben schon davon gehört. Ulrike hat uns angerufen“, fiel Marie Zabel Damp ins Wort. „Schlimme Sache.“ Sie zog ein Taschentuch unter einem Sofakissen hervor und schneuzte sich. „Wir kannten ja beide. Nicht wahr, Kurt?“ Der nickte, zeigte aber sonst keine Gemütsregung. „Wenn sich die beiden auch nicht mehr verstanden haben – das wünscht man niemanden.“ Sie rieb sich jetzt mit dem Taschentuch die Augen.

„Wie auch immer“, nahm Damp die Befragung wieder auf, „ich muss das Alibi von Ulrike Stein überprüfen. Sie hat angegeben, dass sie von gestern Abend bis heute Morgen hier bei Ihnen war und auch hier übernachtet hat. Stimmt das?“

„Das stimmt“, antwortete Frau Zabel. Ihr Mann nickte wieder nur. „Ulrike ist gestern Abend gekommen. So gegen fünf, halb sechs. Wir haben gegrillt. War wahrscheinlich das letzte Mal in diesem Jahr. Nicht wahr, Kurt?“ Aber sie wartete gar nicht ab, ob ihr Mann etwas sagen wollte. „Sie hat hier übernachtet und ist heute Morgen wieder weg. Wir haben es gar nicht mitbekommen. Ulrike schläft immer auf dem Sofa hier, wir im Schlafzimmer.“

Damp notierte alles. „Sie kennen Ulrike schon lange?“

„Ich bin mit Ulrike in die Schule gegangen. Auf Rügen“, erklärte Marie Zabel. Dabei fiel dem Polizisten auf, dass man ihre norddeutsche Herkunft gar nicht mehr aus dem Berliner Dialekt heraushörte. „Kurt hat mich dann gerettet.“ Sie tätschelte die Hand ihres Mannes. „Er hat mich von der Insel nach Berlin geholt. Sonst wäre ich hier versauert. Ulrike und ich haben schon in der Sandkiste zusammen gespielt. Unsere Eltern waren bei der Armee in Prora.“

„Ach! Ich komme auch von Rügen.“ Damp wunderte sich selbst über seine Auskunftsfreude. „Aus Middelhagen auf Mönchgut.“

„Middelhagen“, wiederholte sie und lachte Damp dabei an. „Und wo sind Sie zur Schule gegangen?“

„In Sellin.“

„Middelhagen hat sich wirklich gemacht. Wir waren vor kurzem mal dort, als wir meine Eltern in Binz besucht haben. Die wohnen immer noch in den alten Offizierswohnungen, kurz hinter dem Ort. Und Ihre Eltern?“

„Sind leider schon gestorben. Aber stimmt. Das mit Middelhagen habe ich auch gehört. Ich war aber schon lange nicht mehr dort.“

„Hatten Sie dort ein eigenes Haus.“

„Nein, wir haben neben dem ‚Konsum‘ zur Miete gewohnt. Gleich mitten im Ort. Aber nach der Wende mussten meine Eltern umziehen. Der neue Besitzer hat aus den Wohnungen Ferien-Apartments gemacht. Sie sind dann nach Sellin und dort auch gestorben. Aber in Middelhagen sind sie begraben.“

„Ja, wenn man nicht genügend Kapital hat, wird’s schwer“, bemerkte Kurt Zabel.

„Hat es Sie nie weggezogen von hier oben? Hier ist doch eigentlich auch heute noch tote Hose. Also wenn Ulrike nicht hier wohnen würde und Kurtchen nicht so ein großes Herz hätte, dann würden wir im Oktober eher nach Malle fahren, in unsere Ferienwohnung, als nach Hiddensee.“

Damp hatte eigentlich noch nie darüber nachgedacht, seine Heimat zu verlassen. Selbst im Urlaub blieb er auf Hiddensee. Mal ein Ausflug nach Stralsund oder Bergen, aber eigentlich auch nur, wenn es unbedingt nötig war, etwa, weil er etwas auf Ämtern oder bei der Polizeidirektion zu erledigen hatte. Eigentlich war sein Umzug von Rügen nach Hiddensee vor über zehn Jahren die größte Ortsveränderung in seinem Leben gewesen. Weiter war er nicht gekommen. Damp beschlich plötzlich eine gewisse Traurigkeit. Er verabschiedete sich schnell.