XIII

Rieder lief den Wallweg zurück in Richtung Rathaus. Er wollte noch einmal zum Zeltkino, um allein, ohne Damp, mit Dora Ekkehard über die Aussage von den beiden alten Damen Jahnke und Witt zu sprechen. Da war auch noch der Brief von Dora an Peter Stein mit ihrem Widerspruch gegen die Kündigung des Pachtvertrages für das Zeltkino.

Aus der Stoffhülle des Lichtspieltheaters drang lautes Lachen von Erwachsenen. Dann hörte man Kinderstimmen. Rieder klopfte an die Tür der kleinen Baracke. Dora Ekkehard riss die Tür auf. „Was gibt’s denn? Der Film läuft!“ Sie blinzelte gegen das helle Tageslicht. „Ach, Sie sind es?“

„Kann ich reinkommen?“

„Ungern. Mir reicht das Publikum im Zelt.“ Aber als sie wieder in der Baracke verschwand, ließ sie die Tür offen. Rieder nahm das als Einladung. Im Filmvorführerraum war es heiß und stickig. Ein Projektor ratterte mit lautem Geräusch. Dora Ekkehard legte mit schnellen Handgriffen am zweiten Gerät die nächste Filmrolle ein.

„Was läuft denn?“, fragte Rieder neugierig.

„Alfons Zitterbacke.“

„Alfons Zitterbacke?“ Rieder schaute ungläubig durch ein kleines Bullauge in den Saal. Da sah er den pummeligen Jungen mit dem Bürstenschnitt über die Leinwand laufen. Die Farben des Films waren schon deutlich verblasst. „Gott, wann habe ich den das letzte Mal gesehen? Das muss Jahrzehnte her sein.“

„Alfons Zitterbacke“ hatte in seiner Kindheit zu seinen Lieblingskinderbüchern gehört. Was hatte er damals gelacht über die Geschichten des kindlichen Unglücksraben, der immer gute Taten vollbringen wollte, aber dann meist Schiffbruch erlitt. Allerdings entdeckte Rieder jetzt im Publikum kein Kind. „Eine Kindervorstellung für Erwachsene?“

„Kult nennt man das. Oder auch Ostalgie. Die Kinder können doch heute gar nichts mehr anfangen mit Pionieren, Halstuch, Timur-Hilfe. Manchmal kommen Großeltern mit ihren Kindern her. Nach einer halben Stunde langweilen sich die Kinder zu Tode, quengeln, weil sie den Film nicht verstehen. Eine vergangene Welt. Wenn Wessis mit ihren Kindern kommen, weil es ja eine“, sie machte mit den Händen das Zeichen für Anführungsstriche, „‚Kindervorstellung‘ ist, dann habe ich hier gleich eine Debatte, ob man so etwas noch zeigen darf. Wenn aber fast das Blut aus der Leinwand tropft, bei ‚Harry Potter‘ oder ‚Jurassic Park‘, stört sie das überhaupt nicht. Sind auch gute Filme. Keine Frage. Aber die alten waren auch nicht alle schlecht. Und es gibt aber immer noch eine Menge Urlauber, die die alten Sachen sehen wollen. , Zitterbacke‘ oder, Lütt Matten und die weiße Muschel‘. Der ist sogar hier auf der Insel gedreht worden.“

Die Kinofrau startete die nächste Rolle. Auf der Leinwand war nicht mal ein Wackler zu sehen.

„Perfekt“, meinte anerkennend Rieder.

„Gelernt ist gelernt. Nach 46 Jahren kann man das wohl auch erwarten. Oder?“

Dora Ekkehard setzte die ausgelaufene Rolle auf eine Vorrichtung auf dem kleinen Tisch hinter den Projektoren, spannte den Film in eine leere Rolle, drehte sie ein paar Mal, setzte auf die leere Rolle eine Kurbel auf und drehte mit schnellen Bewegungen den Film zurück. Rieder schaute staunend und schweigend zu.

„Sie sind doch sicher nicht gekommen, um mit mir über ‚Alfons Zitterbacke‘ zu plaudern.“

Rieders Miene verfinsterte sich. Er steckte die Hände in die Hosentaschen. „Es gibt ein Problem. Eigentlich zwei.“

Dora Ekkehard hörte auf zu kurbeln und schaute Rieder an.

„Sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt über gestern Abend. Sie haben sich hier vor der Baracke heftig mit Stein gestritten. Dafür haben wir zwei Zeugen. Außerdem haben wir bei Stein noch einen Brief gefunden. Ihren Widerspruch gegen die Kündigung des Pachtvertrages für das Zeltkino.“

Die Kinofrau drehte die Filmrolle bis zum Ende zurück, nahm sie aus der Vorrichtung und packte sie in eine silberne Filmdose. Als sie den Deckel geschlossen hatte, strich Dora fast liebevoll über das Etikett.

Unter dem Tisch zog sie einen Aktenordner hervor, klappte ihn auf und heftete das erste Blatt aus. Sie reichte es Rieder.

„Nach diesen vielen Jahren reichen keine zehn Zeilen, um mitzuteilen, dass hier nächsten Monat Schluss ist und der Vorhang fällt.“

Rieder las: „Sehr geehrte Frau Ekkehard – hiermit teilen wir Ihnen mit, dass die Gemeinde Hiddensee Ihnen die Genehmigung entzieht, das Zeltkino weiter zu betreiben, da es zwischen Ihnen und dem Besitzer des Grundstücks, Peter Stein, zu keiner Einigung über die Höhe der Pachtgebühren ab nächstem Jahr gekommen ist. Wie Ihnen bereits mitgeteilt wurde, kann die Gemeinde nicht weiter anteilig die Gebühren übernehmen. Wir bitten Sie, bis zum 31. Oktober die Fläche auf dem Grundstück geräumt und gereinigt zu übergeben und die Liquidierung des Kinobetriebs vorzunehmen. Mit freundlichen Grüßen, Michael Durk, Bürgermeister.“

„Mit freundlichen Grüßen, Michael Durk“, wiederholte verbittert Dora Ekkehard die letzten Zeilen. „Vorher kam schon die Kündigung von Stein.“ Sie heftete ein weiteres Blatt aus und reichte es Rieder. „Das war alles von langer Hand geplant.“ Doras Faust landete krachend auf dem Tisch. „Nach 46 Jahren drehen sie mir den Hahn zu. Als Kinder haben Durk und Stein selbst dort unten gesessen und bei ‚Alfons Zitterbacke‘ gelacht. Durk war immer stolz, wenn er die Zahl der Kinobesucher in der Gemeindeversammlung präsentierte. Er hat sich meine Arbeit immer hübsch an die eigene Jacke geheftet. In den letzten zehn Jahren war er selbst nicht einmal hier. Wenn das mal reicht. Und nun servieren sie mich ab. Gut, die Gemeinde hat mich auch unterstützt und mir einen Zuschuss gezahlt von ein paar Tausend. Bis jetzt.“

„Gut, aber wenn Stein das Grundstück gehört, dann kann er doch ...?“

„Früher gehörte es ihm nicht. Erst seit kurzem. Ach ja, ich hatte vergessen, Sie sind noch nicht so lange auf der Insel. Das Kino steht auf Pachtland. Zu DDR-Zeiten alles kein Problem. Wir gehörten wie alle Kinos zu einem volkseigenen Betrieb, und der zahlte die Pacht. Nach der Wende habe ich den Laden übernommen, habe mich selbständig gemacht.“ Ihr Blick fiel auf den laufenden Projektor, und Dora Ekkehard wurde hektisch. „Oh, Moment ... Die neue Rolle.“ Sie holte die nächste Kinobüchse hervor, riss den Deckel auf, griff sich die Filmrolle, fädelte mit flinken Fingern den Film ein, drückte auf den Knopf. Gerade noch rechtzeitig. Keine zwei Sekunden später flutschte am anderen Projektor das Ende der Filmrolle heraus. „Das war knapp“, japste die Kinofrau. Sie drückte ihre Hand auf den Brustkorb. Rieder nahm einen Stuhl aus der Ecke und schob in ihr hin. Dora Ekkehard setzte sich mit einem dankbaren Blick. „Geht eben nicht, quatschen und arbeiten ... wo waren wir stehengeblieben?“

„Sie wollten mir gerade erzählen, was Stein mit der Schließung des Zeltkinos zu tun hat.“

„Genau.“ Sie stand noch einmal kurz auf, kontrollierte noch mal die Projektoren. „Nun ist es eh egal. Es ist die letzte Rolle.“ Sie nahm wieder Platz. „Also, ich habe das Zeltkino übernommen, und der alte Godglück, dem hier das Grundstück gehörte, hat die Pacht zwar erhöht, aber das konnte ich mir leisten. Das Kino spielte im Sommer genügend ein, und mit dem Zuschuss hatte ich genug, um die Pacht fürs ganze Jahr zu bezahlen und davon zu leben. Was brauche ich hier schon auf der Insel? Im Winter habe ich mich arbeitslos gemeldet. Etwas kommt noch über die Vermietung von zwei Zimmern in meinem Haus rein. Als der alte Godglück starb, erbte sein Sohn das Grundstück. Der hat die Pacht erhöht. Klar, der wollte natürlich auch Kohle machen. Seine Pension ‚Luv & Lee‘ lief schon damals nicht so gut.“

‚Das war doch das Objekt, das möglicherweise Charlotte übernehmen wollte‘, dachte sich Rieder. Das musste er etwas genauer wissen. „Ach, den Godglücks gehörte diese Pension am Seglerhafen?“

„Genau. Die Godglücks haben das ‚Luv & Lee‘ kurz nach der Wende aufgemacht, aber so richtig kam der Laden nicht in Gang. Trotz der Lage. Es war die Idee vom jungen Godglück. Der Alte war mal Fischer gewesen. Hier auf dem Grundstück hatte früher sein Fischerschuppen gestanden.“

„Aber wieso gehört nun das Grundstück Stein?“

„Als Godglücks kurz vor dem Konkurs standen, hat ihnen Stein wohl angeboten, das Grundstück hier zu kaufen und sie so wieder flüssig zu machen. Das reichte aber auch nur kurze Zeit. Das große Haus. Die langen Winter. Dann mal noch ein verregneter Sommer. Jedenfalls irgendwann waren die Godglücks wieder pleite. Wieder sprang Stein ein, kaufte ihnen alles ab und verpachtete es ihnen zugleich wieder.“

„Klingt doch irgendwie ganz freundlich?“, meinte Rieder.

„Möchten Sie in Ihrem Hotel, dass Sie sich aufgebaut haben, weiter arbeiten, wenn es einem anderen gehört? Außerdem drückten die Godglücks neben der Pacht noch die Schulden. Mit Steins Geld konnte sie nicht alle Schulden begleichen. So sehr Gutmensch war er dann doch nicht. Er hat natürlich Godglücks Notlage ausgenutzt und den Schuppen weit unter Preis gekauft. Irgendwann waren die Godglücks wieder mit ihren Zahlungen hinterher. Da hat ihnen Stein gekündigt, sie auf die Straße gesetzt und die Pension dicht gemacht.“

Ob es bei seinem Nachbarn Otto Bock genauso gewesen war, fragte sich Rieder. Er würde ihn auf alle Fälle deshalb befragen, um etwas mehr über die Geschäftspraktiken von Peter Stein zu erfahren.

„Was bedeutete der Eigentümerwechsel für Sie?“, fragte Rieder.

„Schon unter dem jungen Godglück wurde es knapper. Es ist ja nicht nur die Pacht. Da kommen auch noch die Gebühren für die Filme drauf plus laufende Kosten für den ganzen Schnickschnack Chips, Popcorn, Cola und Bier, Reinigung etc. Aber es ging. War schon mehr Spaß an der Freude. Als Stein dann das Kinowäldchen übernahm, also das ganze Gelände hier, teilte mir sein Anwalt mit, der Pachtvertrag laufe weiter. Damit ist alles klar, dachte ich, bis Stein vor ein paar Monaten damit rüberkam, nun fast zehntausend Euro pro Jahr Pacht nehmen zu wollen. Das war nicht das Doppelte, das war das Vierfache von dem, was ich bisher gezahlt habe.“

Der Film lief aus. „Ich muss mal Licht anmachen.“ Dora Ekkehard stand auf. Sie drückte mehrere Knöpfe an der Wand im Vorführraum. Im Zelt schwoll der Geräuschpegel an. Schuhsohlen schoben sich über die Pflastersteine und den Sand in Richtung Ausgang. Rieder lehnte am Umspultisch, klappte seinen Block auf und machte sich Notizen.

Dora Ekkehard ging raus. Viele Gäste schien sie persönlich gut zu kennen. Einigen nickte sie freundlich zu. Anderen reichte sie sogar zum Abschied die Hand. Danach kam sie wieder in den Vorführraum zurück. „Ich mach’s kurz, denn es ist ja gleich die nächste Vorstellung, und da sind schon die ersten Gäste. Ich muss die Kasse öffnen. Also: Ich habe Stein gebeten, weniger zu nehmen. Bis viertausend hätte ich vielleicht mitgehen können, wenn die Gemeinde weiter gezahlt hätte. Möglicherweise fünftausend. Da hätte eben eine Karte ein bis zwei Euro mehr gekostet. Die hierher kommen, können das alle bezahlen. Es muss nur immer billiger sein als im ‚Cinemaxx‘ oder ‚Multiplex‘, wie in Berlin. Aber Stein blieb hart. Wir haben uns gezofft, angeschrien. Nix. Der war kalt wie Hundeschnauze. Da bin ich zu Durk. Ich wusste ja, dass die beiden dicke Kumpel sind. Der hat nur die Hände gehoben. Privateigentum. So sei das nun mal in der Marktwirtschaft. Ich habe gefleht, das Zeltkino gehöre doch nun mal zu Hiddensee. Schulterzucken. Ich habe um eine Erhöhung des Zuschusses gebettelt. Abgelehnt. Ich hatte einen richtigen Hass auf die beiden. Durk hat dann wenigstens versprochen, noch mal mit Stein zu reden. Ich hab’ gewartet. Doch dann hat mir Stein den Pachtvertrag zum 31. Oktober gekündigt. Gleichzeitig hat Durk im Gemeinderat durchgesetzt, mir die finanzielle Unterstützung zu entziehen. Das war’s dann. Über vier Jahrzehnte habe ich hier in der Bude gestanden, in der Hitze, habe Filme eingelegt und dann ...“, Dora Ekkehard stockte, suchte nach Worten: „ ... mit einem Federstrich ... Ende!“ Sie holte ein besticktes Taschentuch aus ihrem blauen Kittel und putzte sich die Nase. „Nun ist nächste Woche Schluss. Endgültig. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht.“ Plötzlich veränderte sich der Gesichtsausdruck der Kinofrau. Ihre Augen blitzten. Sie ballte die Fäuste. Neue Hoffnung schien sie zu erfassen. „Wissen Sie, wer alles erbt?“, fragte Dora Ekkehard. Rieder verneinte.

„Vielleicht Ulrike“, meinte die Kinofrau mehr zu sich selbst. „Mit der kann man bestimmt reden.“

„Ich muss noch mal auf den gestrigen Abend zurückkommen“, hakte Rieder ein. „Da kam Stein hier vorbei?“

„Nein!“

„Was, nein?“, hakte Rieder nach. „Ich denke, Sie haben hier mit ihm gestritten. Wie gesagt, dafür haben wir Zeugen.“

„Nein. Er lief vorbei. Da bin ich hinterher. Ich habe ihn zur Schnecke gemacht und ... und ...“ Dora atmete tief durch. „Ich hab’ ihm gesagt, er würde das hier noch bereuen.“ Dabei deutete sie wütend auf den Aktenordner.

„Nur bereuen?“, fragte Rieder skeptisch.

Dora rang ihre Hände im Schoß. „Ich habe gesagt, ich könnte ihn umbringen. Ich wüsste alles von Durk und ihm, ihren Machenschaften und Plänen, mit denen sie die Insel verschachern würden.“

„Von welchen Plänen sprechen Sie?“, fragte Rieder verwirrt.

„Von ihrem Projekt ‚Norderende‘.“