Kaum war Damp verschwunden, klingelte das Telefon. Es war der Stralsunder Polizeidirektor Bökemüller.
„Keine schöne Angelegenheit, die Sache mit dem Stein“, meldete sich sein Vorgesetzter. „Ich kannte ihn aus dem Lions-Club. Er war ein echt feiner Kerl. Das ist ein wirklich schwerer Verlust.“
Rieder spürte, woher bei Bökemüller der Wind wehte, wollte aber nicht widersprechen. Dieses ‚Jeder-kennt-jeden‘ nervte ihn, den Hauptstädter, an der Provinz. So trug er ihm einfach die Fakten vor, die sie bisher in dem Fall ermittelt hatten.
„Schon etwas von Behm oder dem Pathologen?“, fragte Bökemüller nach.
„Noch nicht.“
„Ganz schön dünne Suppe bisher. Wie läuft’s mit Damp?“
„Geht so“, log Rieder.
„Dann machen Sie beide weiter und graben im Hiddenseer Sand nach Spuren des Mörders oder der Mörderin. Scheint ja auch möglich zu sein.“ Dann legte er auf.
„Danke fürs Gespräch“, sprach Rieder zu sich selbst. Er stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und starrte durch das Revierfenster. Draußen setzte langsam die Dämmerung ein. Ein paar Kinder spielten noch auf dem kleinen Sportplatz vor dem Rathaus Fußball.
Ihm ging der Streit mit Damp nach. Diese Konfrontation hätte er gern vermieden. Nun war es nicht mehr zu ändern. Er musste einfach lernen, mit ihm auszukommen und seinen Kollegen zu akzeptieren. So, wie er war.
Er schaltete seine Schreibtischlampe ein. Da fiel sein Blick auf den Laptop von Peter Stein. Rieder hatte nach den Ereignissen des Nachmittags gar nicht mehr daran gedacht, dass sie ihn mitgenommen hatten. Damp hatte ihn einfach ins Regal gelegt. Schon das regte Rieder wieder auf. Asservate mussten verschlossen werden. Allerdings gab es im engen Hiddenseer Revier dazu eigentlich keine Möglichkeit. Trotzdem.
Rieder klappte das Gerät auf und schaltete es ein. Der Bildschirm leuchtete auf. Als Hintergrundbild erschien der Hiddenseer Leuchtturm Dornbusch. Davor platzierten sich die üblichen Symbole der Programme. Rieder klickte auf die Kachel „Arbeitsplatz“ und surfte dann durch Dateien und Dokumente. Vor ihm erschienen Statistiken, Schreiben an Behörden und Geschäftspartner, technische Zeichnungen, wahrscheinlich Grundrisse von Häusern, die Steins Firma baute oder sanierte. Nichts Aufregendes. Rieder hatte auch keine rechte Lust, sich damit intensiver zu beschäftigen. Damit sollten sich mal Behm & Co. in Stralsund genauer befassen. Er ging wieder zurück auf die Startseite des Bildschirms. Da erregte eine der Kacheln seine Aufmerksamkeit. Darunter stand „Norderende“. Doppelklick mit der Maus. Der Bildschirm wurde kurz dunkel, dann erwuchs aus der Tiefe dreidimensional der Schriftzug „Ostseetherme Norderende“, untermalt von den Klängen einer Rockhymne und einer Tonspur mit Meeresrauschen und Möwengeschrei. Dann verschwand die Schrift. Vor Rieders Augen entstand nun eine Strandlandschaft. Sie schien echt zu sein. Erst bei näherem Hinsehen erkannte er, dass es sich nur um künstliche, digital erzeugte Bilder handelte. Dargestellt wurde die Hiddenseer Ostseeküste. Die imaginäre Kamera startete eine rasante Fahrt am Leuchtturm Dornbusch, flog dann an der Steilküste vorbei. Der Steindamm an der Hucke kam in Sicht und fuhr weiter rückwärts bis zum Strand von Vitte. Das Zoom wurde weiter geöffnet. Rechts lag das Naturparkhaus, dann flog das Restaurant „Buhne XI“ vorbei. Eigentlich musste jetzt das Kinowäldchen kommen und dann das Zeltkino. Die Kamera stoppte. Rieder zuckte etwas zurück. Dort wo eigentlich das Zeltkino stehen müsste, war nur eine grüne Fläche.
Aus dem Erdboden erwuchsen nun Säulen und Glasfronten. Daraus entstand ein Gebäude, auf das zuletzt von Geisterhand ein Dach in Wellenform aufgesetzt wurde. Dann fuhr die Kamera ins Innere. Es eröffnete sich eine virtuelle Welt mit einer großen Badelandschaft. Es gab Wasserrutschen und Fontänen. In einem Becken lag ein Segelschiff, dessen Kanonen immer wieder Wasser in die Gegend spritzten. Liegestühle, Palmen und Verkaufstresen standen auf einer künstlich angelegten Strandlandschaft. Dann flog das Kameraauge durch einen Tunnel und landete in einem Saal mit zahlreichen Sitzreihen. An der Frontseite gab es eine Bühne mit Theaterkulissen, die sich darauf in eine Kinoleinwand verwandelte. Dann bog das virtuelle Auge nach links ab und führte den Betrachter in ein Restaurant im Dachgeschoss des Gebäudes. Von einer Terrasse aus hatte man einen Blick auf die Ostsee. Danach ging die Fahrt der Kamera wieder nach unten. Ein Meeresschwimmbad war zu sehen. Um das Becken standen im Sand Strandkörbe. Der natürliche Übergang vom Strand in die Dünen schien erhalten zu bleiben. Von der Umgebung war das Bad durch Glaswände abgetrennt. Aus der Strandpromenade war an dieser Stelle eine gläserne Brücke geworden, unter der ein Wasserkanal verlief. Er verband den Außenbereich mit den Wasserlandschaften in der ‚Ostseetherme‘. Dann tauchte aus dem Nichts ein Glasdach auf, das sich über dem Schwimmbecken schloss. Aus dem Freibad wurde ein Hallenbad. Aus der Sommerstimmung eine Winterlandschaft. Offenbar sollte man auch im Winter unter Glas am Strand liegen können.
Dann wurde wieder alles grün. Noch einmal fuhr die Kamera um die ‚Ostseetherme‘ herum und blickte dann wieder in Richtung Kloster. Dort, wo jetzt noch freies Feld und Wiese war und Stein Grundstück für Grundstück gekauft hatte, gab es nun kleine weiße Häuschen mit roten Dächern. Wie aus einem Lego-Baukasten. Auf dem neuen Hubschrauberlandplatz landeten und starteten Hubschrauber. Dann tauchte wieder der dreidimensionale Schriftzug auf: „Ostseetherme Norderende – das neue Ferien- und Wellness-Erlebnis auf Hiddensee.“ Schriftwechsel. „Ein Erholungsparadies für die ganze Familie – 365 Tage im Jahr.“ Die Musik steigerte sich noch zu einem neuen Klanghöhepunkt und riss dann ab. Das Copyright erschien: „Inselbau Hiddensee. Peter Stein.“
Rieder stoppte die Vorführung mit einem Klick auf dem Computer. Er klappte Steins Laptop zu. Das waren also die Pläne von Stein und Durk für die Insel, von denen Dora Ekkehard gesprochen hatte. Aber passte diese ‚Ostseetherme‘ überhaupt zum Charakter der Insel? Auf alle Fälle waren dabei Dora Ekkehard und ihr Zeltkino im Weg.
Rieder wusste nach gut sechs Monaten auf der Insel, dass viele Urlauber auf der Insel etwas suchten, was für die Hiddenseer fast zum Fluch wurde. Eine Reise in die Vergangenheit. Eine Insel ohne Autos. Eine unberührte Natur. Dazu als Kulisse Reetdachhäuser, Pferdekutschen und Möwengeschrei. Allerdings scherten sich die meisten Touristen wenig darum, ob das auch den Hiddenseern gefiel. Ob sie nicht auch etwas mehr Zivilisation wollten und nicht nur Bewohner eines Ferienparks sein mochten, der Ostern öffnete und im Oktober seine Pforten schloss? Im Winter verirrten sich nur wenige auf das Eiland. Damit kam auch kein Geld in die Kasse. Steins Projekt versprach Hiddensee das ganze Jahr über zu einem Urlaubsziel zu machen. Rieder konnte sich vorstellen, dass es eine Menge Insulaner gab, die damit kein Problem hätten, wenn es sich für sie rentieren würde. Aber es gab auch Inselbewohner wie Dora Ekkehard, die glaubten, dass Steins Pläne Hiddensee die Seele rauben würden. Sie würden auch die Verlierer sein, weil ihr Geschäftsmodell auf dem nostalgischen Gefühl der Hiddensee-Urlauber aufbaute, die seit Jahrzehnten hierherkamen, aber nun auch langsam ausstarben. Die Frage war: Wie weit würde Dora Ekkehard gehen, um Steins Pläne zu verhindern und ihr Kino zu retten?
Rieder steckte den Laptop in seinen Rucksack. Er verließ das Büro. Sein Fahrrad stand in einem Ständer hinter dem Rathaus. Er stieg auf und rollte auf die Straße. Er blickte nach links. Dort befand sich die Baustelle für den neuen Hubschrauberlandeplatz. Angeblich hätte der alte nicht mehr ausgereicht für die Größe der neuen Rettungshubschrauber. Aber wahrscheinlich hatten Stein und Durk schon begonnen, ihre Pläne für die Zukunft der Insel in die Tat umzusetzen.
Er wendete sein Fahrrad nach rechts und fuhr an der alten Mühle vorbei zum Strand. Leichter Regen hatte eingesetzt. Der Strand war menschenleer. Er bog auf die Strandpromenade ein. Sein Ziel war das weiße Holzhäuschen der Rettungsschwimmer. Sie hatten ihren Dienst für dieses Jahr bereits eingestellt, aber in der letzten Zeit nutzten Jugendliche der Insel die Bude öfter für heimliche Rendezvous. Schon zweimal hatte Rieder dort Pärchen überrascht. Obwohl sie das Vorhängeschloss aufgebrochen und damit einen Einbruch begangen hatten, beließ es Rieder bei einer Ermahnung und verzichtete auf eine Anzeige. Damp wäre sicher nicht so gnädig gewesen. Selbst die Ersatzschlösser bezahlte Rieder aus eigener Tasche. Er musste immer fadenscheinigere Gründe erfinden, um den Schlüssel bei der Sekretärin des Bürgermeisters auszutauschen. Lotti Stoll hatte dabei immer nur gelächelt und nie was gesagt.
Heute war das Schloss unversehrt. Er schaute noch ein bisschen auf die Ostsee, bevor er vom Strand wieder in die Ortsmitte von Vitte radelte. Er wollte Richtung Neuendorf, zu Charlotte. Vielleicht konnte sie ihn verstehen.