XVII

Damp fuhr über den Deich direkt vor die Tür von Steins Haus. Schon von weitem hatten die beiden Polizisten den Lichtschein gesehen, auch wenn eine dichte Hecke das Grundstück umgab.

„Feiern die da eine Party?“, fragte Rieder ungläubig, als sie aus dem Wagen stiegen. Die Polizisten gingen näher an das Haus heran. Sie schauten durch ein Fenster im Erdgeschoss. Niemand war zu sehen. Dafür aber nun auch Musik zu hören.

„Klingt jedenfalls nicht nach einer Trauerfeier“, meinte Damp.

„Lassen Sie uns reingehen.“

Das Polizeisiegel war zerfetzt, die Haustür nur angelehnt. Rieder drückte sie nach innen. „Hallo“, rief er in den Flur. Niemand antwortete. Er ging ins Haus hinein. Ihm folgte Damp, der schon mal den Riemen an seiner Pistolentasche gelöst hatte. Rieder schaute in das Wohnzimmer. Auf dem Tisch standen mehrere Flaschen herum. Hier kam auch die Musik her. Die Türen von den Schränken waren geöffnet, der Inhalt auf dem Fußboden verteilt. Bilder, Bücher, Aktenordner. Auf dem Sofa lagen zerwühlte Kissen und eine benutzte Wolldecke herum.

„Schöne Bescherung“, sagte Damp, der noch im Flur stand. Rieder drehte sich zu seinem Kollegen um und wollte gerade etwas antworten, da sah er hinter Damp einen Schatten. Er brüllte: „Vorsicht, hinter Ihnen!“ Doch es war zu spät. Eine Flasche sauste auf Damps Schädel herab und zersplitterte. Damp schrie auf und sank auf die Knie. Rieder stürmte an ihm vorbei in den Flur. Er hörte noch Schritte auf der Treppe. Rieder eilte zu seinem stöhnenden Kollegen zurück. Blut lief ihm von der Stirn über das Gesicht.

„Geben Sie mir ihre Waffe und holen Sie Hilfe“, flüsterte Rieder.

„Wo soll die herkommen?“, stöhnte Damp.

„Wie wäre es erstmal mit Möselbeck und dem Krankenwagen für Sie und dann mit einem Notruf an die Zentrale in Bergen?“

Damp zog seine Pistole hervor und reichte sie Rieder. „Warum haben Sie eigentlich nie Ihre Dienstwaffe dabei?“

Rieder nahm die Waffe. Er war überrascht über ihr Gewicht. Seine Berliner Pistole, die allerdings in einer Schublade seines Häuschens lag, war deutlich leichter. Er entsicherte die Pistole, umfasste den Schaft mit beiden Händen und legte seinen Zeigefinger um den Abzug. Er horchte. Durch die Musik konnte er nicht hören, ob sich jemand im Obergeschoss bewegte. Damp flüsterte in sein Handy.

Rieder machte zwei schnelle Schritte zur Musikanlage und schaltete sie aus. Damp beendete das Telefonat. Rieder schaute zu ihm und legte einen Finger auf den Mund. Er schlich in den Flur. Kein Geräusch von oben. Er hörte nur sein eigenes heftiges Atmen. Rieder versuchte sich zu beruhigen.

Der Kokosbelag auf der Treppe dämpfte seine Schritte. An die Wand gedrückt, ging er Stufe für Stufe nach oben, die Waffe im Anschlag vor seinem Oberkörper.

„Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!“

Ein Knarren von links. Rieder riss die Waffe herum. Er glaubte den Lauf einer Waffe zu erkennen. Ohne dass er es wollte, drückte er ab. Der Schuss knallte. Glas zersplitterte. Der Rückstoß der Waffe ließ Rieder taumeln. Er konnte sich gerade noch am Geländer festhalten. Eine Flasche polterte die Treppe hinab und landete auf seinem Körper. Durch den stechenden Alkoholgeruch wurde ihm übel.

Aus dem Dunkel im Obergeschoss wankte ein Mann mit erhobenen Händen. „Was is’n hier los?“, lallte er. „Seid ihr bekloppt!“ Dann brach er zusammen und rutschte ein paar Stufen nach unten.

Brummen erfüllte die Luft. Der Lichtkegel des Stralsunder Polizeihubschraubers suchte die Wiesen vor dem Süddeich in Vitte nach einem geeigneten Landeplatz ab, bevor er aufsetzte. Kaum waren die Rotoren abgestellt, wurde die Tür aufgerissen, und zwei Beamte stürmten mit gezogenen Waffen über den Deich auf Steins Haus zu.

Rieder ging ihnen entgegen und stoppte sie: „Alles unter Kontrolle.“

Erst jetzt sah er, dass an Bord noch ein weiterer Passagier war. Polizeidirektor Bökemüller kam mit wehendem Mantel über die Wiese geschlendert. Mit Handschlag begrüßte er seinen Beamten.

„Wie geht’s Damp?“

„Der Inselarzt versorgt gerade seine Wunde im Krankenwagen.“

„Wer ist der Mann?“

„Steins Bruder. Jan Stein.“

„Verletzt?“

„Nur betrunken.“

„Bewaffnet?“

Rieder schüttelte den Kopf.

„Warum haben Sie dann geschossen?“

Rieder schilderte seinem Chef die Vorgänge im Haus. „Tut mir leid. Der Schuss hat sich irgendwie gelöst.“

„Irgendwie?“ Bökemüller wiegte den Kopf hin und her. „Bei einem Mann mit Ihrer Erfahrung löst sich ein Schuss irgendwie? Rieder, Sie wissen, warum Sie hier sind? Sie sollen den Leuten das Gefühl von Sicherheit vermitteln und nicht um sich schießen. Aber gut. Theoretisch müsste ich Sie jetzt von dem Fall abziehen, aber das geht natürlich nicht“, stellte Bökemüller fest. „Ich habe keine Leute und Damp keine Ahnung von kriminalistischer Arbeit.“ Rieder zeigte keine Regung. „Also fassen Sie den Bericht so ab, dass die Abteilung ‚Interne Ermittlung‘ keine Fragen stellt. Verstanden?“ Rieder nickte. „Ich erwarte Ihren Bericht morgen auf meinem Schreibtisch!“ Bökemüller ging mit Rieder zum Krankenwagen.

Damp saß mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Trage. Inselarzt Möselbeck klebte ihm gerade ein übergroßes Pflaster auf die Wunde auf der Stirn.

„Mensch, Damp!“, rief der Polizeidirektor und stieg in den Krankenwagen. Er schlug seinem Beamten auf die Schulter. Damp stöhnte auf. „Das ist gleich die Feuertaufe als frischgebackener Revierleiter. Sie wissen aber, bei der Personalsituation können wir uns keine Verluste leisten“, versuchte Bökemüller zu scherzen. Damp winkte ab: „Es geht schon wieder.“

Jan Stein lag auf dem Sofa im Wohnzimmer seines toten Bruders und schnarchte. Im Sessel gegenüber saß ein Sanitäter. Die beiden Beamten, die mit Bökemüller aus Stralsund gekommen waren, lehnten an der Tür. Bökemüller sah sich um. Er nickte mit dem Kopf zu dem Schlafenden.

„Steht er unter Verdacht, seinen Bruder getötet zu haben?“

„Dafür haben wir bisher keine Anhaltspunkte“, meinte Rieder. „Eigentlich sollte er in Bremen sein. Ich weiß nicht, wie er jetzt so schnell hierhergekommen ist. Möglicherweise hat ihn Steins Ex-Frau über den Tod seines Bruders informiert.“

„Hübsche Hütte“, staunte der Polizeidirektor, als sie in Steins Arbeitszimmer im Obergeschoss standen. „Der Schaden, den Sie angerichtet haben, hält sich in Grenzen.“ Rieder hatte einen Spiegel getroffen. Die Splitter lagen auf dem Boden verstreut. Der Rahmen hing noch schief an der Wand. Rieder war inzwischen klargeworden, dass er auf das Spiegelbild von Jan Stein geschossen hatte. Der hatte eine Flasche in der Hand gehabt, die Rieder im Dunkeln für den Lauf einer Waffe gehalten hatte. So erleichtert er war, dass er Jan Stein nicht getroffen hatte, so entsetzt war er darüber, wie ihm das hatte passieren können.

„Die Aussicht ist wirklich genial.“ Bökemüller hatte sich an Steins Schreibtisch gesetzt und schaute nun durch das große Panoramafenster auf die Ostsee, die im Mondlicht glänzte. Von unten waren plötzlich aufgeregte Stimmen zu hören. Die beiden Stralsunder Beamten stritten mit Charlotte. Ihre Stimme hatte Rieder erkannt. Rieder und Bökemüller liefen hinunter. „Bist du verletzt?“, schrie Charlotte hysterisch. Rieder schüttelte den Kopf. Er nahm sie in den Arm: „Nein, alles in Ordnung.“

„Wir konnten die Frau nicht aufhalten“, rechtfertigte sich einer der Beamten vor seinem Chef. „Sie war wie eine Furie.“

„Das ist schon okay“, meinte Bökemüller.

„Was ist denn passiert?“, fragte Charlotte völlig atemlos.

„Erzähle ich dir später“, antwortete Rieder. „Ich muss noch mit meinem Chef sprechen.“ Er deutete mit dem Kopf auf Bökemüller.

Doch der Polizeidirektor hob ablehnend die Hände. „Ich wollte mich sowieso verabschieden“, meinte der Polizeichef. „Wir bleiben in Kontakt, Rieder!“ Damit gab er seinen beiden Beamten ein Zeichen, und sie verschwanden gemeinsam in der Dunkelheit. Kaum waren sie durch die Tür, war draußen das Anlassen der Hubschrauber-Rotoren zu hören.

„Wie kommt ihr eigentlich hierher?“, fragte Rieder seine Freundin.

„Jemand kam ins Strandcafé und erzählte, dass am Strand von Vitte geschossen worden sei und dann ein Krankenwagen mit Blaulicht vorgefahren wäre. Da sind wir los. Ich hatte solche Angst.“ Charlotte war immer noch aufgeregt.

Jetzt erschien in der Tür auch Malte Fittkau. Er sorgte sich aber offenbar weniger um Rieder, sondern nutzte die Gelegenheit, einen Blick in Steins Haus zu werfen.

„Wer hat denn geschossen?“, fragte seine Freundin.

„Ich“, gab Rieder zu.

Charlotte erschrak. „Hast du jemanden verletzt? Hast du ...“, ihre Augen wurden noch größer, „jemanden getroffen?“

Sie schlug eine Hand vor den Mund. Rieder schüttelte den Kopf und nahm sie in den Arm. „Gott sei Dank nicht. Nur ein Spiegel ist zu Bruch gegangen. Trotzdem hätte mir das nicht passieren dürfen.“

Malte war inzwischen im Wohnzimmer angekommen. In diesem Moment wachte Jan Stein auf. Mit einem Ruck richtete er sich auf. „Wo ist meine Flasche?!“, brüllte er.

„Jan?“, fragte Malte.

Jan Stein beugte sich noch etwas vor, um den Mann vor sich besser zu sehen: „Malte?“