XIX

Malte Fittkau saß auf seiner Gartenbank vor seinem Haus, als Rieder und Damp auf seinen Hof kamen. Zwischen seinen Beinen klemmte ein großer Topf. Darauf hatte er eine „Flotte Lotte“ befestigt. Um ihn herum standen die Eimer mit den Sanddornbeeren, die Rieder und er vor zwei Tagen geerntet hatten. Heftig drehte er die Kubel des Küchengeräts, um die Früchte durch das Metallsieb zu pressen.

„Wo ist das Küchensieb geblieben?“, fragte Rieder.

Malte schaute grinsend auf. „Der technische Fortschritt lässt sich einfach nicht aufhalten.“ Dabei nahm er die „Flotte Lotte“ hoch. Dicker gelber Fruchtbrei tropfte aus den Löchern am Boden in den Topf.

„Wo ist Jan Stein?“

Rieders Nachbar deutete auf den Eingang seines Hauses. Die beiden Polizisten gingen hinein. Sie fanden Jan Stein im Wohnzimmer. Er lag auf Fittkaus Sofa und döste mit einer brennenden Zigarette im Mund vor sich hin. Der Aschenbecher stand auf seiner Brust.

„Sie schon wieder. Und gleich mit Verstärkung.“

„Das ist Ole Damp, der Hiddenseer Revierleiter“, stellte Rieder seinen Kollegen vor.

„Ich habe Sie gestern niedergeschlagen. Sorry. Wollte ich nicht.“ Seine Entschuldigung wirkte nicht sehr überzeugend, weil dabei ein Lächeln seine Mundwinkel umspielte.

„Haben Sie geklärt, wo Sie vorgestern Abend waren?“, fragte Rieder.

Stein drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Nicht wirklich.“

„Was heißt das?“

Der Mann setzte sich auf. „Also ich möchte niemanden kompromittieren, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Momentan kompromittieren Sie sich nur selbst“, entgegnete Rieder. „Sie sind am Montagabend auf der Insel gesehen worden.“

Offenbar um Zeit zu gewinnen, zog Stein die nächste Zigarette aus einer Packung, zündete sie sich aber noch nicht an. „Von wem?“, fragte er.

„Das tut nichts zur Sache“, entgegnete Rieder. „Also? Wo waren Sie Montagabend?“

Jan Stein stöhnte auf. „Okay. Ich war hier.“ Er zündete sich die Zigarette an. „Aber mit dem Peters Tod habe ich nichts zu tun.“

„Haben Sie ein Alibi? Gibt es jemanden, der bezeugen könnte, dass Sie nicht am Tatort waren?“

Stein rieb sich die Hände und starrte auf die Tischplatte. „Nein. Besser gesagt, ich weiß es nicht.“

Malte Fittkau hörte nicht mal auf, die Kurbel seiner „Flotten Lotte“ zu drehen, als Rieder und Damp mit Jan Stein aus dem Haus kamen. Er fragte nur: „Ist Jan verhaftet?“

„Mal sehen“, antwortete Rieder.

Sie fuhren zum Hafen. Damp bog in die Straße „Achtern Dieck“ ein, die hinter den Restaurants und Geschäften zum Gelände der Insellogistik führte. Er parkte hinter dem Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr.

Vorarbeiter Claasen, der am Schuppen der Inselbau gerade einen Transportwagen mit Baumaterial belud, klappte die Kinnlade nach unten, als Rieder mit Jan Stein aus dem Wagen stieg. Gemeinsam mit Damp gingen sie über die Straße und blieben vor einem alten Bungalow stehen.

„Hier ist es“, sagte Jan Stein. „Die Tür ist auf.“

Rieder waren die alten Baracken hinterm Hafen auch schon aufgefallen. Er hatte gedacht, es wären verlassene Ferienunterkünfte. Aber sie wurden offensichtlich noch genutzt. Er schob die Tür auf. Ein stockiger Geruch schlug ihm entgegen. Der Polizist ging hinein. Damp stupste Jan Stein an, Rieder zu folgen.

Drinnen gab es einen kleinen Flur, rechts und links je ein Zimmer, in der Mitte eine Küche und ein Bad. Die Wände waren aus Pappe, Müll lag herum. An der Decke, in den Ecken und über den Fußleisten, überall gab es dunkle Stockflecken. Rieder öffnete die Tür zum linken Zimmer. Dort standen Rollen mit Dachpappe und Büchsen mit Teer und Farbe. Er ging an Damp und Stein vorbei, die im Flur stehengeblieben waren, in das andere Zimmer. Da lagen auf dem Boden eine Reisetasche und ein Schlafsack. Auf einem Hocker standen ein paar leere Bierflaschen.

„Ich wusste nicht, wo ich hinsollte“, erklärte Jan Stein. „Die haben mich aus der Wohnung in Bremen geschmissen und mein ganzes Zeug gepfändet.“ Er zeigte auf die Tasche. „Das ist alles, was mir geblieben ist.“

„Ich dachte, Sie sind Architekt“, fragte Rieder. „Malte hat das erzählt.“

„Das habe ich studiert. Ich habe auch einen Abschluss. Aber ich habe nie als Architekt gearbeitet, sondern nur als Bauzeichner in einer kleinen Baubude in Bremen.“ Er stockte. Offenbar war es ihm peinlich, den beiden Polizisten von seiner privaten Misere zu erzählen. „Irgendwann habe ich dann mal hier und da eine Mauer zu kurz oder zu lang gezeichnet, ein Fenster vergessen und flog raus.“

„Gab es keinen anderen Job?“

„Null Chance. Es gab da noch ein anderes Problem.“ Stein machte eine Kippbewegung mit der rechten Hand. „Davon komme ich einfach nicht los.“

Rieder kannte genügend dieser Geschichten aus Berlin. Arbeitslosigkeit, Alkohol, Absturz. Irgendwann hatten Leute wie Stein einfach nicht mehr die Kraft, sich selbst zu helfen, auch nicht, sich helfen zu lassen. „Nun habe ich auch noch meine Wohnung verloren.“ Stein erzählte, dass er zwar einen Mietzuschuss vom Amt bekommen habe. Aber er hatte nicht die Kontoverbindung seines Vermieters, sondern eines Kumpels angegeben. Die beiden hatten sich das Geld geteilt und vertrunken. Es war eine Weile gut gegangen, doch dann war der Schwindel aufgeflogen. Als das Amt und der Vermieter nun ihr Geld zurückwollten, konnte Stein nicht zahlen. Was er noch hatte, wurde gepfändet und seine Wohnung in Bremen zwangsgeräumt. „Ich hab’ einfach nichts mehr.“

„Wusste Ihr Bruder von Ihren Schwierigkeiten?“

Stein schüttelte den Kopf. „Wir hatten keinen Kontakt. Er hat mich nicht mal angerufen, als meine Mutter gestorben ist. Wäre Ulrike nicht gewesen, hätte ich damals nicht mal den Termin für die Beerdigung erfahren.“

„Aber zu ihrer Beerdigung sind Sie dann trotzdem nicht gekommen.“

Stein sah Rieder erstaunt an: „Was Sie alles wissen.“

„Warum sind Sie nun auf die Insel gekommen?“

„Ich wollte mir einen Job suchen. Ich kenne hier immer noch ein paar Leute.“

„Jetzt einen Job auf Hiddensee?“, mischte sich Damp ein. „Die Saison ist zu Ende. Das wissen Sie doch ganz genau.“

Auch Rieder fand Steins Erklärung wenig überzeugend.

„Wie sind Sie eigentlich an dieses Quartier gekommen?“, fragte Rieder.

Jan Stein wand sich richtig, ehe er antwortete. „Hans Claasen.“

„Claasen? Der Vorarbeiter von Ihrem Bruder?“

„Er hat mir den Schlüssel gegeben.“

„Gehört ihm die Bude?“

„Nein. Sie gehört meinem Bruder. Er lagert hier Material und bringt, wie ich von Hans erfahren habe, auch immer mal Leute unter, die für ihn arbeiten, wenn er auf der Insel nicht genügend Arbeitskräfte findet.“

„In diesem Dreckloch?“ Rieder war sprachlos. „Wussten Sie das?“, wandte er sich an seinen Kollegen.

„Ehrlich gesagt, nicht.“

„Ihr Bruder scheint ein großer Wohltäter gewesen zu sein“, meinte Rieder ironisch. „Noch mal zu Ihnen. Seit wann sind Sie auf der Insel?“

Damp zog seinen Notizblock aus der Jackentasche und machte Notizen.

„Seit Montag.“

„Interessant. Und wann sind Sie hier angekommen? Lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“

„Montag früh. Einer der Fischer hat mich von Schaprode mit hergenommen, nachdem er dort seinen Fang abgeliefert hatte. Die Fähre konnte ich mir nicht leisten.“ „Den Namen?“, hakte Damp nach.

„Klönskamp mit seinem Kutter, der, Frieda II‘. Ich habe zwei Tage gebraucht, um bis Schaprode zu kommen. Freitag bin ich von Bremen weg, und erst lief es auch ganz gut per Anhalter. Es gibt immer Trucker, die ganz froh sind, wenn einer mit an Bord ist, mit dem sie ein bisschen quatschen können. Aber Sonntag ist Fahrverbot. Da bin ich auf einem Autobahnparkplatz hängengeblieben in der Nähe von Rostock, dann zu Fuß weiter und danach mit der Bahn bis Stralsund. Da haben sie mich hinterm Rügendamm in Altefähr erwischt und aus dem Zug gesetzt.“ Stein zog aus seiner Hosentasche einen zerknitterten Zettel und gab ihn Rieder. Es war eine Zahlungsaufforderung der Bahn. Der Datumsstempel schien Steins Angaben zu bestätigen. „Bis Schaprode bin ich dann wieder getrampt. Mit dem Brotwagen.“

„Sie wollten hierher, um Hilfe von Ihrem Bruder zu bekommen und nicht, um hier einen Job zu finden? Oder?“

Stein ließ sich auf seinen Schlafsack fallen. „Was sollte ich denn sonst tun? Ich hoffte, er würde mir helfen?“

„Haben Sie ihren Bruder getroffen?“, fragte nun Damp.

„Nein.“

„Nein?“, wunderte sich Rieder. „Warum nicht?“

„Er war nicht da.“

„Dann hätten Sie ihn anrufen können“, warf nun Damp ein. Rieder wechselte kurz einen Blick mit seinem Kollegen, um ihm zu zeigen, dass er es gut fand, wie sie sich jetzt die Bälle zuwarfen.

„Ich habe kein Telefon.“

„Aber als wir Sie gestern Abend im Haus ihres Bruder aufgesammelt haben, hatten Sie ein Telefon“, konterte nun wieder Rieder. „Es steckt in Ihrer rechten Hosentasche.“

„Damit kann ich nicht telefonieren, sondern nur angerufen werden, weil ich die Rechnung nicht bezahlt habe.“

„Wann haben Sie versucht, Ihren Bruder zu erreichen?“, änderte Damp das Thema. Stein blickte verwirrt von einem zum anderen Polizisten über ihm. „Montagvormittag“, antwortete er genervt. „Und da war er nicht da?“, kam es nun wieder von Rieder. Stein sprang auf und brüllte die Polizisten an: „Was soll das hier? Bullen-Ping-Pong? Ja, er war nicht da!“

Rieder und Damp blieben äußerlich völlig ruhig. Rieder setzte nach. „Wir wollen wissen, was Sie am Montag auf der Insel gemacht haben, nachdem Sie Ihren Bruder nicht angetroffen haben. Haben Sie es nochmal versucht?“

„Nein, verdammt nochmal.“

Nun war wieder Damp dran. „Was haben Sie dann den ganzen schönen Montag gemacht?“

Stein schien sich etwas beruhigt zu haben. „Ich bin zu Hans Claasen gegangen ...“

„Warum zu ihm?“, fragte Rieder nach.

„Weil ich ihn sehr gut kenne. Wir waren mal dicke Freunde. Und wir sind es auch immer noch. Er wusste auch, wie es mir ...“ Da versagte Stein die Sprache. Er senkte den Kopf und starrte auf den Boden. „Er hat mir den Schlüssel für die Bude hier gegeben und mir was zu essen und zu trinken besorgt. Zufrieden?“

Rieder zuckte mit den Schultern. „Wir werden das überprüfen. Was haben Sie am Abend gemacht?“

„Da war ich hier.“

„Das stimmt nicht“, widersprach Damp. „Sie sind gesehen worden.“

„Ein zweiter Versuch für die richtige Antwort?“, bot Rieder an.

„Ja, ich war nochmal beim Haus meines Bruders.“ Dann schwieg der Mann. Rieder hatte beobachtet, wie mit der Dauer des Verhörs die Hände Steins immer mehr angefangen hatten zu zittern. Wahrscheinlich brauchte er dringend Alkohol, um sich zu beruhigen. Irgendwann würde er darum bitten, wenn nicht sogar betteln, einen Schluck zu trinken zu bekommen. Das war aber auch die Chance, Stein weiter in die Enge zu treiben und aus ihm alles rauszuholen. Rieder hasste sich zwar für diese Methoden, aber bei Mord ging es nicht um Fairplay. „Und? War Ihr Bruder da?“

Stein gab keine Antwort.

„Soll ich Ihnen erzählen, was passiert ist? Sie haben Ihren Bruder getroffen, aber er war nicht bereit, Ihnen zu helfen. Das hat Sie wütend gemacht. Sie haben ihn zum Zeltkino verfolgt.“ Rieder ließ seine Stimme anschwellen und rückte an Stein näher heran. „Dort haben Sie den Streit zwischen der Kinofrau und Ihrem Bruder verfolgt und sich gedacht: ‚Das passt mir gut ins Konzept.‘ Sie sind auf Ihren Bruder losgegangen, haben ihn in das Gebüsch gedrängt. Irgendwie bekamen Sie eines der Paddel oder einen Knüppel zu fassen und haben zugeschlagen. Aus Wut! Im Affekt!“ Soviel wollte Rieder Jan Stein zugestehen, der ihn jetzt mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Auch Damp hatte aufgehört zu schreiben und stand wie eine Salzsäule da.

„Nein, so war es nicht?“, jammerte Stein.

„Wie war es dann? Herr Stein?“, forderte Rieder.

„Ja, wir haben uns gestritten. Peter hat gesagt, ich soll mich zum Teufel scheren. Er hat mich einfach stehengelassen und ist weggegangen. Ich bin dann wieder hierher und habe“, Stein zeigte auf die Flaschen auf dem Hocker, „hier weiter getrunken.“ Stein brach zusammen. Er schlug sich die Hände vor das Gesicht.

Plötzlich klingelte ein Telefon. Der Klingelton war eine bekannte Melodie. Mozarts ‚Kleine Nachtmusik‘. Aber es war weder Rieders noch Damps Mobiltelefon. Beide schauten auf Stein. „Ihr Telefon. Wollten Sie nicht rangehen?“ Stein schüttelte den Kopf. „Das ist nicht mein Telefon.“

Rieder beugte sich herunter und versuchte zu ergründen, woher die Musik kam. Die Melodie kam aus der Reisetasche. Er wühlte in der Tasche, bis er das leuchtende Display sah. Er griff nach dem Gerät, drückte die Taste mit dem Hörersymbol, aber das Gespräch war schon weg. Der kleine Bildschirm zeigte 24 unbeantwortete Anrufe. Rieder drückte auf „Verpasste Anrufe“. Zwanzig Anrufe kamen von einer Mobilnummer, die ihm gut bekannt war. Er rief zurück.