XX

Mensch, Rieder, in so einem Loch kann doch keiner hausen!“ Kopfschüttelnd kam Holm Behm aus dem baufälligen Bungalow. Sein weißer Overall war übersät mit Schmutzflecken. „Da haben die Bauarbeiter untergebracht?“ Der Spurensicherer konnte es nicht fassen, was ihm Rieder erzählt hatte. In der Hand hielt er eine durchsichtige Plastiktüte. Darin das Mobiltelefon von Peter Stein.

Jan Stein hatte beteuert, nicht zu wissen, wie das Telefon seines toten Bruders in seine Tasche gekommen wäre. Doch Damp und Rieder glaubten ihm nicht. Sie hatten Jan Stein vorläufig festgenommen.

Behm hielt die Tüte mit dem Telefon hoch und drehte sie hin und her. „Ich hatte schon gedacht, ein Toter ruft mich an.“ Er packte das Telefon in seinen Instrumentenkoffer. „Bist du dir denn sicher, dass er seinen Bruder getötet hat? Wenn ich mir das Häufchen Elend so ansehe ...“ Dabei deutete er mit dem Kopf auf Jan Stein, der jetzt auf der Rückbank des Hiddenseer Streifenwagens saß. Rieder drehte sich zu ihm um, bevor er antwortete. „Sicher bin ich mir nicht. Aber die Wut auf den Bruder und der Alkohol. Das ist eine gefährliche Mischung.“

Jan Stein wirkte völlig apathisch. Damp hatte ihm sogar noch die Hände auf dem Rücken mit einem Kabelbinder gefesselt. Das hatte Rieder zwar für überflüssig gehalten, aber er war auch nicht eingeschritten. Stein hatte seinen Kopf an die Scheibe des Autos gelehnt. Seine Augen starrten mit leerem Blick auf die Menschen, die sich mittlerweile rund um den alten Bungalow versammelt hatten.

Durch die Menge drängelte sich Ulrike Stein: „Lassen Sie mich mal durch!“ Sie stürzte auf den Polizeiwagen zu und schlug an die Scheibe, hinter der ihr Schwager saß. „Sag, dass das nicht wahr ist, Jan!“ Rieder lief um das Auto und versuchte, die Frau wegzuziehen. Sie schüttelte den Polizisten ab und rannte wieder zurück zu dem Auto. „Warum? Sag mir, warum?“ Jan Stein war hinter dem geschlossenen Fenster zurückgewichen und hatte sich längs auf die Rückbank gelegt.

„Frau Stein, beruhigen Sie sich“, redete Rieder auf Ulrike Stein ein und bemühte sich weiter, sie vom Wagen wegzuziehen. Schließlich gab die Frau nach und ließ sich von Rieder ein Stück zur Seite führen.

„Ich habe es gerade erst erfahren. Ich war eben dabei, meine Praxis aufzuschließen, als die Frau vom Laden nebenan angerannt kam. Ich kann es nicht fassen.“

„Wussten Sie, dass Jan Stein seit Montag auf der Insel war?“

„Nein. Er hat davon auch nichts gesagt, als ich ihn gestern angerufen habe, um ihm zu sagen, dass Peter tot ist. Ich dachte, er wäre in Bremen.“

„Wie hat er auf die Nachricht vom Tod seines Bruders reagiert?“

„Ich weiß nicht. Ich hatte den Eindruck, er war mal wieder nicht richtig da. Er ist ein ziemlicher Spritti.“

„Das haben wir auch schon gemerkt“, meinte Rieder. „War er erschrocken, entsetzt, oder wirkte er eher gefasst?“

Ulrike Stein überlegte kurz. „Das kann ich nicht genau sagen. Ich hatte genug mit mir zu tun. Ich habe ihm nur gesagt, dass Peter tot ist. Ich weiß nicht einmal, ob ich Jan gesagt habe, dass er umgebracht wurde.“

„Wussten Sie von seinen privaten Schwierigkeiten? Er ist praktisch obdachlos.“ Rieder berichtete ihr, was Jan Stein erzählt hatte.

Sie war erstaunt. „Nein! Woher auch? Der Kontakt war schon lange abgerissen, und seitdem Peter und ich uns getrennt haben, habe ich mir auch keine Gedanken mehr um Jan gemacht.“

„Früher schon?“, hakte Rieder nach.

Sie lächelte ein bisschen in sich hinein, bevor sie antwortete: „Ich schätze, der Inselfunk wird Ihnen schon hinterbracht haben, dass Peter und Jan kein gutes Verhältnis hatten.“ „Der Streit um die Firma, das Erbe ihrer Eltern.“ „Ganz recht. Aber das sind olle Kamellen. Es stimmt schon, Peter und sein Vater haben Jan nicht ganz fair behandelt“, räumte Ulrike Stein ein. „Ich habe trotzdem versucht, immer mit Jan in Kontakt zu bleiben. Andererseits konnte ich auch Peter und seinen Vater verstehen. Es ging ihnen immer um das Wohl der Firma. Wie mir jetzt übrigens auch.“

„Das heißt?“

„Ich hoffe zwar immer noch, dass Sie sich täuschen und Jan nichts mit dem Tod von Peter zu tun hat; trotzdem wäre es von ihm keine gute Idee, die Firma zu übernehmen. Das wäre ihr Untergang.“

„Deshalb wäre es interessant, zu wissen, ob Ihr Mann ein Testament gemacht hat“, fragte Rieder.

„Ich denke schon.“

„Aber wo es liegt, wissen Sie nicht?“

Ulrike Stein schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. In seinem Haus. Beim Anwalt. Was weiß ich.“

„Was mich wundert“, bemerkte Rieder, „Sie bezeichnen Peter Stein immer noch als Ihren Mann. War er nun eigentlich noch ihr Ehemann oder bereits Ihr Ex-Mann? Nur mal so für den Sprachgebrauch zwischen uns. Dann muss ich mir keinen abbrechen.“

Sie legte den Kopf etwas schief, als wollte sie durchschauen, was Rieder mit dieser Frage bezweckte. „Wir waren noch nicht geschieden, lebten einfach nur getrennt ...“ Ulrike Stein warf ihren Kopf zurück. „Er war also noch mein Mann. Oder?“

Rieder stimmte ihr zu. Wenn es kein Testament gibt, würde allein Ulrike Stein vom Tod ihres Ehemannes profitieren und Jan Stein leer ausgehen.

„Ich muss dann auch wieder.“ Sie ging ein paar Schritte in Richtung Hafen und drehte sich noch einmal um. „Sie wissen, wo Sie mich finden können.“ Dann verschwand sie zwischen den Schaulustigen.

Rieder kehrte wieder zum Eingang des Bungalows zurück. Behm und seine Leute waren drinnen immer noch beim Spurensuchen, Gebauer und seine beiden Beamten draußen. Rieder hatte den Schiffsführer des Polizeibootes gebeten, bei der Durchsuchung des Geländes um den Bungalow zu helfen. Gebauer war froh über die Abwechslung. Behm hatte allerdings gelästert. „Ich hoffe, du kannst so lange an Land überhaupt atmen, denn eigentlich hast du doch schon durch das viele Wasser um dich herum Kiemen bekommen.“

Mehr als ein „Haha!“ hatte aber der Wasserschutzpolizist nicht für den Humor seines Kollegen übriggehabt. Jetzt suchten Gebauer und seine Leute die Wiese und das kleine Wäldchen hinter dem Bungalow ab.

Damp plauderte mit dem Bürgermeister. Sie verabschiedeten sich, als Rieder zu den beiden trat. Durk verschwand ohne ein Wort.

„Und? Haben Sie wieder alles gleich gemeldet? Ich denke, der Bürgermeister ist nicht unser Vorgesetzter? Ihre Worte.“ Rieder konnte eine gewisse Häme nicht unterdrücken.

„Ich tue nur meine Pflicht“, antwortete Damp trotzig.

„Die wäre? Dem Bürgermeister Dienstgeheimnisse auf die Nase binden?“

„Ich bitte Sie! Dass wir Jan Stein verhaftet haben, ist wohl kein Dienstgeheimnis.“

„Na, ist mir auch egal.“

„Aber wenn es Sie interessiert: Ich habe Durk gefragt, wann und wo er Jan Stein in Vitte gesehen hat.“

„Und? Wann hat er ihn getroffen?“

„Er hat ihn am späten Montagnachmittag in Süderende gesehen. Wahrscheinlich war er auf dem Weg zu seinem Bruder.“

„Das könnte mit Steins Aussage übereinstimmen. Damit hat er trotzdem kein Alibi für die Tatzeit. Wir behalten ihn in Gewahrsam. Gebauer kann Jan Stein mitnehmen und in Schaprode den Kollegen aus Bergen übergeben, wenn er mit Behm wieder nach Stralsund fährt.“

Das kleine Revier auf Hiddensee verfügte über keine Zellen. Verhaftete mussten immer erst zur Polizeistation nach Bergen auf der Nachbarinsel Rügen überstellt werden.

„Meinen Sie, der Fall ist damit gelöst?“, fragte Damp hoffnungsvoll.

„Vielleicht.“

Behm versuchte, mit der Klinge eines Taschenmessers das Projektil von Rieders Fehlschuss aus der Wand zu pulen. Rieder saß im Schreibtischstuhl von Peter Stein und beobachtete Behm bei der Arbeit. Die beiden waren allein zu Steins Haus gefahren. Gebauer wollte nicht so lange warten, bis Behm mit seiner Arbeit fertig war. Er würde ihn während seiner Nachmittagspatrouille auf dem Bodden wieder abholen. Behms Kollegen hatte er schon mitgenommen.

„Die Kugel steckt verdammt tief und fest im Mauerwerk“, klagte der Kriminaltechniker. „Ich dachte, die bauen hier nur mit Lehm, aber das ist eine ganz solide Steinmauer. Ein bisschen dick für eine Innenwand. Ziemlich unüblich für ein Sommerhaus, aber auch für ein normales Haus. Da wäre eigentlich eine 26er das höchste der Gefühle für eine Innenwand.“

„Das Haus muss nun mal Wind und Sturm trotzen.“

Wütend warf Behm das Taschenmesser in seinen Spurensicherungskoffer und suchte nach einem besseren Werkzeug. „Völlig aussichtslos. Dann geht der Schusskanal auch noch schräg nach oben. Ich habe keinen Bock, wegen der Scheißkugel die Wand aufzustemmen.“ Nun versuchte er, mit einer dünnen Pinzette an das Projektil heranzukommen. „Um nochmal auf meine Frage von vorhin zurückzukommen, du bist dir sicher, dass der Bruder dein Mann ist?“

Rieder zuckte mit den Schultern: „Kann sein, kann auch nicht sein.“

„Dafür wart ihr aber flott mit der Festnahme bei der Sache. Damp denkt auch, damit ist die Sache gelaufen. Wenn ich es mal mit den Augen des Staatsanwalts sehen würde ... na, ich weiß nicht. Zeugen: null. Spuren: null, denn wir haben auf dem Trampelpfad im Strandwäldchen und an dem Boot nichts Verwertbares gefunden. Das einzige Indiz – das Telefon seines Bruders. Darauf null Fingerabdrücke. Jede Wette. Der ist heute Abend oder spätestens morgen früh wieder frei. Der Staatsanwalt wird ihn freilassen und den Ball wieder an euch zurückspielen ... Jetzt hab’ ich sie.“ Behm zog mit der Pinzette das zerbeulte Projektil aus der Wand und drehte sich dann vor seinen Augen hin und her. „Mein Gott, was für ein Aufwand für so ein kleines Ding. Bökemüller wird auch immer pedantischer.“

„Bei der Wette halte ich nicht dagegen“, meinte sich Rieder nachdenklich.

„Was? Ach so. Warum dann der ganze Aufwand mit der Verhaftung?“

„Ich brauche Zeit.“ Rieder drehte sich auf dem Schreibtischstuhl herum. „Diese Pläne für die ‚Ostseetherme Norderende‘ hier in Vitte sind mir verdächtig. Stein hätte und hat sich vielleicht damit eine Menge Feinde gemacht, auch wenn er mit Durk versucht hat, die Pläne geheimzuhalten. Sie ahnten, dass die Hiddenseer vielleicht auf die Barrikade gehen würden ...“

„Die Hiddenseer?“, zweifelte Behm Rieders These an. „Ich kenne mich zwar nicht so gut auf der Insel aus, aber den meisten ist es doch egal, ob die Wiese und das Strandwäldchen in Norderende verschwinden und dann dieser Tempel dort steht“, er deutete auf die Hefter, „oder ob alles so bleibt wie es ist. Hauptsache, die Kasse stimmt.“

‚Da könnte Rieder Recht haben‘, dachte sich Rieder und erinnerte sich an das Gespräch mit Malte und Charlotte gestern Abend. „Aber es gibt schon ein paar Leute hier auf der Insel, die sich wehren. Steins Geschäftsmethoden waren nicht ohne. Einige von der Insel hat er über den Tisch gezogen ...“

 ... zum Beispiel die Kinofrau“, ergänzte Behm.

‚Stimmt, auch Dora Ekkehard‘, sagte sich Rieder, obwohl es ihm schwerfiel, sich das einzugestehen. Ihm blieb auch eine Antwort erspart, denn sein Telefon klingelte.

„Hier Krüger, der Pathologe aus Greifswald. Ich dachte eigentlich, Sie rufen mich zurück. Hat Ihnen Ihr Kollege das nicht ausgerichtet?“

„Damp? Nö“, antwortete Rieder. „Aber er ist jetzt auch der Dienststellenleiter hier auf Hiddensee ...“

„Klingt ein bisschen nach der Geschichte vom Bock und dem Gärtner“, meinte der Rechtsmediziner. „Als ich Herrn Damp im Sommer kennenlernen durfte, erschien er mir nicht als Musterexemplar eines Polizisten. Egal. Die Regeln für den Aufstieg auf der Beamtenkarriereleiter werden mir wohl auf ewig verschlossen bleiben.“

„Er ist schon kein schlechter Kerl. Das hat schon seine Richtigkeit“, widersprach Rieder, wenn auch nicht ganz überzeugend.

„Aber leider scheint er nicht besonders helle zu sein. Er scheint nichts von dem verstanden zu haben, was ich ihm gerade erzählt habe. Ich schätze, bei Ihnen habe ich mehr Glück.“

„Haben Sie schon ein Obduktionsergebnis?“

„Den Bericht habe ich schon gemailt. Tut mir auch leid, dass es etwas länger gedauert hat. Aber wir stellen hier gerade um auf Virtopsie.“

„Auf was?“

„Virtopsie.“

„Ah ja“, wunderte sich Rieder.

„Noch nie was davon gehört? Sie Ignorant“, witzelte Krüger. „Also in Kurzform: Wir schneiden die Leichen nicht mehr auf. Wir schieben sie jetzt in die Röhre. Unsere Bildungsministerin hat mir 250.000 Euro spendiert und dieses neue Gerät plus Assistentin hierhergestellt. Ihr Toter hat das gute Stück eingeweiht. Aber da ich neuer Technik nicht blind vertraue, habe ich dann zur Kontrolle noch eine ganz normale Autopsie vorgenommen. Deshalb hat es auch etwas länger gedauert. Ich muss sagen, das Ergebnis überzeugt mich total. Virtopsie und Autopsie kommen zum gleichen Schluss: Herr Stein ist keines natürlichen Todes gestorben, allerdings würde ich als Gutachter vor Gericht auch nicht auf Mord, sondern auf Totschlag plädieren.“

„Moment, Moment“, unterbrach Rieder Krügers Redefluss. „Mal eins nach dem anderen. Egal jetzt mal, ob Sie nun eine Virtopsie oder Autopsie vorgenommen haben, woran ist Stein gestorben?“

„Eigentlich ist er erstickt.“

„Erstickt? Aber er hatte doch diese Wunde am Kopf ...“

„Genau. Unseren Toten traf ein Schlag an den Kopf. Dabei wurde eine Arterie auf der Hirnoberfläche zerrissen. Es entstand ein Hämatom, und da immer mehr Blut zwischen Gehirn und Schädeldach sickerte, wurde zunehmend das Gehirn verdrängt. Bis dahin könnte unser Mann noch gerettet werden, wenn jemand vorbeikäme, die richtige Diagnose gleich bei der Hand hat und ihm das Schädeldach aufbohren würde, um die Blutung zu stoppen. Damit war auf Ihrer schönen Insel nicht zu rechnen. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Das passiert auch anderswo.“ Krüger lachte ins Telefon. „Also, wie gesagt, da die Blutung nicht gestoppt wurde, breitete sich das Gehirn weiter aus und wurde durch das sogenannte große Loch, das Rückenmark und Gehirn verbindet, gedrückt und dadurch das Atemzentrum gelähmt. Exitus.“

„Also war er nicht sofort tot?“

„Nein, das hat eine Weile gedauert. Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Sie möchten wissen, wann der Schlag erfolgt ist. Also der Todeszeitpunkt ist circa 22 Uhr. Wenn ich mir die Verletzung so anschaue, denke ich, anderthalb Stunden vorher ist Stein niedergeschlagen worden. Also 20.30 Uhr plus minus eine Viertelstunde. Mehr aber auch nicht.“

„Das wäre dann 20.15 bis 20.45 Uhr. Da lief die Vorstellung im Zeltkino schon“, meinte Rieder mehr zu sich selbst.

„Was meinen Sie?“

„Er muss während der Vorstellung im Zeltkino erschlagen worden sein ...“

„Wie auch immer. Es gibt dann noch zwei weitere Dinge, die Sie wissen sollten. Erstens habe ich an der Wunde eine Substanz sichergestellt. Sie könnte vom Tatwerkzeug stammen. Dabei muss es sich übrigens um einen kantigen, recht schmalen Gegenstand gehandelt haben. Behm erzählte mir was von fehlenden Paddeln oder Rudern. So etwas könnte passen.“

„Ein Paddel?“

„Ja, genau. Mit der schmalen Seite eines Paddels könnte der Schlag ausgeführt worden sein. Jedenfalls können wir einen Knüppel oder Ast ausschließen, denn bei der Substanz handelt es sich um eine Art Lack. Ich gehe dem weiter nach. Bringen Sie mir ein Paddel, und ich kann Ihnen mit der modernen Technik nachweisen, ob es die Tatwaffe ist.“

„Und zweitens?“

„Ach ja. Unsere neue Höllenmaschine hat doch ihre Grenzen. Aber dafür gibt es eben Krüger. Unter den Fingern des Toten fanden sich Hautpartikel. Weibliche DNA.“

Damp eilte aus dem Revier. In der Hand hatte er einen braunen Briefumschlag. Auf dem Flur stieß er fast mit dem Bürgermeister zusammen.

„Gratulation übrigens auch von Bökemüller zu dem schnellen Erfolg.“ Durk schlug ihm die Hand auf die Schulter. „Ich habe schon mit ihrem Chef telefoniert und ihm versichert, dass Sie der richtige Mann auf dem Posten sind.“

„Was haben Sie?“ Damp wirkte verwirrt.

„Ich habe Bökemüller angerufen und ihm mitgeteilt, was Sie hier in dem Fall Stein für gute Arbeit geleistet haben. Vielleicht springt zu der Beförderung doch noch ein bisschen mehr Geld raus. Wäre doch nicht schlecht, oder?“

Damp musste das alles erstmal verarbeiten. Da war der Anruf von dem verrückten Pathologen aus Greifswald. Der hatte irgendeine neue Methode, um die Leichen zu untersuchen. Damp hatte das alles nicht verstanden, nur die letzte Information und auch erst glauben wollen, als das Faxgerät Krügers Bericht Seite für Seite ausgespuckt und er ihn durchgelesen hatte. Nun kam ihm noch der überschwängliche Bürgermeister in die Quere, der ihm in seiner Leutseligkeit lästig wurde.

„Damp? Alles in Ordnung?“ Der Bürgermeister zupfte ihn am Arm. Der Polizist war in eine Art Schockstarre verfallen war, aus der er sich langsam löste.

„Nein, ist es nicht! Wir haben wahrscheinlich den Falschen.“

Durk sah sich im Flur ängstlich um, ob jemand Damp gehört haben könnte. Dann schob er den Polizisten zurück in das Revierzimmer.

„Was soll das heißen: ‚Wir haben den Falschen‘?“, zischte er Damp an.

Der hielt den Umschlag hoch. „Das ist hier der Bericht des Pathologen. Und der schreibt, dass er weibliche DNA unter den Fingernägeln von Stein gefunden hat. Der Mörder könnte also auch eine Frau sein.“

Durk umriss schnell die Situtation. „Könnte, Damp, könnte! Muss aber nicht. Oder steht da noch mehr?“

„Dass er glaubt, die DNA könnte bei einer Auseinandersetzung zwischen Stein und einer Frau ... sagen wir mal, unter Steins Fingernägeln hängengeblieben sein. Dann ist da noch die Geschichte mit den Lacksplittern. An der Schläfe hat der Pathologe Lacksplitter sichergestellt, und die Wunde könnte von einem Paddel stammen ... Ich muss los und Rieder Bescheid sagen.“

Damp wollte loslaufen, doch Durk hielt ihn weiter zurück. „Moment, Moment, warten Sie doch mal! Wenn ich Sie recht verstehe, könnte es also doch Dora Ekkehard gewesen sein. Die ist doch eine Frau. Auch wenn es manchmal nicht so aussieht.“ Der Bürgermeiste lachte kurz auf über seinen Witz.

„Ja, klar. Das kann sein“, meinte Damp unsicher. Er fürchtete, Durk zu viel verraten zu haben.

„Interessant, Damp, wirklich interessant.“

Damp fuhr die Dorfstraße hinunter nach Süderende. Er bog nach rechts auf den Deich ein und raste weiter in Richtung Strand. Ihm war es egal, dass es verboten war, mit Autos den Süddeich von Vitte zu befahren. Rieder stand vor Steins Haus und beobachtete, wie sich Behm mit dem Türschloss beschäftigte. Damp sprang aus dem Auto. Er rannte auf die beiden Kollegen zu und wedelte dabei mit dem braunen Umschlag.

„Der Bericht des Rechtsmediziners“, rief er.

„Krüger hat mich schon angerufen“, bremste Rieder den Elan Damps.

„Ach ... und was jetzt?“

„Wir müssen noch mal mit Birte Seige und Dora Ekkehard reden“, verkündete Rieder. „Holm kann mitkommen und DNA-Proben der beiden Frauen nehmen.“

„Jetzt kümmere ich mich erstmal um das Schloss“, murrte Behm, „und wenn ihr beiden nicht im Licht stehen würdet, käme ich auch voran.“

Rieder und Damp traten zur Seite. Behm bewegte immer wieder die Klinke, schloss und öffnete die Tür, maß den Abstand zwischen Türblatt und Rahmen. „Ihr wisst sicher nicht, ob der Riegel des Schlosses draußen war, als ihr hier angekommen seid?“

Die beiden Polizisten schüttelten den Kopf.

„Habe ich mir gedacht. Ihr macht es mir wirklich schwer. Erst zertrampelt ihr den Tatort, und dann könnt ihr euch an nichts erinnern.“

Behm richtete sich auf. „Ein Wunder, dass ich trotzdem was finde“, lobte er sich. Der Kriminaltechniker zeigte auf das Schloss. „Kein gewaltsames Eindringen. Die Tür wurde nicht aufgebrochen, sondern mit einem Schlüssel geöffnet.“

„Kein Einbruch“, fragte Damp verwundert. „Aber ich denke, Jan Stein hatte keinen Schlüssel.“

„Einbruch ist ein Tatbestand, lieber Damp“, erklärte Behm. „Ob der vorliegt, müsst ihr rausbekommen, nicht ich. Entweder hatte Jan Stein einen Schlüssel oder jemand anders.“

Er winkte Rieder und Damp näher heran. „Bei solch alten Schlössern kann es schon möglich sein, nur etwas Druck aufwenden zu müssen, um die geschlossene Tür zu öffnen. Ohne Schlüssel. Verwitterung, die hohe Feuchtigkeit über Jahre führen dazu, dass sich der Türrahmen verzieht und so der Riegel sich nicht mehr tief genug in die Öffnung des Gegenstücks schiebt. Dann wären aber hier“, Behm zeigte auf den Türrahmen, „Schleifspuren vom Riegel zu sehen. Sind aber nicht.“

Rieder und Damp nickten. „Fazit:“, fasste Behm seine Erkenntnisse zusammen, „Die Tür wurde mit einem Schlüssel geöffnet, doch nun wird es interessant.“ Er zog das Schloss heraus, steckte den Hausschlüssel von Peter Stein ins Schlüsselloch und reichte Rieder eine Lupe.

„Siehst du hier die Kratzer?“ Rieder sah genauer hin, reichte dann die Lupe an Damp weiter. „Wahrscheinlich wurde ein Nachschlüssel benutzt, der nicht ganz genau passte. Bei Steins Hausschlüssel handelt es sich um ein ziemlich altes Modell, dass es so heute nicht mehr gibt. Also muss man ziemlich viel schleifen und feilen beim Nachschlüssel und erreicht trotzdem nicht genau die Passform des Originals. Daher die Kratzer. Da es keine Spuren von Schmutz oder Rost gibt, trotz der Feuchtigkeit, muss er erst kürzlich benutzt worden sein. Mit hoher Sicherheit gestern.“

„Ulrike Stein hat noch einen Schlüssel“, bemerkte Rieder. „Eigentlich hatte sie mir versprochen, das Haus nicht zu betreten, bis wir es freigegeben haben. Da müsstest du eigentlich noch mal ran und nach Fingerabdrücken oder anderen Spuren suchen.“

Behm winkte ab: „Aber nicht mehr heute.“ Er baute das Schloss wieder ein. „Ihr versiegelt das Haus wieder, und wenn es wirklich noch relevant werden würde, wer in das Haus eingedrungen oder eingebrochen ist, komme ich wieder. Jetzt scheinen mir die DNA-Proben der Frauen wichtiger.“

„Genau“, stimmte ihm Damp zu.

„Dann versiegeln wir mal wieder den Schuppen.“ Behm holte aus seinem Koffer die entsprechende Banderole.

Birte Seige saß am Gartentisch und las. Angstvoll sah sie nach oben, als die drei Männer das Grundstück ihrer Freunde betraten.

Rieder grüßte kurz und stellte Behm vor.

„Ein Kriminaltechniker?“, fragte unsicher die junge Frau.

Rieder ging darauf nicht ein: „Frau Seige, haben Sie uns etwas Neues zu sagen? Wollen Sie Ihr Schweigen beenden und uns über Ihr Gespräch mit Peter Stein am Zeltkino aufklären?“ Birte Seige schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts mit dem Tod von Peter zu tun. Das kann Markus Kasan bezeugen.“

„Aber will er das auch?“, entgegnete Rieder. „Er ist abgereist, und seine Aussage ist nicht eindeutig.“

„Dann fragen Sie ihn eben noch mal“, warf sie trotzig ein.

Rieder ließ sich nicht beirren. „Herr Kasan hat ausgesagt, dass Sie vor Beginn der Vorstellung noch einmal draußen waren und verstört zurückkamen. Mehr nicht. Das entlastet Sie nicht. Was ist also vor dem Kino passiert?“

„Was geht Sie das an? Erst zerstören Sie durch Ihre blöde Fragerei meine Beziehung zu Markus, und nun wollen Sie mir noch einen Mord anhängen. Sie können mich mal. Wenn ich mich recht erinnere, müssen Sie mir beweisen, dass ich mit dem Tod von Peter etwas zu tun habe und nicht umgekehrt. Oder?“

Damit stand Birte Seige auf und ging in Richtung Haus.

„Da haben Sie recht, Frau Seige. Deshalb ist Herr Behm mitgekommen. Wir haben weibliche DNA-Spuren unter den Fingernägeln von Peter Stein sichern können.“ Die junge Frau blieb stehen und starrte über ihre Schulter zurück auf Rieder. „Mein Kollege Behm wird jetzt von Ihnen zum Vergleich einen Abstrich von Ihrer Mundschleimhaut nehmen. Der wird mit der gefundenen DNA verglichen. Wie Sie gesagt haben, ich muss Ihnen beweisen, dass Sie etwas mit dem Tod von Stein zu tun haben. Damit fangen wir dann jetzt an.“

Behm klappte seinen Koffer aus und nahm ein durchsichtiges Plastikröhrchen mit einem Wattestäbchen heraus. „Machen Sie bitte den Mund auf“, wandte er sich an Birte Seige.

„Müssen Sie dafür nicht eine Genehmigung oder so etwas haben?“, fragte sie zweifelnd. Rieder zog demonstrativ sein Mobiltelefon aus der Tasche. „Da haben Sie Recht. Das ist sicher kein Problem. Ich rufe bei der Staatsanwaltschaft an. Wie heißt es so schön, aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“

Birte Seige ließ resigniert ihre Schultern sinken. „Okay. Sie haben gewonnen. Ja! Ich habe Peter Stein getroffen, und wir haben gestritten. Aber sonst war nichts. Reicht Ihnen das?“

Damp hatte seinen Notizblock herausgeholt und schrieb mit. „Worüber haben Sie gestritten?“, hakte er nach.

„Übers liebe Geld.“ Als Birte Seige nicht weitererzählte, machte der Polizist eine rotierende Handbewegung, damit die Frau ihren Bericht fortsetzte.

„Peter hat mir zehntausend Euro geliehen, damit ich mir eine Existenz als Fotografin aufbauen kann. Ich habe das Geld bisher nicht zurückgezahlt. Ich dachte, er hätte es vielleicht vergessen. Hatte er aber nicht. Als ich ihn hier kurz nach meiner Ankunft traf, fing er gleich davon an. Ich habe das Geld nicht. Ich bin dann mit zu ihm. Ich dachte, ein schmachtender Blick, ein bisschen nackte Haut, ein paar Küsse und etwas Sex würden ihn schon ruhig stellen. Aber Pustekuchen. Als ich ihn vorm Kino traf, fing er gleich wieder davon an. Er war sowieso auf hundertachtzig ...“

„Wieso?“

„Als ich zur Toilette ging, habe ich ihn mit der Kinofrau streiten gehört. Als ich zurückkam, lief ich ihm direkt in die Arme, und er brüllte gleich los. Er wolle sein Geld. Sofort. Er sei keine Bank ...“

„Gab es auch eine körperliche Auseinandersetzung?“, unterbrach Behm.

„Er hat mich ein bisschen geschüttelt, aber mehr war da nicht. Als ich ihm gesagt habe, ich habe das Geld nicht und kann es ihm deshalb auch nicht geben, ist er wütend weggegangen.“

„Er hat Sie geschüttelt?“

„Ja, hier an den Oberarmen.“ Sie zog die Ärmel ihres Pullovers hoch und zeigte den Polizisten ihre nackten Arme. „Da ist nichts zu sehen.“ Behm trat näher heran. „Sie erlauben?“ Er setzte seine Brille auf und drehte den Oberarm vorsichtig hin und her. Plötzlich hielt er inne, rückte noch einmal die Brille zurecht und tastete eine Stelle an der Rückseite des Armes ab. „Hier ist eine verschorfte Stelle.“

Birte untersuchte nun selbst intensiv ihren rechten Oberarm und entdeckte auch diesen Kratzer. Sie blickte erschrocken auf Behm. „Vielleicht ein Mückenstich? Hier sind doch Massen von diesen Biestern“, versuchte sie sich herauszureden.

„Ein Mückenstich?“, fragte Behm zweifelnd. „Es war in den letzten Nächten eigentlich schon ziemlich kalt und trocken. Kein wirkliches Mückenwetter.“

Damp hörte auf zu schreiben und wollte offenbar etwas sagen, doch Rieder gab ihm zu verstehen, zu schweigen.

„Lassen Sie uns den DNA-Test machen, Frau Seige“, erklärte Behm mit ruhiger Stimme. „Danach sind wir alle klüger. Wenn Ihre Aussage stimmt, haben Sie nichts zu befürchten.“

„Hoch gepokert“, meinte Rieder, als sie in den Streifenwagen stiegen. „Ich habe bei der Expedition mit Malte Fittkau in die Sanddornbüsche am Deich Dutzende Mückenstiche abbekommen. Meine Arme sehen aus wie Steuselkuchen.“

„Zeit gespart“, widersprach Behm. „Woher sollte ein Stadtkind wie Frau Seige wissen, wann Mücken fliegen und wann nicht? Es hätte mindestens 24 Stunden gebraucht, um die richterliche Zustimmung zum DNA-Test zu bekommen. Und bei aller Liebe zu eurer Insel, nicht jeder Ausflug hierher ist vergnügungssteuerpflichtig, sondern kostet eine Menge Zeit. Also auf zur nächsten Kandidatin. Ich will hier heute nicht übernachten.“

Doch Damp ließ nicht den Motor an, sondern starrte vor sich hin. Dann holte er den Umschlag mit dem Bericht des Gerichtsmediziners hervor.

„Was ist denn?“, fragte Rieder ungeduldig.

„Moment“, antwortete Damp barsch. Er überflog Blatt für Blatt bis er mit dem Finger auf eine Zeile tippte. „Es passt nicht!“, rief er aus.

„Was passt nicht?“, fragten Rieder und Behm zugleich.

„Dieser Dr. Krüger schreibt, dass Stein zwischen 20.15 Uhr und 20.45 Uhr niedergeschlagen wurde.“

„Und?“

„Da lief schon die Kinovorstellung. Damit ist die Seige raus.“

„Wo er recht hat, hat er recht“, konstatierte Behm. „Guter Mann. Wir hätten uns die DNA-Probe sparen können.“

„Aber nur wenn Markus Kasan ihre Angaben bereits bestätigt hätte. Hat er aber nicht.“

„Tja, Damp“, meinte Behm mit gespielter Resignation, „da hat nun mal wieder unser Hauptstädter recht.“

Damp seufzte enttäuscht auf und ließ den Wagen an. „Also dann weiter zu Dora Ekkehard.“