Damp spähte durch die Lücken im Lamellenvorhang am Fenster des Hiddenseer Polizeireviers. Immer noch standen da Grüppchen von drei, vier Leuten und diskutierten. Manchmal warfen sie einen Blick in Richtung Revierfenster. Dann schreckte Damp schnell zurück, obwohl er von draußen wahrscheinlich gar nicht zu sehen war. Abwechselnd rieb er sich das Kinn oder raufte sich die Haare. Aus den Augenwinkeln sah er nach Rieder. Der saß völlig entspannt da und las in den Akten aus Steins Haus. Schon das brachte den Hiddenseer Revierleiter innerlich auf die Palme.
„Sie müssen ruhiger werden“, bemerkte Rieder gelassen. „Heute können wir sowieso nichts mehr ändern. Wir können nur warten.“
Sie waren mit Dora Ekkehard zum Hafen gefahren, um auf Gebauers Polizeiboot zu warten. Zur Sicherheit hatten sie nicht direkt am Kai geparkt, sondern auf dem abgezäunten Gelände der Insellogistik.
Behm und Damp waren ausgestiegen. Damp versuchte telefonisch dem Staatsanwalt auseinanderzusetzen, warum er den vor zwei Stunden ausgestellten Haftbefehl gegen Jan Stein aussetzen und nun gegen Dora Ekkehard einen neuen Haftbefehl erlassen sollte.
„Planen Sie, noch mehr Leute einzubuchten? Wenn ja – wird aus Hiddensee noch ein zweites Guantanamo?“
„Was soll das sein?“, hatte Damp zurückgefragt.
„Kennen Sie nicht dieses Gefängnis der Amerikaner auf Kuba, wo sie die Islamisten festhalten?“
„Nee, kenn’ ich nicht. Mir auch egal.“
Damp hatte noch einmal seine Argumente vorgetragen, in der einen Hand das Telefon am Ohr, mit der anderen wild gestikulierend und trotzdem den Staatsanwalt nicht überzeugt. Er hatte Damp gebeten, Rieder ans Telefon zu holen, um dessen Meinung zu erfahren.
Rieder war im Auto bei Dora Ekkehard geblieben. Sie hatten zusammen schweigend auf der Rückbank gesessen. Die Kinofrau hatte zur rechten Seite aus dem Fenster gestarrt. Rieder zur linken. Auf keine Frage oder Bemerkung des Polizisten hatte sie reagiert. Als ihm Damp das Telefon hatte hereinreichen wollen, damit er mit dem Staatsanwalt sprach, war Rieder aus dem Auto gestiegen.
Er hatte vor Dora nicht ihre Festnahme rechtfertigen wollen. Dazu war er zu feige gewesen. Aber er hatte die Festnahme auch gegenüber dem Staatsanwalt mitgetragen. Dora würde nach Bergen gebracht werden und zunächst dort eine Zelle im Revier beziehen.
Vor dem Zaun der Insellogistik hatten sich einige Schaulustige versammelt. Einige waren vom Kino dem Polizeiauto gefolgt. Andere waren durch den Auflauf neugierig geworden. Darunter hatte Rieder auch Steins Vorarbeiter Claasen entdeckt. Er hatte direkt am Zaun gestanden. Rieder war zu ihm gegangen, doch Claasen wollte nicht vor den anderen mit dem Polizisten reden. Er hatte kurz mit dem Kopf genickt und war etwas zur Seite gegangen. Rieder war ihm gefolgt.
„Können Sie bestätigen, dass Jan Stein am Montagabend, so zwischen 20.15 Uhr und 21 Uhr in diesem Bungalow war, der zur ‚Inselbau‘ gehört?“
Claasen schaute sich um. „Das stimmt“, stammelte er. „Jan war schon ziemlich hinüber. Das Gespräch mit seinem Bruder ... äh mit dem Chef war wohl nicht sehr erfolgreich gewesen. Er war total blau.“
„Dann muss ihm Peter Stein aber Geld gegeben haben ...“
Claasen schüttelte den Kopf. „Ich habe ihm Geld gegeben. Er war total abgebrannt, als er hier am Montagmorgen aufschlug. Das Geld hat er offenbar in Alkohol umgesetzt.“
„Warum haben Sie ihn eigentlich da untergebracht? Ihr Chef hätte Ihnen das ganz schön übel nehmen können.“
Der Vorarbeiter scharrte mit den Füßen im Kiesstaub auf dem Boden. „Ich kenne Jan von klein auf. Er ist doch einer von uns. Ein Hiddenseer. Außerdem war der Chef schon Jahre nicht mehr im Bungalow. Er kam höchstens mal in den Schuppen am Hafen.“
„Wie lange waren Sie am Montagabend bei Jan Stein?“
„So bis halb zehn. Da hat er aber schon gepennt. Tief und fest.“
„Haben Sie an diesem Abend oder vielleicht in den letzten Tagen beobachtet, dass jemand in den Bungalow gegangen ist oder sich dort rumgetrieben hat?
Claasen schüttelte den Kopf. „Kann ich jetzt wieder gehen? Ist mir ein bisschen unangenehm, hier so mit Ihnen zu stehen.“
„Warum?“, fragte Rieder bewusst naiv.
„Warum wohl?“, brauste der Mann auf. „Ich bin doch kein Bullenknecht, und was Sie und Damp jetzt hier auf der Insel veranstalten, einen nach dem anderen verhaften, damit möchte ich nichts zu tun haben!“
Dann war auch endlich Gebauer mit seinem Polizeiboot in Sicht gekommen. Damp war mit Behm und Dora zum Kai gefahren und hatte die Kinofrau in die Obhut Gebauers übergeben.
Rieder hatte sich nicht einmal von Dora Ekkehard verabschiedet. Während die Schaulustigen dem Polizeiauto zur Anlegestelle gefolgt waren, hatte er sich unbehelligt auf den Weg zurück zum Revier gemacht. Dabei war ihm Ulrike Stein über den Weg gelaufen. Sie war gerade dabei gewesen, ihre Praxis zu schließen. Rieder war das ganz gelegen gekommen. Er musste noch mal mit der Witwe des Bauunternehmers sprechen.
„Waren Sie doch noch einmal im Haus Ihres Mannes?“
„Herr Kommissar. Versprochen ist versprochen“, hatte sie verschmitzt geantwortet. „Ich habe mich daran gehalten. Aber es ist auch gut, dass ich Sie treffe.“
Ulrike Stein hatte ihre Tasche geöffnet und einen Zettel herausgezogen. „Das ist übrigens die Liste mit den laufenden Bauprojekten und Aufträgen der Firma meines Mannes. Herr Claasen hat mir alles aufgeschrieben. Wenn Sie diese Unterlagen herausgeben könnten?“
Rieder hatte es ihr zugesagt und sie dann noch um ihren Schlüssel zum Haus ihres Mannes gebeten. Sie hatte ein Schlüsselbund hervorgekramt: „Hier, die beiden alten Schlüssel sind es. Der eine ist für die Pforte, der andere für die Haustür.“
Es waren genauso alte Schlüssel wie am Bund von Peter Stein, offenbar also auch Originalschlüssel. Rieder hatte sie ihr wieder zurückgegeben. „Wissen Sie, ob noch jemand Schlüssel zum Haus Ihres Mannes besitzt?“
„Wie ich Peter kenne, niemand. Er war da sehr eigen.“
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, war Ulrike Stein in Richtung Fähranleger gegangen.
„Warten, warten ...“, brummte Damp. Immer wieder sprang er auf und tigerte neben den beiden Schreibtischen hin und her. Drei Meter hin, drei Meter zurück. Rieder sah nicht einmal auf. Damp blieb stehen, drehte sich zu seinem Kollegen: „Sie haben gut reden.“ Er zeigte mit dem Finger auf Rieder. „Sie haben sich wunderbar aus der Affäre gezogen. Nun bin ich auf der Insel der Buhmann. Weil ich die heilige Dora Ekkehard verhaftet habe.“ Draußen wurden die Stimmen wieder lauter. Damp sprang zum Fenster und sah hinaus. Noch immer standen ein Dutzend Leute zusammen. Weniger Hiddenseer. Mehr Urlauber. „Sehen Sie sich das an!“, schimpfte Damp.
Rieder schwieg und las weiter. Damp drehte sich um. „Nun sagen Sie doch auch mal was!“
„Was soll ich sagen?“ Rieder sah Damp direkt an. „Es würde Ihnen auch nicht gefallen. Aber bitte: Lieber Kollege, Polizeiarbeit besteht nicht nur darin, Bußgeldbescheide für fehlende Fahrradscheinwerfer auszuschreiben. Auch Entscheidungen zu treffen gehört dazu. Und das“, Rieder zeigte zum Fenster, „muss man aushalten.“
Die Tür wurde aufgerissen, und Durk stürmte herein. „Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Hätten Sie das mit der Ekkehard nicht etwas diskreter abwickeln können? Sie direkt vor dem Zeltkino zu verhaften!“, brüllte er Rieder an.
Der blieb weiter gelassen. „Herr Bürgermeister, ich bin hier auf der Insel nur als Verstärkung. Revierleiter Damp hat Frau Ekkehard vorläufig festgenommen.“ Schon wandte sich Durk zu Damp. Er pumpte sich auf, hob drohend den Arm, um eine Hasstirade auf den Revierleiter niedergehen zu lassen. Offenbar war die neue Freundschaft zwischen Bürgermeister und Revierleiter schon wieder zerbrochen. „Ich teile seine Entscheidung“, kam Rieder Durks Wutausbruch zuvor. „Von der Indizienlage und unseren Möglichkeiten hier auf der Insel hat Kollege Damp völlig korrekt gehandelt und hat dafür auch die Rückendeckung des Staatsanwalts.“
Welche Mühe es gekostet hatte, ihn davon zu überzeugen, verschwieg Rieder.
Durk starrte Rieder an. Der Polizist hatte sich schon wieder seiner Akte zugewandt. Der Bürgermeister ließ den Arm sinken und wirkte plötzlich wie ein schrumpelnder Luftballon, aus dem die Luft herauspfiff.
„Wir ermitteln natürlich weiter“, erklärte Rieder, scheinbar lesend, weiter. „Deshalb wühlen wir uns zum Beispiel durch diese Akten zum Projekt ‚Ostseetherme Norderende‘. Übrigens eine sehr interessante Lektüre. Sie kommen da auch vor.“
Rieder stand auf, verschränkte sie Arme vor der Brust und lehnte sich lässig an seine Schreibtischkante. „Außerdem werden die Spurensicherung und der Pathologe die Spuren auswerten. Die Ergebnisse werden den Verdacht erhärten oder auch nicht. So läuft nun mal Polizeiarbeit. Vorläufig festgenommen ist nicht verhaftet. Jetzt würden wir hier gern weitermachen.“
Daraufhin verließ Durk wortlos den Raum.
Bald darauf ging Damp. Er borgte sich von Rieder den Schlüssel für dessen Dienstfahrrad. Weil noch immer Leute neben dem geparkten Polizeiwagen vor dem Rathaus standen, schlich sich Damp aus dem Hintereingang und radelte vorbei an der alten Mühle in Richtung Strand. Es ging ihm zwar sehr gegen den Strich, auf den Polizeiwagen als Zeichen seiner Macht zu verzichten, doch heute schien ihm ein stiller Rückzug nach Neuendorf klüger zu sein.
Rieder blieb noch im Büro und studierte Steins Akten. Er musste zugeben, Steins Konzept hatte durchaus interessante Ansätze. Stein hatte erkannt, dass man der neuen Urlaubergeneration mehr bieten müsse als nur Natur, Ostsee und Abgeschiedenheit. Der Bauunternehmer hatte akribisch Daten über die Belegung der Urlaubsquartiere auf der Insel gesammelt und ausgewertet. Diagramme zeigten, dass die Saison von Jahr zu Jahr kürzer geworden war. War früher Ostern Saisonstart, kamen heute immer weniger Gäste schon so zeitig. Erst ab Mai, eher ab Pfingsten begann die Urlaubssaison. Endete sie früher im späten Oktober oder frühen November, brach die Zahl der Übernachtungen jetzt schon Anfang August, nach dem Ferienende in Ostdeutschland, ein, und nach dem Ferienende in Bayern und Baden-Württemberg war totale Ebbe. Jetzt im Oktober zogen im Gegensatz zu früher Familien mit Kindern in den Herbstferien Sonne und Wärme in südlichen Gefilden einem möglicherweise stürmischen, nasskalten Hiddensee-Trip vor. Dazu kamen die hohen Preise für Quartiere und Versorgung auf der Insel, die nach Steins Ansicht für viele, die zum ersten Mal nach Hiddensee kamen, abschreckend wirkten. Steins Rechnung war einfach. Die „Ostseetherme“ in Norderende würde einen Urlaub auf Hiddensee besonders im Frühjahr und Herbst wetterunabhängiger machen und damit die Saison bis in den Winter hinein verlängern. Die Kombination aus Spaßbad, Veranstaltungsräumen und Betreuungsmöglichkeiten für Kinder in der „Ostseetherme“ sowie der preiswerten Unterbringung in der geplanten Ferienhaussiedlung käme den Ansprüchen und finanziellen Möglichkeiten junger Familien entgegen.
Allerdings war das nur die eine Seite von Steins Plänen. Seit mehreren Jahren hatte Stein nach und nach Grundstücke im Ortsteil Norderende aufgekauft oder es wenigstens versucht. Stein hatte gut gezahlt. Trotzdem notierte sich Rieder den Namen des Notars, um nachzufragen, ob wirklich alles so reibungslos abgelaufen war. Außerdem musste geklärt werden, woher Stein das viele Geld für die Käufe gehabt hatte. Allein die vorliegenden Verträge beliefen sich auf einige Millionen Euro. Eigentlich gab es neben Dora Ekkehard nur drei Fälle, in denen es für Stein Schwierigkeiten gegeben hatte. Da waren die Godglücks, einst Besitzer der Pension im Seglerhafen und des Grundstücks, auf dem das Zeltkino stand. Die Unterlagen bestätigten die Informationen der Kinofrau über das Schicksal der Familie und wie sie erst die Pension „Luv & Lee“, dann das Grundstück im Kinowäldchen und zum Schluss alles verloren hatten. Die Godglücks hatten die Insel verlassen und wohnten jetzt auf Rügen.
Dann war da noch Andreas von Krenz. Er besaß ein altes Reetdachhaus in Norderende, direkt an der Straße. Rieder wusste sofort, um welches Haus es sich handelte. Es war ein wunderschönes Backsteinhaus, das liebevoll saniert worden war. Krenz’ Haus sollte die Rezeption des Feriendorfes werden, das Stein um die „Ostseetherme“ geplant hatte.
Doch von Krenz hatte Steins Offerten gegenüber unnachgiebig gezeigt. In den Unterlagen fanden sich Briefe, aus denen herauszulesen war, dass der Bauunternehmer mit amtlicher Hilfe des Bürgermeisters versucht hatte, von Krenz zum Verkauf zu drängen. So hatte Durk von Krenz zunächst einen Anschluss an das öffentliche Abwassernetz verweigert. Die Bodenverhältnisse um Haus würden das nicht zulassen. Allerdings waren alle Nachbarn von Krenz’ angeschlossen. Außerdem war der örtliche Abwasserverband für jeden neuen Kunden dankbar, eben weil die Anlage viel zu groß konstruiert und so die Kosten viel zu hoch waren. Zwei Monate später hatte Durk von Krenz mitgeteilt, dass seine Sickergrube für die Abwässer nicht mehr akzeptiert werden könne, weil sie eine Gefahr für die Umwelt darstellen würde. Er müsse für einen Anschluss an das Abwassernetz sorgen, den ihm Durk kurz vorher ja verweigert hatte. Ansonsten müsste das Grundstück samt Haus für Wohnzwecke gesperrt werden. Es war absurd und stank gewaltig nach Korrruption, denn der gesamte Briefwechsel zwischen Durk und von Krenz fand sich in Steins Unterlagen.
Von Krenz hatte dagegen geklagt und, wie zu erwarten war, Recht bekommen. Die Gemeinde musste seinen Anschluss an das Abwassernetz genehmigen. Doch nun verzögerte die Firma Stein die Arbeiten. Einmal hatte Material gefehlt, dann war das Wetter zu schlecht gewesen, zuletzt hatte er keine Arbeitskräfte gehabt. Parallel hatte die Gemeinde Mahnbescheide geschickt, weil von Krenz’ Haus immer noch nicht an die Kanalisation angeschlossen war und er immer noch die Sickergrube genutzt hatte. Auch diesen Kleinkrieg hatte wieder nur ein Gerichtsurteil beendet – wieder zu Gunsten des Hausbesitzers und auf Kosten der Gemeinde und der Firma ‚Inselbau‘. Peter Stein hatte nicht nur unverzüglich den Anschluss legen, sondern auch noch eine Vertragsstrafe zahlen müssen. Sicher hatte Andreas von Krenz danach nicht gerade ein gemütliches Leben auf der Insel geführt, wenn er sich Stein und Durk so entgegengestellt hatte. Aber noch war er da.
Außerdem hatte Stein noch versucht, das „Gasthaus Norderende“ zu kaufen. Es stand am Ortsende von Vitte, an der Straße nach Kloster und hatte eine wunderschöne alte, verglaste Veranda mit Blick über die Salzwiese hin zum Seglerhafen. Doch die Fenster waren blind vor Schmutz. Nach seiner Ankunft auf der Insel hatte Rieder einmal versucht, durch die Scheiben in die alte Gaststube zu schauen. Er hatte auf eine stillgelegte Baustelle geschaut. Der Raum war geteilt worden durch eine Mauer, Zementsäcke und Bausteine lagen herum. Maurerwerkzeug war über den Boden verstreut. Wahrscheinlich sollten hier Ferienwohnungen entstehen, aber es war schon lange nicht mehr gebaut worden.
Essen konnte man dort trotzdem noch im „Norderende“, aber nur im Garten, neben dem Haus. Dort gab es einen Imbiss. Der Ausschank bestand aus einem offenen Fenster. Für die Gäste standen Gartenstühle und Tische bereit. Das Angebot bestand aus Getränken, Bockwurst und einem Eintopfgericht, das täglich wechselte. Wie Rieder beobachtet hatte, florierte das Geschäft nicht gerade. Es saßen zwar immer Leute im Garten des „Norderende“, doch viele schauten nur kurz auf das Speisenangebot auf der schwarzen Tafel und zogen dann weiter.
Aus Steins Unterlagen erfuhr Rieder, dass eine gewisse Karin Knoop diesen Imbiss betrieb und ihr auch das „Gasthaus Norderende“ gehörte. Der Bauunternehmer hatte ihr mehrere Kaufangebote unterbreitet. Stein hatte geplant, das „Gasthaus Norderende“ zu einem Luxusrestaurant umbauen. Er hatte einen Sternekoch aus Berlin oder Hamburg nach Hiddensee und damit auch besser betuchte Gäste auf die Insel locken wollen.
Bisher waren die Verhandlungen zwischen Stein und Knoop nicht zu einem Abschluss gekommen, obwohl die Besitzerin offenbar dringend Geld brauchte, um die Kreditraten für das Haus zu zahlen. Wie aus den Schreiben hervorging, hatte Stein um die finanzielle Not der Frau gewusst und versucht, sie damit unter Druck zu setzen. Aber ohne Erfolg: Vor einiger Zeit war der Schriftverkehr zwischen Peter Stein und Karin Knoop über den Verkauf abrupt abgebrochen. Rieder fragte sich, warum, fand aber dafür in den Unterlagen keine Antwort.
Er klappte den Aktendeckel zu, stand auf und streckte sich, sammelte seine Sachen zusammen und ging zur Tür. Er freute sich darauf, mal mit dem Auto zu Charlotte zu fahren. An der Tür drehte er sich noch einmal um. Sein Blick fiel auf den Aktenordner der „Ostseetherme“. Rieder ging zurück. Er nahm ihn unter den Arm. Vor dem Hiddenseer Rathaus stand niemand mehr. Überhaupt waren die Wege in Vitte jetzt schon am frühen Abend menschenleer. Der Lebensnerv der Insel schloss jetzt schon um siebzehn Uhr. Der Buchhändler hatte schon die Saison beendet und sein Geschäft bis Ostern geschlossen. Einige Gaststätten öffneten nur noch am Mittag.
Trotzdem war Krach. Auf der Wiese neben dem Sportplatz, gegenüber vom Rathaus, rasteten Hunderte von Wildgänsen auf ihrem Flug nach Süden. Sie schnatterten, grasten in kleinen Gruppen die saftige Weide ab, badeten in den kleinen Tümpeln, die sich nach dem letzten Regen gebildet hatte. Im Keil steuerten ständig neue Schwärme die Wiese an. Am Boden schienen kleinere Gruppen immer wieder den Aufstieg zu trainieren. Sie flatterten mit heftigem Flügelschlag in die Höhe, um dann aber gleich wieder zu landen. Hier und da gab es auch kleine Zwistigkeiten um die Futterplätze.
Rieder ging die paar Schritte zum Zeltkino. Niemand drängelte sich vor den Aushängen. Offenbar hatte es sich herumgesprochen, dass es vorerst keine Vorführungen gab. Auf der Bank vor dem Vorführraum saß Malte Fittkau und rauchte Pfeife.
„Was machst du hier?“, fragte der Polizist.
„Aufpassen.“
„Du passt auf das Zeltkino von Dora Ekkehard auf?“, fragte Rieder ungläubig.
„Was dagegen?“
Rieder schüttelte den Kopf. „Ich wundere mich nur.“
„Ich mich auch.“
„Worüber.“
„Über dich.“
„Über mich?“ Rieder setzte sich neben Fittkau.
„Über dich!“
„Warum?“
„Dora ist unschuldig.“
„Ah ja. Und woher weißt du das?“
„Weiß ich eben.“
„Hm.“ Rieder fröstelte etwas. Er wusste allerdings nicht, ob es von der aufsteigenden Abendkälte kam oder eher an Malte lag.
„Wir hatten keine andere Möglichkeit. Die Paddel. Die Spuren unter Steins Fingernägeln ...“ Malte Fittkau drehte sich zu Rieder um und schaute ihn mit einem langen Blick an. „Na und?“
„Das sind Indizien, möglicherweise Beweise ...“, rechtfertigte sich Rieder.
Malte sah wieder geradeaus, paffte an seiner Pfeife und schwieg. Das war für Rieder noch unerträglicher als Maltes vorwurfsvolle Einsilbigkeit.
Plötzlich stand Malte auf, ging zu seinem Fahrrad. Er schob es ein paar Schritte. Dann blieb er noch mal stehen. „Du bist nun mal nicht von hier. Sonst wüsstest du es besser. Du bist eben auch nur ein Zugereister.“
Dann verschwand er in der Dunkelheit.