Wo bist du gestern Abend so lange gewesen?“ Charlotte Dobbert saß schon am Frühstückstisch, als Rieder verschlafen in die Küche kam.
„Bei Möselbeck.“
„Bist du krank?“, fragte sie besorgt.
Rieder schüttelte den Kopf. „Ich habe mit ihm über Peter Stein geredet.“
„War es interessant?“
„Ja, doch.“ Rieder stellte sich an die Spüle und ließ den Wasserkessel volllaufen.
„Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“
„Stein, Durk und er sind so etwas wie die ‚Drei Musketiere‘ von der Insel. Einer für alle. Alle für einen. Aber nun ist die große Freundschaft zerbrochen.“ Er erzählte, was er von Möselbeck erfahren hatte, auch über die Pläne für das Spassbad in Norderende. „Durk und Stein sind irgendwie ...“, Rieder suchte nach dem richtigen Wort, „ ... ‚übergeschnappt‘ trifft es nicht. Größenwahnsinnig.“
„Vielleicht hätte es auch allen auf der Insel geholfen“, widersprach Charlotte. Rieder brühte sich seinen Tee auf und setzte sich an den Tisch.
„Was ich mich frage, woher Stein das ganze Geld hat, um diese Häuser zu kaufen und dieses Spaßbad zu bauen.“
„Wer reich ist, hat meistens keine Probleme, von den Banken einen Kredit zu bekommen.“
„Stimmt, trotzdem sollte man da nochmal nachhaken“, sagte Rieder schon mehr zu sich selbst.
„Warum interessiert dich das noch? Ich denke, Dora ist die Täterin. Man hat doch bei ihr die Paddel gefunden, mit den Stein erschlagen worden sein soll.“
„Du sagst es: ‚sein soll‘. Traust du Dora wirklich einen Mord zu?“
Charlotte wiegte den Kopf hin und her. „Zutrauen?“, fragte sie sich. „Dafür kenne ich sie zu wenig. Es zählen doch sowieso die Beweise und nicht der Charakter.“
„Stimmt schon, aber ...“
„Aber, aber“, ereiferte sich Charlotte. „Mach einen Strich unter die Geschichte, auch wenn Dora deine Nachbarin ist. Ich verstehe schon, dass sie dir nicht egal ist, aber du kannst es auch nicht ändern. Vor allem sollte bald wieder Ruhe auf der Insel einkehren“, fügte sie noch hinzu.
„Ihr immer mit eurer Ruhe“, regte sich Rieder auf.
„Du warst gestern Abend nicht hier. Es gab einen Aufstand unter den Gästen. Sie wollten Demonstrationen veranstalten, das Kino besetzen ... ist doch alles Quatsch. Wenn es Dora gewesen ist, was soll das dann noch?“
Rieder schluckte seinen Widerspruch herunter. Er griff nach einem Brötchen und stutzte. „Was sind das für Prospekte?“
„Von einem Reisebüro in Stralsund.“
„Willst du wegfahren?“
„Die Frage wäre, ob wir wegfahren wollen?“, entgegnete Charlotte und blickte Rieder in die Augen. Er schluckte, sagte aber nichts.
„Ich meine, in den Urlaub fahren! Gemeinsam!“
„Ich habe schon verstanden.“
„Es machte nicht ganz so den Eindruck. Wie schon öfters in der letzten Zeit.“
Rieders Antennen nahmen einen leicht feindseligen Unterton wahr. Wahrscheinlich war es jetzt nicht mehr weit bis zur Diskussion über ein Zusammenziehen in Charlottes Wohnung in Neuendorf. So versuchte er, schnell die Kurve zu kriegen.
„Wohin dachtest du denn?“
„In den Süden.“
„Das ist sehr präzise. Geht’s vielleicht etwas genauer?“
„Mallorca oder Kanaren.“
„Wann?“
„Den ganzen Winter.“ Rieder verschlug es kurz die Sprache. Was sollte das bedeuten? Er fragte aber erstmal: „Und dein Café?“
„Mache ich am 31. Oktober dicht. Ich habe schon mit meinen Angestellten gesprochen. Sie melden sich dann bis April arbeitslos. Bis zur nächsten Saison.“
„Kannst du dir das leisten?“
„Stefan, was soll die Fragerei?“ Charlotte stand auf und stellte sich an die Spüle, beugte den Oberkörper leicht vor und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Augen funkelten. Rieder kannte das schon. Das war ihre Ausgangsposition für einen Streit. So konnte sie besser gestikulieren und ihren Worten mehr Druck verleihen. Er probierte es mit Deeskalation. „Es kommt nur so plötzlich. Du hast bisher nie davon gesprochen, in den Urlaub zu fahren ...“
Zu spät. Sie giftete zurück: „Und du hast nicht einmal daran gedacht!“ Punkt für sie. „Ich hatte noch Probezeit“, versuchte er zu parieren, gestand sich aber ein, dass es eher ein schwaches Argument war, dass sie dann auch gleich in der Luft zerriss. „Was erzählst du da. Du bist Beamter, hast alle deine Vergünstigungen mit hierher genommen und bisher nie etwas von einer Probezeit erzählt, sondern nur von einem befristeten Vertrag mit Rückkehrrecht!“ Das letzte Wort hatte sie besonders betont. Er schaute auf. Das war ein Fehler. Denn schon setzte es den nächsten rhetorischen, wenn auch zutreffenden Hieb: „Das passt zu dir. Dein Rückkehrrecht. Nur nicht festlegen. Ob wir zusammenziehen. Ob wir gemeinsam in den Urlaub fahren. Manchmal frage ich mich, ob wir überhaupt ein Paar sind. Das ist man nämlich nicht, wenn man sich zwei- oder dreimal in der Woche trifft, nur um zu ficken.“
„Charlotte!“
„Was, Charlotte!?“
Da klingelte sein Telefon. Für ihn war es wie der Gong für einen angeschlagenen Boxer am Ende einer Runde. Aber er wusste, dieser Kampf mit seiner Freundin könnte noch über ein paar Runden gehen. Doch die Stimme am anderen Ende der Leitung verhieß ihm ein vorzeitiges Ende dieses Kampfes. Es war sein Chef.
„Wo stecken Sie?“, fragte Bökemüller statt einer Begrüßung.
„Auf Hiddensee. Wo sonst?“, antwortete Rieder etwas verwundert.
„Sie müssen sofort nach Bergen. Heute Morgen wurde eine Frau schwer verletzt in Seedorf gefunden. Wissen Sie, wo das ist?“
„Ja, bei Sellin.“
„Genau. Wahrscheinlich handelt es sich um eine brutale Vergewaltigung. Die Frau schwebt in Lebensgefahr. Das ist es aber nicht allein. Kinder haben die Frau an der Haltestelle des Schulbusses gefunden. Hier hört das Telefon gar nicht mehr auf zu klingeln. Die Eltern verlangen Polizeischutz, eine ständige Streife im Ort. Wir müssen da schnell einen Erfolg vorzeigen, sonst läuft die Situation aus dem Ruder. Ich habe Behm schon losgeschickt mit seiner Truppe. Sie müssen die Leitung der Ermittlungen übernehmen.“
„Aber ich habe hier noch zu tun ...“
„Ich denke, Sie haben die Täterin. Den Bericht kann Damp schreiben. Das wird er wohl bringen ...“
„Es gibt da noch ein paar Ungereimtheiten ...“, wandte Rieder ein.
„Ungereimtheiten?“, wiederholte Bökemüller. „Herr Rieder, es war schon gestern dem Staatsanwalt kaum beizubringen, was Sie und Damp dort veranstaltet haben. Verhaften, freilassen, verhaften. Und das im Stundenrhythmus. Mal ganz abgesehen von diesem wildgewordenen Inselbürgermeister, der hier ständig anruft und sich beschwert. Um es klar zu sagen, ich hoffe für Sie beide, dass Sie jetzt die Richtige haben, diese Kinofrau. Jetzt brauche ich Sie auf Rügen!“
Diese Ansage keinen Widerspruch zu. Rieder versuchte es trotzdem. „Gibt es nicht auch jemanden auf Rügen, der den Fall übernehmen könnte?“
„Nein, gibt es nicht!“
„Okay. Ist denn außer mir noch jemand vom Bergener Revier mit von der Partie? So gut kenne ich mich auf Rügen nicht aus.“
„Polizeikommissarin Blohm. Sie ist eine junge Kollegin, sicher mit Potential, aber diese Nummer ist etwas zu groß für sie. Wenn es in Seedorf Probleme gibt, muss das jemand mit Erfahrung in die Hand nehmen. Die Blohm meldet sich bei Ihnen.“
Damit legte Bökemüller auf. Gleich darauf klingelte es wieder. Charlotte verließ die Küche und knallte die Tür zu.
„Hauptkommissar Rieder?“, fragte eine sympathische weibliche Stimme. „Hier ist Nelly Blohm.“
„Bökemüller hat Sie mir schon angekündigt. Wir sollen uns um den Fall in Seedorf kümmern.“
„Stimmt. Ich bin jetzt im Krankenhaus in Bergen. Die Frau wird gerade operiert ...“
„Wie stehen ihre Chancen?“
„Die Ärzte hoffen, dass sie überlebt, obwohl die Verletzungen recht schwer sind. Die Auffindesituation deutet auf Vergewaltigung hin. Übrigens, die Frau kommt von Hiddensee. Sie heißt Karin Knoop.“
Draußen lehnte Damp am Streifenwagen. Neben sich das Dienstfahrrad.
„Na endlich. Ich dachte schon, Sie kommen überhaupt nicht mehr!“
Die Tour mit dem Dienstfahrrad am Vorabend hatte ihm gereicht. Nur mit Mühe hatte er die Strecke bis nach Neuendorf geschafft. Gegen den starken Wind war er kaum angekommen. Völlig ausgepumpt war er in seiner Wohnung auf das Sofa gefallen und bis heute morgen auch nicht mehr aufgestanden. Außerdem schmerzte immer noch seine Wunde am Kopf. Heute Morgen hatte er beschlossen, dass er sich die Tortur mit dem Rad nicht noch einmal antun würde. Immerhin war er der Revierleiter. Sollte doch Rieder den Drahtesel zurückkutschieren. War ja auch sein Dienstfahrzeug. Eigentlich wollte er einfach Rieder das Rad hinhalten und den Schlüssel vom Streifenwagen einfordern, doch als Rieder aus dem Haus von Charlotte Dobbert gestürmt kam, hatte Damp der Mut verlassen. Da war wohl dicke Luft im Liebesnest?
Rieder hatte Charlotte gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Als er sein Telefonat mit Nelly Blohm beendet hatte, hörte er im Obergeschoss die Dusche rauschen. Natürlich hatte es beim Namen Karin Knoop sofort gefunkt. Die Besitzerin vom „Gasthaus Norderende“! Längere Zeit hatte er am Telefon geschwiegen, weil er die Information erstmal verarbeiten musste.
„Hallo, sind Sie noch da?“, hatte die Polizistin durchs Telefon gerufen. „Wann können Sie da sein?“
Rieder hatte ihre Frage völlig überhört. „Wann ich da sein kann?“, hatte er ins Telefon gestottert.
„Ist heute nicht ihr Tag? Oder?“
Das war es wohl wirklich nicht. „Ich weiß es noch nicht. Ich melde mich, wenn ich auf der Insel bin. Ihre Nummer sehe ich ja im Display“, hatte er ins Telefon geraunzt und aufgelegt.
Dann hatte er sich schnell angezogen und an die Badezimmertür geklopft. „Ich muss los nach Rügen. Lass uns heute Abend noch mal reden.“ Er hatte allerdings von drinnen keine Antwort bekommen.
Rieder zeigte auf das Fahrrad neben seinem Kollegen. „Was gibt es zu meckern?“, fragte er gereizt. „Sie hätten doch mit dem Rad schon lange losfahren können?“
Damp schaute kurz auf das Fahrrad und dann auf Rieder. „Wir können doch zusammen fahren. Das Rad können wir hinten reinlegen.“
Rieder hielt schon die geöffnete Fahrertür in der Hand und wollte einsteigen. „Na gut.“
Sie öffneten die Heckklappe und schauten auf ein ziemliches Chaos aus Polizeiutensilien. „Sieht schlecht aus.“ Rieder wollte die Klappe schon wieder zuwerfen. „Außerdem habe ich es eilig. Ich muss nach Rügen. Sie müssen sich allein weiter mit der Stein-Sache rumschlagen.“
Damp klappte die Kinnlade herunter. Er warf das Rad hin, rannte Rieder hinterher, der schon am Einsteigen war und riss die Fahrertür wieder auf. „Was bedeutet das alles?“
Rieder hielt kurz inne, atmete tief aus. Er stieg wieder aus, klappte die Hecktür wieder auf. Er entfernte das Absperrnetz zum Fahrgastraum, griff nach dem Fahrrad und legte es hinten rein.
„Steigen Sie ein! Wir reden im Auto“, meinte Rieder. Damp eilte um das Auto und stieg ein.
Auf der Fahrt erzählte Rieder seinem Kollegen von dem Anruf aus Bergen. „Kennen Sie Karin Knoop?“
„Kennen wäre zuviel gesagt. Ihr gehört das ‚Norderende‘. Ihr Mann ist vor einiger Zeit gestorben. Irgendwas war da, aber ich erinnere mich nicht.“
„Sie ist gestern auf Rügen überfallen und wahrscheinlich vergewaltigt worden.“
Damp wandte sich zu Rieder. „Was?“, fragte er mit entgeistertem Blick.
„Ihr Name steht übrigens auch in den Unterlagen von Stein. Ach Mist!“ Rieder schlug sich an die Stirn. „Jetzt habe ich doch Steins Aktenordner bei Charlotte liegengelassen!“
„Warum ist die Akte nicht im Revier?“, wunderte sich Damp. Rieder wollte nicht zugeben, dass er Angst hatte, sie würde da nicht sicher sein. „Ich wollte sie weiter durcharbeiten.“ Die halbe Wahrheit musste reichen.
„Glauben Sie, dass es einen Zusammenhang mit dem Mord an Peter Stein gibt?“, fragte Damp.
Rieder konnte ihm nicht antworten. Sein Telefon klingelte. Er befürchtete, es sei wieder diese Nelly Blohm. Er lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt, drückte auf die grüne Taste mit dem Hörersymbol. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Ihnen Bescheid sage, wenn ich in Schaprode angekommen bin!“, bellte er missmutig ins Telefon. Dann stockte er. „Ach, du bist es. Entschuldige.“
Es war Behm. „Was ist dir für eine Laus über die Leber gelaufen?“
„Ich habe Stress.“ Rieder stellte den Motor aus und bedeutete Damp, er solle weiterfahren.
„Genauso hört es sich auch an“, meinte Behm.
Rieder und Damp wechselten die Sitze. Damp fuhr wieder los.
„Ich muss wie du nach Rügen, wegen der Frau aus Seedorf und hier ist noch nicht alles klar. Meines Erachtens. Bökemüller sieht es etwas anders“, versuchte sich Rieder zu erklären.
„Deswegen rufe ich an. Bevor ich hier losfahre, wollte ich noch eine Information an euch loswerden. Ich habe etwas auf Steins Handy entdeckt. Eine SMS. Abgeschickt an seinem Todestag.“ Rieder horchte auf.
„Sie lautet: ‚Lass uns uns heute 20.30 Uhr am Kahn treffen und über alles reden. Ich freu mich.‘ Er hat auch geantwortet: ‚Ich freu mich drauf. Ich weiß, alles wird gut.‘“ Möglicherweise hat er damit sein Todesurteil unterschrieben, denn der Todeszeitraum wird von Krüger genau auf diese Zeit eingegrenzt. Klingt allerdings nicht unbedingt nach Dora Ekkehard.“
Das stimmte, sagte sich Rieder. Es war aber auch kein Beweis für ihre Unschuld. Genauso könnte der Absender der SMS den Mord beobachtet haben und traute sich nun nicht, sich als Zeuge zu melden.
„Das Gerät ist momentan abgeschaltet. Eine Mailbox gibt es nicht“, ergänzte Behm noch seine Information.
„Über die Nummer müssten wir doch den Absender der SMS ermitteln können.“
„Danke, Stefan, darauf bin ich sogar selbst gekommen“, meinte ironisch Behm. „Aber es gibt ein Problem mit dem Provider.“
„Was soll es da für ein Problem geben?“, warf Rieder ungeduldig ein. „Jeder Staatsanwalt unterschreibt dir unverzüglich die entsprechende Anordnung bei Mord.“
„Auch das ist richtig, Stefan“, entgegnete Behm, nun schon ungehaltener über die Belehrungen seines Kollegen. „Auch darauf bin ich allein gekommen. Ich habe die Anordnung auch schon an den Provider geschickt. Die sind da auch willig, den Namen herauszugeben. Doch es handelt sich um eine SIM-Karte, die von einem Lebensmitteldiscounter vertrieben wurde. Die sind leider nicht ganz so ordentlich mit der Aufnahme der Daten bei der Kundenregistrierung.“
„Soll heißen?“
„Es gibt einen Namen ...“
„Ist doch prima“, rief Rieder dazwischen.
„Kannst du mal zuhören!“, brauste Behm auf. „Ich glaube nämlich nicht, dass Pippi Langstrumpf Stein die SMS geschrieben hat!“