XXV

Damp hatte Rieder am Hafen abgesetzt. Die nächste Fähre nach Schaprode auf Rügen würde erst in einer halben Stunde fahren. Es nieselte leicht. Obwohl Rieder eine Regenjacke trug, kroch die feuchte Kühle des Morgens langsam durch seine Kleidung. Er fröstelte. Er musste sich endlich richtig dicke Sachen besorgen, um hier Herbst und Winter zu überstehen.

An der Anlegestelle standen nur ein paar Touristen mit ihren Koffern. Die Hiddenseer wussten natürlich, wann die Fähren an- und ablegten. Sie kamen meist auf den letzten Drücker.

Rieder schaute, ob er sich irgendwo aufwärmen konnte. Es gab zwar im Hafen mehrere Kneipen, die hatten aber alle noch geschlossen. Vor zehn machte hier in der Nachsaison keiner auf. Er wanderte wieder zurück auf den Deich. Noch mal ins Revier zu gehen, lohnte sich nicht. Mit Damp hatte er alles geklärt. Sein Kollege war allerdings nicht sehr begeistert, jetzt allein den Mord an Stein bearbeiten zu müssen. Es würde Rieder nicht wundern, wenn er die Arbeit einfach liegenließe, bis der Überfall auf die Frau geklärt wäre.

Meist war es kein Zufall, wenn im Umfeld eines Mordes weitere Verbrechen geschahen. Da hatte Damp schon Recht. Eigentlich wäre es gut, wenn Damp ein paar Erkundigungen über Karin Knoop einholen könnte. Rieder traute seinem Kollegen allerdings nicht das sensible Fingerspitzengefühl zu, bei den Hiddenseern die richtigen Fragen zu stellen, um herauszubekommen, ob es eine Verbindung zwischen Peter Stein und Karin Knoop gab. Vielleicht unterschätzte er aber auch seinen Kollegen.

Rieder schlug die Arme um den Körper, damit es ihm etwas wärmer würde. Er könnte natürlich noch schnell zu seiner Bleibe im Wiesenweg laufen, um dickere Sachen anzuziehen. Er schaute auf die Uhr. Mit einem kleinen Spurt sei das bestimmt zu schaffen.

Rieder lief auf dem Deich entlang. Da entdeckte er am Steg der Einheimischen Malte in seinem Boot. Er war gerade dabei, den Motor anzuwerfen, um abzulegen. Rieder winkte und rief nach ihm. Malte schaute auf und erwiderte zögerlich die Begrüßung durch den Polizisten. Rieder rannte vom Deich hinab auf den Steg.

„Hallo, fährst du nach Schaprode?“

Malte nickte.

„Kannst du mich mitnehmen?“ Sein Nachbar wirkte nicht gerade begeistert. „Mit den Klamotten?“

Malte Fittkau hatte richtiges Ölzeug an. Selbst seine Fischermütze hatte er gegen einen Südwester aus Gummizeug ausgetauscht.

„Das macht mir nix aus.“

„Aber mir vielleicht.“

Offenbar war Fittkau noch immer verärgert.

„Nun hab dich nicht so!“

Malte machte nur eine kurze Kopfbewegung zur Seite. Rieder stieg ins Boot. Wortlos wies Malte mit der Hand auf die Querbank, damit sich Rieder dort hinsetze. Er selbst nahm im Heck Platz. Dann riss er den Motor an und löste die letzte Leine. Das Boot schob sich aus der Anlegestelle hinaus auf den Bodden.

Obwohl es eigentlich nicht erlaubt war, steuerte Malte ziemlich nah am Ufer entlang in Richtung Fährinsel. Von dort aus, der engsten Stelle zwischen Hiddensee und Rügen, steuerte er hart backbord in Richtung Seehof auf Rügen. Von da waren früher die Fährboote nach Hiddensee gefahren, als die Inselgäste und Waren noch mit Ruderbooten transportiert wurden.

Als sie das offenere Gewässer erreichten, wurden der Regen und der Wellengang stärker. Da Ostwind wehte, tauchte die Spitze des Bootes immer wieder in Wellentäler ein. Gischt spritzte über den Bug. Rieder spürte, wie die Rückseiten seiner Jacke und Hose langsam durchnässt wurden.

Malte starrte stur geradeaus.

„Wohin willst du auf Rügen?“, fragte Rieder.

„Nach Bergen.“

„Um was zu machen?“

„Mal sehen.“

Rieder entdeckte unter der Heckbank eine Tasche, aus der die Hälse zweier Saftflaschen herausschauten.

„Willst du versuchen, deinen Sanddornsaft an den Mann zu bringen?“

Keine Antwort. Stattdessen schob Malte die Pinne am Motor nach links. Das Boot wendete sich nach steuerbord. Sie waren schon nah bei Seehof. Hier konnte Malte nicht so nah am Ufer fahren, weil der Bodden hier sehr flach war. Der Wind und die Wellen kamen nun von der Seite. Sie ließen das Boot heftig krängen. Rieder musste sich festhalten, um nicht von der Sitzbank zu rutschen. Sie erreichten die Einfahrt von Schaprode. Malte drosselte den Motor und suchte sich eine Anlegestelle.

Rieder sprang aus dem Boot und machte es fest. Er war sehr stolz, dass er von Malte die richtigen Knoten gelernt hatte und auch immer noch beherrschte. Heute bekam er dafür von seinem Nachbarn kein Lob. Schweigend und sehr vorsichtig nahm Malte seine Tasche unter dem Heck hervor.

„Soll ich dich mit dem Auto mitnehmen?“

Malte schüttelte den Kopf. Er zog sein Ölzeug aus. Zum Vorschein kamen eine dunkle Jacke und eine schwarze Hose. Zwar nicht mehr der neueste Schick, aber für Maltes Verhältnisse geradezu modern. Dazu trug er ein weißes Hemd und einen Westover. Rieder staunte.

„Was hast du denn vor?“

„Geht dich nichts an.“

Ohne Abschiedsgruß stapfte er in Richtung Bushaltestelle davon.

Rieder hatte erst vor kurzem sein Auto aus Berlin nach Rügen geholt. Er war der Überzeugung gewesen, wer auf einer autofreien Insel lebt, braucht auch sonst kein Auto. Dann kamen zwei Dinge zusammen, die ihn vom Gegenteil überzeugten. Zum einen hatte er nach einem halben Jahr auf der Insel deutliche Entzugserscheinungen vom Stadtleben. Zwar gab es auf der Insel einen Supermarkt, Kleidungsgeschäfte und sogar zwei Buchläden. Doch das Angebot in den Läden war überschaubar und wechselte selten. Zum anderen musste Rieder feststellen, dass die Fähren nur im Sommer von Hiddensee nach Stralsund fuhren. In den anderen Monaten war es ein Marathon, um von Hiddensee über Rügen nach Stralsund mit Schiff, Bus und Bahn zu kommen. Damit war Rieders Vorsatz vom autofreien Leben dahingeschmolzen.

Er hatte sein Auto wieder flottgemacht und nach Schaprode geholt. Nun stand es auf einem Parkplatz in der Nähe der Dorfkirche. Der Parkplatzwächter, Klaus Möbius, war ein echter Rüganer. Er machte sein Geschäft mit den Hiddensee-Touristen, war selbst schon zwanzig Jahre nicht mehr auf der Nachbarinsel gewesen.

„Was soll ich da? Den Leuchtturm sehe ich auch von hier.“

Außerdem hätte er den ganzen Tag zu tun. Von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends stand er bereit, um auf seiner Wiese hinterm Haus Stellplätze anzuweisen, beim Aus- und Einparken zu helfen und die zwei Euro Parkgebühr pro Tag zu kassieren. Ankunfts- und Abreisetag inklusive, egal wie spät man auch kam oder wie früh man abreiste. Möbius lag mit seinem Preis um einen Euro unter dem Tarif des offiziellen Inselparkplatzes. So musste er sich keine Sorgen machen, dass ein Stellplatz leer blieb. Der Mann mit dem alten Regenhut und dem quietschgelben Ostfriesennerz hatte noch eine andere Eigenschaft. Er konnte präziser als die Inselmeteorologen das Wetter für Hiddensee voraussagen. Es stimmte immer. Lag dicker Nebel über dem Bodden und Möbius prognostizierte, in zwei Stunden würde über Hiddensee die Sonne scheinen, dann schien sie auch in zwei Stunden. Kam man bei strahlendem Sonnenschein in Schaprode an und Möbius empfahl, den Regenschirm nicht zu vergessen, dann regnete es auch, wenn man in Vitte oder Kloster von Bord der Fähre ging. Er konnte sich selbst nicht erklären, wie er diese Fähigkeit erworben hatte. Jahrzehntelanges Beobachten als Ursache stritt er ab.

„Ich habe gar keine Zeit, ständig aufs Thermometer und in den Himmel zu starren.“

Trotz seiner kultivierten Abstinenz zu Hiddensee wusste er erstaunlich viel über die Insel und was sich dort tat. So hatte er Rieder, als er sein Auto dort das erste Mal abgestellt hatte, gleich mit „Herr Kommissar“ angeredet, obwohl sie sich vorher noch nie gesehen hatten.

Heute saß Möbius in seinem kleinen Kabuff, als Rieder ankam. Er kam sofort heraus. „Na, Herr Kommissar, haben Sie schon den Mörder vom Baufritzen gefasst? Ist es wirklich die Dora Ekkehard gewesen?“

„Ich weiß es nicht.“

Möbius schaute verdutzt: „Aber Sie haben sie doch verhaftet?“

„Momentan sieht es von der Indizienkette her so aus. Aber sicher ist das noch nicht.“

„Ach so.“

Möbius begleitete Rieder zu seinem alten Renault, der gleich hinter dem Einfahrtstor stand.

„Steins Karre steht ja noch hier. Hat sich noch keiner drum gekümmert. Nicht mal die Ulrike.“

Daran hatte Rieder gar nicht gedacht. Stein hatte natürlich ein Auto besessen.

„Wo steht es denn?“

„Gleich hier vorn am Haus. War doch wie Sie ein Dauerparker.“

Möbius hatte auf seinem Parkplatz eine klare Hierarchie. Wer zum ersten Mal kam, dessen Auto landete unter einem Schlafbaum der Vögel. Wenn er sein Auto wieder abholte, war es von oben bis unten mit Vogelkot bedeckt. Wer trotzdem bei der Stange blieb und wiederkam, dessen Treue wurde belohnt. Beim nächsten Aufenthalt rückte er langsam vom Schlafbaum weg, zunächst in die hinteren Reihen. Da blieb zwar das Auto sauber, dafür war der Weg dahin übersät mit Schlaglöchern. Außerdem standen dort die Autos enger, so dass es ein ewiges Kurbeln und Manövrieren war, bis man in oder aus den Parklücken kam. Wer zu Möbius’ Stammgästen oder Dauerparkern gehörte, bekam direkt an der Einfahrt seinen Stellplatz, bequem zum Einparken und zum Ein- und Aussteigen. Dahin hatten es Stein und Rieder geschafft.

Rieder ging um das Auto herum. Es handelte sich um einen grünen Landrover. Von außen konnte er innen nichts erkennen durch die getönten Scheiben.

„Ich habe sonst auch noch den Schlüssel“, erklärte Möbius.

Damit war klar, Stein hatte zur Extraklasse unter Möbius’ Kunden gehört. Kamen sie nach Geschäftsschluss, stellten sie ihr Auto vor dem Tor ab und warfen den Schlüssel, falls Möbius nicht über den Ersatzschlüssel bereits verfügte, in den Briefkasten. Möbius kümmerte sich dann um den Rest.

„Kann ich Steins Autoschlüssel mal bekommen?“, fragte Rieder.

„Ich weiß nicht.“ Möbius nahm den Regenhut ab, kratzte sich den kahlen Schädel und verzog das Gesicht. „Sie sind das Gesetz, Herr Kommissar, aber ob das so mit dem Gesetz übereinstimmt? Braucht man da nicht so etwas wie einen Durchsuchungsbefehl?“

Rieder winkte ab. „Stein können wir nicht mehr fragen. Wer erbt, ist nicht geklärt. Ich denke, wir können uns das erlauben. Und dann sind Sie ja immer noch da als Zeuge.“

Das Auto erwies sich als ziemlicher Reinfall. Stein hatte offenbar sehr auf Ordnung geachtet. Es gab keine Notizzettel oder Unterlagen. Im Handschuhfach lagen nur ein Navigationsgerät und die Bedienungsanleitung für das Auto. Nicht mal ein alter Parkschein war zu finden.

Möbius beobachtete jede Bewegung des Polizisten.

„Man hat dem echt nicht angesehen, dass der was mit Bau zu tun hat. Der war eher etepetete.“

„Ich kannte ihn kaum“, erklärte Rieder, als er aus dem Auto stieg. Er warf die Tür zu und drückte dem Parkplatzwächter wieder den Schlüssel in der Hand. „Es wäre schön, wenn Sie mich informieren können, falls jemand das Auto abholen möchte. Vielleicht muss ich auch noch die Spurensicherung durchjagen.“

Möbius tippte mit der Hand an den Schirm seines Hutes. „Wird gemacht, Chef.“

Rieder ging mit Möbius zu seinem Auto. „Ich hoffe, ich bin rechtzeitig wieder zurück.“

„Wenn nicht, parken Sie vor dem Tor und werfen den Schlüssel in den Briefkasten. Ich parke ihn dann.“

Rieder war stolz auf, in die höchste Stufe der Parkplatzhierarchie aufgestiegen zu sein.

„Da fällt mir was ein, was ich immer ein bisschen komisch fand“, meinte Möbius, als Rieder in sein Auto einstieg. „Manchmal holte Herr Stein das Auto, fuhr raus, hinter die Kirche, und da stieg dann eine Frau ein.“

Rieder horchte auf. „Eine Frau? Steins Frau?“

„Die Ulrike? Die hat ihre Kiste doch auch hier stehen, gleich neben Steins Karre. Ist auch so geblieben, nachdem die nicht mehr miteinander waren. Nee, die Ulrike war’s nicht. Es war ’ne andere. Das war komisch – solange sie in Sichtweite des Hafens waren, verhielten sie sich wie Fremde, als würden sie sich nicht kennen.“

„Sie kamen von der Fähre? Also kam die Frau auch von Hiddensee?“

„Ich denke schon.“

„Kannten Sie sie?“

Möbius schüttelte den Kopf. „Also, die gehörte nicht zu meinen Kunden. Ich schätze, sie hatte ihr Auto unten am Hafen. Von da kam sie ab und zu gefahren, wenn sie ohne Stein unterwegs war. Mancher hat’s ja dicke und ist unbelehrbar. Aber war ’ne Schicke. Vielleicht ein bisschen jung für Stein. Obwohl ...“, Möbius nahm den Regenhut ab und kratzte seine Glatze, „taufrisch war die auch nicht mehr. Nicht aufgedonnert, aber schick.“

„Könnten Sie die Frau beschreiben?“

Möbius verzog wieder das Gesicht. „Da bin ich nicht so gut. Ich wollte nun auch nicht auf der Straße stehen und glotzen. Sie verstehen schon, Herr Kommissar. Diskretion ist mein Geschäft. Das Einzige, was mir aufgefallen ist: sie hatte rote Haare.“