Das Krankenhaus in Bergen war vor wenigen Jahren neu gebaut worden. Ein moderner, kühler Zweckbau. Rieder überkam immer ein mulmiges Gefühl beim Betreten von Krankenhäusern. Selbst wenn es nur dienstlich war.
Er ging zum Informationsstand. Die Empfangsfrau lächelte freundlich, bis er seinen Dienstausweis aus der Tasche zog. Sie schreckte zurück.
„Polizei! Wo finde ich die Patientin Karin Knoop?“
„Ich schaue sofort nach“, antwortete die Frau ängstlich.
Während sie ihren Computer bearbeitete, tippte Rieder jemand auf die Schulter. Er fuhr herum.
„Sie sind also Hauptkommissar Rieder?“
Eine junge Frau stand vor ihm und lächelte ihn an. Er schätzte sie auf Ende zwanzig, höchstens Anfang dreißig. Ihre braunen Haare kräuselten sich zu kleinen Löckchen und wippten im Takt, wenn sie sprach. Sie war schlank und wirkte sportlich in dem grauen Kapuzenshirt und der engen Jeans. Unter dem Arm trug sie einen Laptop.
Rieder war so überrascht, dass er nur mit dem Kopf nicken konnte.
„Ich bin Polizeikommissarin Nelly Blohm. Wir haben telefoniert.“ Sie reichte ihm die Hand. Er ergriff sie und spürte ihre zarte, sanfte Haut.
„Alles klar“, erklärte Nelly Blohm der Empfangsfrau, „ich übernehme das hier.“
„Lassen Sie uns kurz in den Warteraum gehen“, wandte sie sich wieder an Rieder, „damit ich Sie über den Stand der Dinge informieren kann.“
Am frühen Vormittag war der Raum leer. Ein Schild verkündete, dass Krankenbesuche erst am Nachmittag gestattet seien. Sie setzten sich auf zwei weiße Plastikstühle.
„Frau Knoop wird noch operiert. Sobald der Eingriff vorbei ist, können wir mit dem Stationsarzt reden.“ „Wie ist ihr Zustand?“, fragte Rieder.
„Schlecht, aber wohl nicht lebensbedrohlich. Rippen sind gebrochen, die Nase; mehrere Wunden im Gesicht müssen genäht werden. Sicher nicht schön für eine Frau. Die Operation soll eine innere Blutung stillen. Mehr konnten die Ärzte bisher nicht sagen.“
„Haben Sie schon was von der Spurensicherung gehört? Bökemüller wollte Behm mit seinem Team nach Seedorf schicken.“
Nelly Blohm verneinte.
„Gibt es Zeugen für den Überfall?“
„Für den Überfall wohl nicht, dafür aber für das Auffinden. Leider nur Kinder.“ Nelly Blohm zog die Augenbrauen nach oben. „Da steht uns noch einiger Ärger in Seedorf bevor. Die Eltern laufen Amok. Einer hat den Landrat eingeschaltet.“
„Konnten Sie die Kinder befragen?“
„Bisher nicht. Bökemüller würde auch darauf gern verzichten, um die Kinder nicht weiter zu beunruhigen.“
Rieder verstand zwar seinen Chef, empfand das aber als Behinderung der Ermittlungen.
„Wenn wir mit dem Arzt gesprochen haben, sollten wir noch mal nach Seedorf fahren.“
Ein Arzt betrat das Wartezimmer. Er zog sich seine weiße Kappe vom Kopf. Seine Gesichtszüge wirkten abgespannt. Unterm Arm trug er einen weißen Plastiksack.
„Dr. Frank Steinmüller, Stationsarzt“, stellte er sich vor. „Die Operation hat Frau Knoop erstmal überstanden. Die Blutung ist gestillt. Es waren keine lebenswichtigen Organe betroffen. Wir haben sie jetzt in ein künstliches Koma versetzt. Die beste Möglichkeit, um sie zu stabilisieren. Von Heilungsprozess will ich noch gar nicht sprechen.“
„Können Sie schon absehen, wann Sie Frau Knoop aus dem künstlichen Koma zurückholen?“
„Ich weiß es nicht“, meinte Steinmüller. „Ich kann Ihr Anliegen verstehen, und Sie haben dabei auch meine Unterstützung, so weit ich sie aus medizinischer Sicht und mit Blick auf das Wohl des Patienten gewähren kann, aber momentan möchte ich mich mit Prognosen zurückhalten.“
Trotzdem wagte Rieder noch einen Vorstoß. „Meinen Sie, es gibt Spuren, die wir an ihr sicherstellen könnten?“
„Für uns stand und steht im Vordergrund, ihr Leben zu retten und nicht, sie zu sezieren. Eine Vergewaltigung kann ich ausschließen. Sie hatten ja auf derartiges DNA-Material gehofft, Frau Blohm. An ihren Fingernägeln gab es keine Spuren von Hautresten. Wir haben nur einige Stofffasern bei der Säuberung der Wunden im Gesicht gesichert.“ Er reichte den Plastikbeutel Nelly Blohm. „Hier ist die Kleidung von Frau Knoop, um die Sie gebeten hatten.“
Rieder wollte etwas einwenden, aber Steinmüller kam ihm zuvor. „Um gleich weitere Diskussionen auszuschließen: Sie brauchen keinen Ihrer Kollegen vorbeizuschicken, um an der Patientin herumzukratzen oder mit ihr sonst was zu veranstalten. Frau Knoop ist meine Patientin. Ich informiere Sie, wenn sie ansprechbar ist.“ Damit drehte er sich um und verschwand ohne Verabschiedung.
„Klare Ansagen haben auch ihre Vorteile“, kommentierte Rieder den Abgang. „Auch wenn das alles schlimm ist, wenigstens keine Vergewaltigung“, stellte er sachlich fest.
„Jetzt denken Sie bestimmt: typisch Frau“, entgegnete Nelly Blohm schnippisch. „Ich hatte meine Gründe, von einer Vergewaltigung auszugehen.“
„Darf ich die erfahren?“
Nelly Blohm klappte den Laptop auf. Sie startete das Programm für das Internet und tippte eine Webadresse ein. Rieder versuchte sie zu entziffern: www.kuestenschwalben.de.
Die Seite öffnete sich. Die Bilder, Signets und der Text sprachen eine klare Sprache. Es handelte sich um einen Escortservice. Nelly Blohm klickte auf einen Button mit der Aufschrift „Wir über uns“. Die schwarz-weißen Porträts von sechs Frauen erschienen auf dem Bildschirm. Darunter standen statt Namen die Bezeichnungen „Küstenschwalbe Nr. 1“ bis „Nr. 6“. Sie bewegte den Cursor auf das Bild einer Frau mit der Bildunterschrift „Küstenschwalbe Nr. 4“.
„Das ist Karin Knoop. Sie ist für uns keine Unbekannte.“
Rieder erkannte Karin Knoop. Er hatte sie öfter in Vitte gesehen, wenn sie in ihrem Garten Gäste bedient hatte. Er selbst war nie dort gewesen und hatte auch noch nie mit Karin Knoop gesprochen.
„Frau Knoop ist also eine Prostituierte? Ich kannte sie bisher nur als Imbissbesitzerin. Woher wussten Sie das mit der Internetseite?“
„Wir haben diese ‚Küstenschwalben‘“, Nelly Blohm betonte das Wort etwas ironisch, „schon länger im Blick. Wir wollen einfach nicht, dass sich eine Rotlichtszene auf Rügen im Umfeld der Hotels entwickelt. Aber nach unserer Einschätzung waren die sechs Schwalben eher harmlos. Keine Zuhälter, keine illegalen Bordelle. Sie arbeiten nur in Hotels oder Apartmentanlagen in der Bäderecke, also in Binz, Sellin, Baabe und Göhren. Manchmal noch in Sassnitz.“
Nelly Blohm klickte dabei auf das Bild von Karin Knoop, und ihre persönliche Homepage öffnete sich. Sie zeigte ein paar bunte Bilder von Karin Knoop in eindeutigerer Kleidung und in eindeutigeren Posen. Es war klar, dass der Service von Karin Knoop nicht mit dem Bezahlen ihrer Rechnung im Restaurant oder an der Bar enden würde. Über eine E-Mail-Adresse, kuestenschwalbe4@ruegen. de, konnte man mit ihr Kontakt aufnehmen. Eine Telefonnummer gab es nicht. Rieder stutzte trotzdem. Jetzt auf den Bildern sah er es deutlich. Karin Knoop hatte rote Haare!
Peter Stein würde sich wohl auch nicht mit einer Nutte abgeben und dann noch mit einer, die von Hiddensee kam. Soweit wollte er besser nicht denken.
„Wir müssten versuchen, ihren Mailverkehr zu knacken. Wahrscheinlich ist ihr Freier ausgetickt. Ich werde mal die Spurensicherung in Stralsund anrufen und den Hiddenseer Revierleiter Damp bitten, den Computer von Frau Knoop sicherzustellen. Vielleicht hat ein Nachbar oder eine Nachbarin einen Schlüssel von ihrem Haus. Manchmal liegt er auch einfach nur unterm Abtreter.“ Rieder holte sein Telefon hervor.
Die Polizistin winkte ab. „Das können Sie sich sparen. Es würde Tage dauern, bis wir von Behm ein Ergebnis bekommen.“ Dann tippte sie wieder auf der Tastatur ihres Laptops herum und drehte dann den Bildschirm zu Rieder. „Ich habe mich schon mal in das Netz der ‚Küstenschwalben‘ gehackt.“ Rieder war verblüfft.
„Sie hat sich gestern per Mail verabredet. Leider konnte ich noch nicht entschlüsseln, wer hinter der Mailadresse ihres Freiers steckt. Die beiden haben sich in einer Ferienwohnung in Binz für zwanzig Uhr verabredet. Den Schlüssel sollte sie von der Rezeption im Kurhaus bekommen. Sie wurde für die ganze Nacht gebucht. Preis 350 Euro. Angeblich war ihr Kunde Anfang fünfzig und wollte sich mit ihr nicht in seinem Hotel treffen. Sie hat das Arrangement vorgeschlagen und wollte alles organisieren.“ Nicht ohne einen gewissen Stolz schaute sie Rieder an.
„Chapeau! Das nenne ich mal Polizeiarbeit“, lobte er die junge Kollegin. „Woher können Sie das? So ganz legal ist das nicht.“
„Ich habe mich schon immer für Computer interessiert. Zwangsläufig. Sonst wurde man doch von den Jungen hier oben auf der Insel nicht ernst genommen. Die haben mir auch gezeigt, wie man Netzwerke knackt und wie man an Daten herankommt. Ganz praktisch heute, wenn der Dienstweg zu lange dauert.“
Damit klappte sie ihren Laptop zu.
„Ich würde vorschlagen, wir fahren nicht nur nach Seedorf, sondern auch zum Kurhaus in Binz. Vielleicht finden wir da schon unsern Mann.“
„Ich würde aber vorher gern im Revier Bergen vorbeifahren und nach Dora Ekkehard schauen.“
„Der Kinofrau?“
Rieder nickte. „Ich mache mir etwas Sorgen um sie.“
„Brauchen Sie nicht. Als ich vorhin angerufen habe, hatte sie gerade Besuch bekommen.“