XXXIV

Charlotte Dobbert und Stefan Rieder lagen im Bett. Sie blätterte in Urlaubskatalogen. Er las in Steins Akten über die, Ostseetherme‘.

„Wie ein altes Ehepaar“, meinte Charlotte, ohne aufzusehen.

Rieder schaute sie an: „Tut mir leid. Ich muss das hier noch durcharbeiten. Ich weiß nicht, wie lange ich die Unterlagen noch behalten kann.“

„Total interessant.“

Nachdem wieder einige Zeit vergangen war, warf sie einen der Kataloge aufgeschlagen auf die Seite, die Rieder gerade las. Dazu beugte sie sich zu ihm herüber. Er konnte ihr Parfüm riechen. Kurz schloss er die Augen. Als er sie wieder aufmachte, sah er noch mehr. Charlottes Nachthemd hatte einen tiefen Ausschnitt. Zwei Herzen kämpften in seiner Brust. Er bekam Lust, mit ihr zu schlafen. Aber in seinem Kopf plagte ihn der Gedanke, wie es mit Charlotte und ihm weitergehen sollte. Dieser innere Widerstreit drosselte wiederum seine Lust.

„Wie findest du diese Finca?“, riss sie ihn aus seinen Gedanken. Sie hielt ihm einen Prospekt vor die Nase. „Es ist eine alte Fabrik und liegt mitten in Soller auf Mallorca. Aber von der Dachterrasse soll man das Meer sehen können. Dort könnten wir doch gut überwintern.“ Sie drückte ihre Brüste gegen ihren Körper. Er spürte auf seiner Haut ihren Atem, wenn sie sprach. Mit einer Hand strich sie über seinen Bauch. Langsam wanderte sie tiefer.

„Willst du denn den ganzen Winter auf Mallorca bleiben?“

Die Hand stoppte. Sie drehte ihm ihr Gesicht zu und schüttelte dabei eine ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht. „Warum nicht? Hier gibt es nur Grau-in-Grau.“

„Und das Weihnachtsgeschäft?“

Sie kuschelte sich noch enger an ihn.

„Ach, das ist doch egal. Die paar Tage machen den Braten nicht fett. Außerdem müsste ich mir eine völlig neue Besatzung für die Tage suchen, weil sich die anderen arbeitslos melden bis zum Frühjahr und sich dann sicher nicht für eine Woche abmelden.“

Sie küssten sich. Die Akten und der Katalog rutschten zur Seite, als sich Rieder zu ihr drehte und sie fest in den Arm nahm. Er strich ihr die Haare zurück und streichelte ihr den Hals, schob ihr das Nachthemd von den Schultern.

Charlotte schien den Augenblick für günstig zu halten, um das Eisen zu schmieden. „Du bist doch Beamter. Da kannst du doch bestimmt unbezahlten Urlaub nehmen.“

Rieder erstarrte. Er ließ sie los und warf sich auf den Rücken. „Müssen wir das jetzt debattieren?“, fragte er genervt.

„Wann sonst? In drei Wochen mache ich dicht.“

Rieder hatte immer noch geglaubt, Charlotte würde mit ihren Schließungs- und Urlaubsplänen nicht ernst machen. Aber als er am Abend ins Strandcafé gekommen war, waren auf der Karte bereits mehrere Gerichte gestrichen.

„Ich kaufe doch nicht neues Zeug, wenn ich schließe. Konserven kann ich bis zum Frühjahr halten, aber der Fisch wird nicht besser in der Kühltruhe“, hatte sie geantwortet, als er festgestellt hatte, dass es sein geliebtes Zanderfilet mit Bratkartoffeln in Senfsauce nicht mehr gab. Gleiches galt für den gebratenen Dorsch auf Blattspinat.

„Ich habe dafür jetzt nicht den Kopf frei“, versuchte sich Rieder aus der Affäre zu ziehen. „Die beiden Fälle sind ziemlich anstrengend.“

„Ich denke, du bist nur für die Geschichte mit Karin Knoop zuständig?“, widersprach sie ihm.

„Ja, aber ...“

„Was, ja, aber‘?“ Sie stützte sich seitlich auf ihren Ellenbogen. „Du musst nur mal mit Bökemüller reden. Hier gibt’s im Winter für dich nichts zu tun. Die Zahl der Urlauber kannst du zwischen Ende Oktober und Ostern an einer Hand abzählen, Weihnachten und Silvester mal ausgenommen. Da wird doch möglich sein, dass Du wegfahren kannst. Da gibt es bestimmt ein Formular, und zack“, sie schlug auf die Bettdecke, „hast du deinen Urlaub. Muss ja nicht bis Ostern sein. Sagen wir: drei Monate. Von Mitte November bis Mitte Februar.“

Rieder rieb sich mit den Händen über das Gesicht. „So einfach ist das nicht“, antwortete er, obwohl er wusste, dass es so einfach war. Einfach war es nur nicht, sich klarzuwerden, ob er mit Charlotte drei Monate auf Mallorca verbringen wollte und damit aus ihrer Affäre eine Beziehung werden könnte. Mit allen Konsequenzen. Charlotte sah ihn immer noch an. „Was ist so schlimm daran, zusammen länger in Urlaub zu fahren? Ist doch mal gut, alles hinter sich zu lassen?“

Da klirrte eine Scheibe. Sie schreckten hoch, sahen sich an. Charlotte zog ihre Bettdecke über ihren Körper. „Was war das?“, fragte sie ängstlich. Rieder versuchte, weitere Geräusche zu lokalisieren. Es blieb still. Er beugte sich nach vorn und robbte über das Bett in die Nähe der Zimmertür. Nichts! Er stand auf und lauschte an der Tür. War das ein Rascheln in der unteren Etage? War noch im Haus?

„Sind die Ferienwohnungen belegt?“

Charlotte schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie hatte sich auf dem Bett zusammen gekauert. „Wir sind allein im Haus“, flüsterte sie leise.

„Ich geh’ mal runter und sehe nach.“ Er zog sich schnell an, schlüpfte in seine Schuhe, holte seine Pistole aus dem Nachttisch. Er entsicherte die Waffe. Charlotte wollte aufschreien, doch Rieder legte ihr seine Hand über den Mund. Er löschte die Lampen am Bett, ging auf Zehenspitzen zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Charlotte ließ sich aus dem Bett gleiten und verkroch sich mit ihrer Decke in eine Zimmerecke.

Charlottes Wohnung befand sich in der ersten Etage des Apartmenthauses des Strandcafés. Die beiden Ferienwohnungen waren im Erdgeschoss. Von dort war auch das Klirren der Scheibe gekommen. Rieder versuchte, sich zu beruhigen. Er hoffte, nicht wieder in die gleiche Situation wie in Steins Haus zu kommen, als er beinahe dessen Bruder erschossen hatte. Er schloss die Tür hinter sich und tappte im Flur bis zur Treppe. Im Haus war es totenstill. Draußen aber jaulte der Wind. Stufe für Stufe schlich er nach unten. Vielleicht hätte er Damp anrufen sollen. Der wohnte um die Ecke. Als er seinen Fuß von der letzten Stufe auf den Boden setzte, knirschten Glassplitter unter der Sohle. Ein Stein lag mitten im Raum. Jemand hatte die Scheibe eingeworfen. Rieder schaltete die Außenbeleuchtung an. Er erschrak um ein Haar zu Tode. Eine dunkle Gestalt mit einer weißen Maske schaute durch das zerbrochene Fenster herein. Dann rannte der Unbekannte weg, nach rechts, zum Café. Rieder schüttelte sich, riss die Verbindungstür zum Gastraum auf. Er rannte am Tresen vorbei, schlängelte sich durch die Tische und Stühle. Er sah den Umriss der Person an der Eingangstür. Sie schaute hinein. Als sie Rieder erblickte, verschwand sie wieder. Rieder rüttelte an der Tür, obwohl er wusste, dass sie abgeschlossen war. Da hörte er in seinem Rücken ein Klappen. Er stürmte zurück in den Hausflur. Das war die Gestalt wieder. Sie hatte durch die zerbrochene Scheibe einen Fensterflügel geöffnet und nun die Hände auf das Fensterbrett gelegt, um hereinzuklettern. Doch als Rieder auftauchte, ließ sie davon ab. Rieder trat vorsichtig ans Fenster. Der Eindringling stand davor. Rieder schaute in die dunklen Augenschlitze der Maske. Dann ergriff der Unbekannte die Flucht.

Rieder drehte den Schlüssel in der Haustür. Das Schloss klemmte ein wenig. So verlor er unnötig Zeit. Als er endlich draußen war, sah er nur noch einen schwarzen Schatten. Trotzdem rannte er mit der Waffe in der Hand hinterher. Er lief durch die Dunkelheit. An der Kreuzung der Freiwilligen Feuerwehr blieb er atemlos stehen. Er hatte den anderen aus den Augen verloren. Der Wind kühlte sofort seinen erhitzten Körper. Rieder drehte sich um sich selbst. Aber nirgends war etwas zu entdecken. Irgendwo in der Ferne klapperte etwas. Vielleicht das Schutzblech eines Fahrrads. Vom Hafen hörte er leises Plätschern, wahrscheinlich das Anschlagen des Wassers an der Kaimauer. Es war windig, unruhige See. Da durchzuckte es ihn. War es eine Falle? Hatte ihn der Unbekannte nur aus dem Haus locken wollen. Er hatte hinter sich die Tür offengelassen! Charlotte war ohne Schutz! Er drehte sich um und rannte wieder zurück.

„Charlotte“, rief er als er atemlos in das Haus hetzte.

Oben brannte Licht im Schlafzimmer. Er rannte die Treppe hoch, riss die Tür auf. Charlotte stand vor dem geöffneten Schrank, riss Sachen aus den Fächern und stopfte sie hektisch in eine Tasche. Sie drehte sich erschrocken herum, als er sie an der Schulter berührte. Tränen rannen ihr übers Gesicht. „Lass mich in Ruhe. Ich will hier nur weg!“