Obwohl es kalt und diesig war, hatte sich Rieder auf das Sonnendeck der Fähre nach Schaprode gesetzt. Über ihn zogen Schwärme von Zugvögeln hinweg. Sie landeten auf dem Bodden oder den Sandbänken rund um den Alten und Neuen Bessin, die beiden Landzungen im Norden von Hiddensee. Wahrscheinlich boten der angeschwemmte Seetang und die Algen eine gute Nahrungsgrundlage, bevor die Vögel ihre Reise in Richtung Süden fortsetzten.
Er brauchte dringend frische Luft nach dem Wutausbruch seines Chefs. Bökemüller hatte Rieder Arbeitsverweigerung vorgeworfen. Statt auf Rügen im Fall „Knoop“ zu ermitteln, würde er sich entgegen seiner Anordnung weiter auf Hiddensee rumtreiben.
Rieders Einwand, dass der Mord an Stein und der Überfall auf Karin Knoop zusammengehören könnten, denn immerhin hatte die Frau den Bauunternehmer per SMS an seinen Todesort gelockt, hatte Bökemüller nicht gelten lassen. Die Sache mit dem versuchten Einbruch bei Charlotte Dobbert war für Bökemüller nur ein dummer Jungenstreich und hatte für ihn nicht mit einem der beiden Fälle zu tun. „Papperlapapp, Rieder, da wollte jemand Ihrer Freundin einen Schrecken einjagen. Weiße Masken, dunkle Gestalten ... Kümmern Sie sich erstmal um die Angelegenheit mit der Knoop und konstruieren Sie dabei nicht Verschwörungstheorien, auch wenn die Frau mit dem Stein in der Kiste war. Ich bin in einer Stunde in Bergen. Da will ich von Ihnen einen detaillierten Bericht über den Fall ‚Knoop‘. Ende der Durchsage.“ Damit hatte Bökemüller aufgelegt.
Bökemüllers Ankündigung, auf dem Revier Bergen zu erscheinen, hatte die Beamten in hektische Betriebsamkeit versetzt – alle wirbelten herum.
„Ach, der Herr Hauptkommissar gibt sich auch schon die Ehre“, begrüßte der Revierleiter Rieder süffisant und widmete sich dann wieder den Vorbereitungen für den Besuch des Polizeidirektors.
Schreibtische wurden aufgeräumt. Eine Polizistin sammelte alle schmutzigen Kaffeetassen und leeren Pizzakartons ein. In der Anmeldung wurden die Fahndungsplakate aufgehängt, die bisher in einer Ecke verstaubt waren. „Sind die Fälle eigentlich noch aktuell?“, fragte ein Beamter den Revierleiter. „Quatsch nicht, mach einfach“, wies ihn sein Chef barsch zurecht. „Sind denn endlich die Streifenwagen aus der Waschstraße zurück?“, rief er über den Flur. Aus der Einsatzzentrale schaute der Schichtleiter des Reviers und zuckte mit den Achseln. „Anfunken. Lage klären. Die sollen bloß nicht bummeln!“, wies der Vorgesetzte an.
Knapp eine Minute später meldete der Beamte beflissen: „Sind alle auf dem Rückweg zum Revier.“
„Sind die verrückt?“, wurde er daraufhin von seinem Vorgesetzten angebrüllt. „Nur einer kommt zurück. Die anderen fahren auf Streife. Jeder in eine andere Richtung. Rügen vier und sechs nach Mönchgut. Rügen drei hierher. Rügen fünf nach Sassnitz.“
„Rügen fünf ist aber kaputt“, wandte ein anderer Beamter vorsichtig ein.
„Na und!“ wurde er angeschnauzt. „Rügen fünf muss vom Revierparkplatz verschwinden. Verstanden!“ Der Polizist rannte los.
Nur das Büro von Nelly Blohm schien eine Oase der Ruhe zu sein. Rieder setzte sich auf den Besucherstuhl. „Ihre Kollegen sind ganz schön aus dem Häuschen.“
Sie grinste. „Wenn Bökemüller auf Inspektion kommt, brennt hier immer die Hütte.“
„Aber Sie stört das weniger“, bemerkte Rieder.
„Mein Büro ist sauber und mein Gewissen rein“, meinte sie. Dann beugte sie sich zu Rieder vor. „Aber wie sieht es mit Ihrem Gewissen aus?“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, entgegnete Rieder.
Statt einer Antwort schaute sie auffällig auf ihre Armbanduhr. „Schon ziemlich spät, oder?“
Das ärgerte Rieder. „Sie sollten sich vielleicht nicht so weit raushängen. Gestern Nachmittag haben Sie sich auch ziemlich schnell vom Acker gemacht, obwohl vielleicht das ein oder andere noch zu tun gewesen wäre.“
Das Lächeln verschwand aus Nellys Gesicht.
„Vielleicht sollten wir uns einfach mal gegenseitig auf den aktuellen Stand der Dinge bringen, damit wir gegenüber Bökemüller nicht alt aussehen“, schlug Rieder vor.
„Ich frage mich, wer dann alt aussieht“, flüsterte seine Kollegin fast unhörbar.
„Wie bitte?“, fragte Rieder.
„Ach, nichts.“ Nelly Blohm zog einen Aktenordner heran und schlug ihn auf. „Das Krankenhaus hat angerufen. Wir können Karin Knoop vielleicht heute Nachmittag schon vernehmen“, berichtete sie.
Rieder erzählte ihr vom Einbruch in Karin Knoops Haus und dass sie Stein mit einer SMS an den Ort gelockt habe, an dem er erschlagen worden war. Karin Knoop sei so für ihn, trotz des Überfalls, an erster Stelle der Tatverdächtigen für den Mord an Peter Stein. Nelly Blohm war davon nicht überzeugt. „Wie soll diese schlanke, kleine Frau einen Mann wie Peter Stein mit einem einzigen Schlag kampfunfähig machen. Dazu noch mit einem schweren Holzpaddel?“, entgegnete sie, immer noch trotzig.
Rieder konnte ihre Zweifel an Knoops Schuld auch nicht damit zerstreuen, dass sie zu den erbitterten Gegnern von Steins „Projekt Norderende“ auf der Insel gehört hatte. „Ich glaube nicht, dass beide Fälle zusammengehören, Herr Kollege. Das ist mir zuviel Verschwörungstheorie.“
„Oder zuviel Frauensolidarität“, konterte er trocken.
Dann berichtete er ihr noch von dem versuchten Einbruch in das Haus von seiner Freundin. Doch auch Nelly Blohm wollte da keinen Zusammenhang erkennen. Sie nahm aus der Ermittlungsakte einen Umschlag. „Hier sind übrigens die Fotos der Radarkamera.“
Rieder streckte die Hand nach dem Umschlag aus, aber Nelly Blohm behielt ihn. „Das ist hier mein Revier!“
Sie packte die Fotos von der Radarfalle in Lancken-Granitz aus. Rieder trat hinter seine Kollegin. Trotz seines Ärgers über Nelly Blohm bemerkte er, dass sie heute sehr weiblich gekleidet war. Sie trug kniehohe Stiefel mit praktischen flachen Sohlen, dazu eine schwarze Strumpfhose und einen ziemlich kurzen engen Minirock. Die karierte Bluse war auf Taille geschnitten. Den Kragen hatte Nelly Blohm hochgeschlagen. Darüber fiel ihr lockiges Haar. Ihr blieb sein taxierender Blick nicht verborgen.
„Genug gesehen?“, fragte sie schnippisch. Rieder erschrak. „Ich war in Gedanken ...“ stotterte er.
„Das habe ich gesehen“, antwortete sie mit gespielter Empörung.
In dem Umschlag befanden sich ungefähr fünfzig Bilder von Autofahrern, die in die Radarfalle gegangen waren. Einige blickten erschrocken. Andere waren völlig auf das Fahren konzentriert und schienen den Blitzer gar nicht bemerkt zu haben. In der Nacht des Überfalls auf Karin Knoop war zunächst gegen 23 Uhr eine Frau in die Falle gefahren. Rieder schüttelte den Kopf. Dann folgte ein Pärchen. Die Bilder waren noch nicht für den Bußgeldbescheid bearbeitet worden. Die angegebene Zeit, ein Uhr fünfzehn, passte eigentlich nicht zu der Aussage der Zeugen von dem Boot in Seedorf. Nelly Blohm sah zu Rieder hinauf. Er war unschlüssig.
„Die Leute sprachen nur von einer Person ...“, gab sie zu bedenken.
„ ... und es ist fast zwei Stunden zu früh“, ergänzte Rieder. „Von Lancken-Granitz bis zum Hafen Seedorf braucht man höchstens zehn Minuten.“
Sie legte das Foto zur Seite. Rieder schreckte richtig zurück, als er das nächste Bild sah. Auch Nelly Blohm erstarrte. Statt eines Gesichts, war eine weiße Maske zu sehen, umrahmt vom schwarzen Stoff einer Kapuze. Es war die gleiche Gestalt, die Rieder in der letzten Nacht durch das Fenster des, Strandcafés‘ gesehen hatte.
„Was ist das?“, fragte Nelly Blohm entsetzt.
„Unser Mann ... oder unsere Frau!“