Maltes erste Station auf der Suche nach Durk war die „Fischerklause“, auch wenn er wusste, dass der Bürgermeister da nicht mehr war.
Jetzt zu Mittag war die „Fischerklause“ leer. Der Hiddenseer aß Mittag zuhause, auch wenn die Küche der „Fischerklause“ nicht zu verachten war. Der Wirt stand hinterm Tresen, im Mundwinkel eine Zigarette. Er polierte Gläser.
Malte lehnte sich an den Tresen, klopfte mit den Fingerknöcheln zweimal auf das Holz.
Der Wirt legte das Handtuch zur Seite. Er zapfte ein Bier, stellte es ohne Worte vor Malte hin. Dann goss er noch einen Klaren ein und stellte ihn dazu. Malte prostete ihm zu.
Malte suchte in seinem Gehirn nach einem Gesprächsthema. Er wollte nicht direkt nach Durk fragen. „Hast du noch leere Saftflaschen, auf die du verzichten kannst?“
Der Wirt hatte wieder angefangen, Gläser zu polieren.
„Saftflaschen?“ fragte er, als hätte ihm Malte ein unsittliches Angebot gemacht. „Wer trinkt bei mir Saft? Aber wenn du ein paar olle leere Öken brauchst, die kannste dir aus der Tonne holen.“ Der Wirt wies auf den Hinterausgang.
„Ich kann doch meinen Gästen Sanddornsaft nicht in einer alten Schnapsflasche verkaufen. Die Ernte war wirklich gut, aber ich habe zu wenige Flaschen, um den Saft abzufüllen.
„Wer trinkt denn Sanddornsaft? Der ist doch sauer wie Essig.“ Der Wirt verzog wieder das Gesicht.
„Ich rede denen immer ein, dass der Saft supergesund ist. Vitamin C und so. Reines Naturprodukt. Bio. Verstehste? Das geht weg wie warme Semmeln. Manche schleppen noch andere Touris an. Für drei Euro ’ne Flasche, da kommt schon was zusammen.“
„Drei Euro?!“, rief der Wirt aus. „Und wieviel Flaschen machst du so?“
„Wenn ich genug hätte, fünfzig Stück.“
Er hörte auf zu polieren. „Hundertfünfzig Euro. Da muss ’ne alte Oma lange für stricken.“
„Aber nicht, wenn sie dran schreibt: ‚Aus Hiddenseer Wolle‘“. Die beiden lachten laut los und prosteten sich grinsend zu.
Der Einstieg war gemacht. „Hier verdient sich doch jeder ’ne goldene Nase. Warum soll ich da nicht auch ein Stück abkriegen?“
„Da haste recht. Wenn man das von Durk hört: Mannomann. Wie die sich da oben die Taschen vollmachen. Aber dem haben sie jetzt auf die Finger gehauen. Der ist weg. Vorhin kam er hier vorbei, hat rumgejammert.“
„Er soll sein Gewehr dabeigehabt haben.“
„Stimmt. Hab’ gleich angerufen, weil er allen und jedem gedroht hat.“
„Da hast du Recht dran getan. Der ist nicht ohne. Ich war dabei, wie der sich mit dem Krenz gekloppt hat.“ Malte lieferte eine ausführliche, etwas ausgeschmückte Beschreibung der Schlägerei als eine Art Vorschuss für ein paar Informationen des Wirtes über Durk.
„Eigentlich hätte ich dem nichts mehr geben sollen“, erklärte der Wirt prompt, „schon allein wegen der Sache mit dem Grundstück am Zeltkino.“ Soweit würde es nie kommen, wussten beide. Geschäft war Geschäft.
„Du hättest den aufhalten sollen“, warf ihm nun Malte vor. „Wenn der nun einen umlegt.“
Der Wirt hielt im Polieren inne: „Aber dafür ist doch der olle Damp zuständig. Nicht ich.“ Er polierte weiter. „Außerdem trifft der Durk keinen mehr. Der hatte schwer Schlagseite, als er hier rausgewankt ist. Würde mich nicht wundern, wenn er irgendwo in der Heide seinen Rausch ausschläft.“
Also wollte Durk wahrscheinlich nach Hause. Sein Haus stand in der Dünenheide, hinter Vitte.
Malte holte ein paar Euromünzen aus der Hosentasche.
„Der Korn geht auf mich“, verkündete der Wirt. Malte zahlte sein Bier und legte noch fünfzig Cent drauf. Mehr wäre auffällig gewesen.
Vor der „Fischerklause“ wartete Damp auf Fittkau. „Dass er da nicht ist, hätte ich dir auch sagen können.“
„Aber die Frage ist ja auch, wohin er gegangen ist“, entgegnete Malte.
„Und?“
Malte zeigte in Richtung Süden: „Wahrscheinlich nach Hause.“
„Danke für die Hilfe“, erklärte Damp und wandte sich um, um zu seinem Polizeiwagen zu gehen.
„Du willst da jetzt nicht hinfahren?“, rief ihm Malte nach.
Damp drehte sich im Laufen noch einmal um: „Warum nicht?“
„Hast du deine schusssichere Weste dabei? Nach deinem Auftritt bei Krenz bist du für Durk ein rotes Tuch und ein gutes Ziel ...“
Damp war stehengeblieben. „Bei dir ist es auch nicht anders.“
„Aber ich kann an seinem Haus zufällig vorbeigehen. Bei dir ist es gleich offiziell.“
Da musste Damp Fittkau Recht geben.
„Ich fahre durch die Heide“, schlug Malte vor, „da kommst du mit deiner Karre sowieso nicht durch nach dem Regen. Du fährst auf der Straße bis zur Dünenheide und wartest dort auf mich.“
Malte schob sein Rad durch die Dünenheide. Ein weinroter Teppich aus blühender Heide breitete sich entlang des Fahrweges aus. Dazwischen standen hier und da Brombeerhecken. An ihren Zweigen hingen noch einige späte Früchte. Der feuchte Boden schmatzte unter den Reifen von Maltes Rad. Die Nässe hatte den Sandweg in Schlamm verwandelt. Malte schaute nach rechts und links, ob er irgendwo den betrunkenen Bürgermeister liegen sah, wie es der Wirt von der „Fischerklause“ prophezeit hatte. Es kam öfter vor, dass seine Gäste angetrunken nicht mehr den Weg nach Hause schafften. Sie schliefen dann ihren Rausch im Graben neben dem Weg oder auf den Deichwiesen aus. Doch Durk war nirgends zu entdecken.
Das Haus des Bürgermeisters stand ziemlich direkt am Strand. Er hatte es kurz nach der Wende gebaut, nachdem er sein Elternhaus in Vitte mit hohem Gewinn verkauft hatte. Heute würde er in der Heide keine Baugenehmigung mehr bekommen. Es war ein weißverputztes Reetdachhaus mit roten Fensterläden. Als Zaun dienten ein paar mit Seilen verbundene Holzpfosten. Malte legte sein Rad an den Wegrand. Er stieg über die Strippe und ging zum Haus. Bevor er klopfte, lugte er durch die Fenster. Keine Spur von Durk. Auf sein Klopfen an der Tür öffnete niemand. Eine Frau Durk gab es zwar. Aber nicht mehr auf Hiddensee. Sie war vor ein paar Jahren weggezogen. Durk hielt gegenüber den Hidenseern noch immer die Legende aufrecht, seine Ehefrau sei nur aus beruflichen Gründen nach Rügen gezogen, und sie würden sich regelmäßig dort treffen. Aber Malte wusste es längst besser. Sie arbeitete nicht nur dort, sondern lebte in Bergen mit einem neuen Mann zusammen.
Malte schlich um das Haus herum. Durks Rad war auch nirgendwo zu sehen. Eigentlich war der Bürgermeister auf der Insel nie ohne sein Rad unterwegs. Nun gab es nur noch eine Möglichkeit, wo sich Durk versteckt haben könnte.
Damp war über die ganze Insel gefahren, vom Gellen im Süden bis zum Alten Bessin im Norden, nachdem Malte erfolglos von Durks Haus zurückgekehrt war. Damp hatte alle öffentlichen und privaten Wege in Neuendorf, Vitte und Kloster abgeklappert, aber nirgendwo hatte er eine Spur von Durk entdeckt oder hatte jemand den Bürgermeister a. D. gesehen. Der Polizist betete im Stillen, dass Fittkaus Prophezeiung in Erfüllung gehen würde. Rieders Nachbar hatte gemeint, dass Durk zu betrunken sei, um einen Schuss abzugeben und irgendwo auf der Insel seinen Rausch ausschlafen würde. Malte wollte sich deshalb weiter auf der Insel umsehen.
Damp öffnete die Tür zum Rathaus und stieg geschafft die eine Treppe bis zum Revier hoch. Im Flur davor wartete stand Andreas von Krenz. Seine linke Gesichtshälfte war geschwollen. Seine Lippen blutverkrustet.
„Sind Sie verrückt oder lebensmüde?“, platzte Damp heraus. „Ich habe gesagt, Sie sollen in Ihrer Bude bleiben, bis wir Durk gefunden haben.“
„Ich werde mich vor Durk nicht verstecken. Jetzt will ich Anzeige gegen ihn erstatten!“, erwiderte Krenz aufgebracht.
Damp stöhnte auf. Aber was sollte er machen? Er schloss die Tür auf und ließ den Mann herein. Er zeigte auf den Besucherstuhl. Von Krenz nahm Platz.
„Aber ich will den Bürgermeister nicht wegen Körperverletzung anzeigen, sondern wegen Bestechlichkeit.“
Damp holte sein Laptop hervor. „Eins nach dem anderen. Haben Sie Ihren Personalausweis dabei?“
Von Krenz kramte ihn hervor. Damp öffnete die entsprechende Formulardatei und trug Krenz’ persönliche Daten ein. „Also: Inhalt der Anzeige?“
Aus seiner Hemdtasche zog von Krenz einen zusammengefalteten Zettel. „Das ist die Kopie des Bauantrages von Durk für das Grundstück am Zeltkino.“ Er reichte es Damp. „Ich weiß aus sicherer Quelle, dass aber immer noch Stein im Grundbuch steht, denn Durk sollte das Grundstück nur bekommen, wenn hier alles zubetoniert worden wäre mit dieser ‚Ostseetherme‘.“
Damp tippte langsam in seinen Computer ein, was Krenz behauptete. Dann reichte er von Krenz den Ausdruck zur Unterschrift.
„Mir schon klar, dass Sie mit dem Bürgermeister unter einer Decke stecken und die Sache verschleppen wollen“, behauptete von Krenz. Damp reagierte nicht darauf, sondern tippte nur auf die Zeile für die Unterschrift.
„Passen Sie nur auf, dass ich Sie nicht auch noch drankriege wegen Strafvereitelung im Amt! Ich kenne meine Rechte“, schimpfte der Mann weiter.
„Da bin ich mir sicher, dass Sie die kennen“, meinte Damp trocken. „Aber zu Ihrer Information: Durk ist nicht mehr Bürgermeister. Seine Fraktion hat ihn abgesetzt.“
Von Krenz riss die Augen auf, sagte aber nichts.
„Bitte durchlesen und unterschreiben“, mahnte Damp noch einmal.
Von Krenz nahm das Blatt, legte es aber gleich wieder hin. „Sie haben doch die Planungsunterlagen von Stein für die ‚Ostseetherme‘. Da steht doch alles drin.“ Er blickte sich dabei im Revier um. Damp griff nach der Anzeige, nahm einen Stift und schrieb unter den Text laut vorlesend: „Herr von Krenz vermutet Beweise in den Ermittlungsakten zum Mordfall ‚Stein‘.“
„Sie können doch die Unterlagen gleich raussuchen und als Kopien beifügen“, drängte von Krenz.
„Das ist die Sache der Staatsanwaltschaft, die entsprechenden Unterlagen anzufordern. Unterschreiben Sie jetzt oder nicht?“
„Ich dachte ja nur“, meinte von Krenz und unterschrieb das Papier.
„Jetzt noch die Anzeige wegen Körperverletzung?“, fragte Damp genervt.
Doch von Krenz hatte es plötzlich eilig: „Nein, das hat Zeit.“
Von Krenz stand auf und verließ schnell das Büro. Damp sah ihm ratlos hinterher: „Dann eben nicht.“