Rieder saß im Großraumbüro des Reviers in Bergen. Er sah auf die Uhr. Die letzte Fähre nach Hiddensee würde er definitiv nicht mehr erreichen. Bökemüller würde ihm wohl auch kaum eine Überfahrt mit einem der Wassertaxis für mehr als einhundert Euro bezahlen. Wahrscheinlich blieb ihm nichts anderes übrig, als auf einer der Pritschen im Aufenthaltsraum des Bergener Reviers die Nacht zu verbringen.
Nelly Blohm hatte sich in ihr Büro zurückgezogen, um ungestört die Aussage von Karin Knoop aufzuschreiben. Sie hatten noch keine neuen Nachrichten aus dem Krankenhaus über ihren Zustand.
Auf einem der Computer loggte sich Rieder in den Account des Hiddenseer Reviers ein. Dazu war er eigentlich nicht mehr befugt, denn nach der Beförderung Damps war er ja der Polizeidirektion unterstellt worden und hatte damit die Zugangsberechtigung verloren.
Rieder hatte ein schlechtes Gewissen. Er hatte sich nicht noch einmal nach Damps Hilferuf bei seinem Kollegen gemeldet. Er hoffte, dass sich die Situation auf Hiddensee beruhigt hätte.
Damp hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Kennwort und das Passwort zu ändern. Er hatte den Account offenbar seit seiner Beförderung überhaupt nicht mehr genutzt, denn eine Vielzahl ungelesener E-Mails erschien auf dem Bildschirm. Rieder sah die Datumszeilen durch, bis er fand, was er suchte. Letzten Freitag hatte Damp der Bearbeiter für die Internetanzeigen eine Kopie von Karin Knoops Diebstahlanzeige geschickt und gebeten, weitere Erkundigungen einzuziehen. Die Imbissbesitzerin hatte in der Anzeige Andreas von Krenz und Michael Durk als Zeugen angegeben. Im Stillen fluchte Rieder über die Nachlässigkeit seines Kollegen. Möglicherweise war er dadurch auf eine völlig falsche Spur geraten. Die Frage war nun, wer hatte Peter Stein die SMS geschickt, die ihn ins Kinowäldchen gelockt hatte? Damp musste auf alle Fällle sofort mit Durk und von Krenz reden, um die Angaben von Karin Knoop zu überprüfen und sie zu fragen, wer zum Zeitpunkt als das Telefon gestohlen wurde, noch im Imbiss gewesen war. Rieder aber erreichte nur die Mailbox seines Kollegen und hinterließ dort eine Nachricht.
Kaum hatte er aufgelegt, klingelte sein Handy in der Hosentasche. Er zog es hervor. Bökemüller!
„Haben Sie was Neues?“, fragte sein Chef.
Rieder berichtete von den Gesprächen mit Nemzov und Knoop, von dem sichergestellten Jeep und dem gestohlenen Telefon, von seinem erneuten Verdacht gegen Jan Stein und seinen Zweifeln an der Schuld von Karin Knoop.
Bökemüller hörte geduldig zu. Er billigte die Beschattung von Nemzov. „Den Mann müssen wir im Auge behalten“, bemerkte er. „Ist Frau Blohm gerade im Raum?“
Rieder verneinte.
„Es gäbe da eine schwierige Mission, mit der ich Sie aber gern allein betrauen würde. Aber ich verspreche mir einiges davon.“
Rieder runzelte die Stirn, weil er Nelly Blohm nicht ausschließen wollte. Aber das konnte Bökemüller durch die Leitung natürlich nicht sehen.
„Sie müssen sich mit einem V-Mann treffen“, erklärte der Polizeidirektor. „Er weiß wohl viel über Nemzov. Ihr Russe ist doch nicht so ein unbeschriebenes Blatt. Das LKA hat bereits seine Zustimmung gegeben, aber zur Bedingung gemacht, dass nur Sie sich mit dem V-Mann treffen. Vereinbart ist neunzehn Uhr, Schlossruine Dwasieden. Wissen Sie, wo das ist?“
Rieder klemmte sich das Telefon zwischen Kopf und Schulter, um den Treffpunkt zu notieren.
„Wenn Sie sich bis zwanzig Uhr nicht bei mir melden, schicke ich Leute los, um Sie zu suchen.“
„Da kann ich Frau Blohm auch mitnehmen, wenn dann sowieso Leute aus Rügen kommen“, entgegnete Rieder.
„Zwei LKA-Beamte aus Schwerin halten sich in der Nähe bereit, um Ihnen im Notfall beizustehen“, ergänzte Bökemüller.
Damit war das Gespräch beendet. Rieder griff sich eine Karte von Rügen und suchte nach Dwasieden. Der Ort lag etwas unterhalb von Sassnitz. Eine kleine Straße führte zu der eingezeichneten Ruine.
Was sollte er Nelly Blohm sagen? Ihm fiel nichts Rechtes ein. Rieder ging zu ihrem Büro, klopfte kurz und öffnete die Tür.
„Ich brauche noch eine Weile“, entschuldigte sie sich.
„Nicht so schlimm. Ich bin mal eine Stunde weg.“
„Wo wollen Sie denn hin?“
Diese Frage hatte Rieder erwartet. „Die Füße vertreten.“
Nelly Blohm kaufte ihm das nicht ab: „Wollen Sie auf eigene Faust recherchieren?“
„Quatsch!“, behauptete Rieder nicht ohne schlechtes Gewissen. Sie glaubte ihm zwar nicht, fragte ihn aber trotzdem, ob man sich noch sehe.
„Warum nicht? Nach Hiddensee komme ich heute nicht mehr. Ich werde wohl hier mein Quartier aufschlagen. Aber müssen Sie denn nicht weg?“
„Heute nicht“, antwortete sie.
„Gut, dann treffen wir uns 20 Uhr 30 wieder hier.“
„Abgemacht.“
Kurz hinter dem Ortseingang von Sassnitz bog Rieder in Richtung des Fährhafens Mukran ab. Wenig später entdeckte er auf der anderen Straßenseite einen Wegweiser nach Dwasieden. Die Straße war mehr ein Feldweg, aber am Ende gab es einen frisch gepflasterten Parkplatz. Rieder stieg aus und sah sich um. Niemand war zu sehen. Eine Schautafel informierte über die Geschichte des Schlosses Dwasieden. Alte Schwarz-Weiß-Bilder zeigten, wie es an der Küste über der Ostsee gethront hatte, bevor es nach dem Krieg gesprengt worden war. Rieder folgte einem Pfad, der zur Ruine führen sollte. Es ging durch dichtes Gestrüpp. Der Weg wurde offenbar nicht oft benutzt. Er kam an einen grauen Lattenzaun, typisch für ehemalige russische Kasernen. Es gab nur eine kleine Lücke, die ins Innere des Geländes führte. Dahinter wurde der Weg zu einer asphaltierten Straße. Links und rechts standen die Überreste von Schuppen und Baracken. Dann tauchte die Ruine auf. Ein Rad lehnte an der Mauer. Ein Damenrad.
Hinter einer Ecke tauchte im schwindenden Tageslicht eine Frau auf. Beate Wunderlich. Rieder war erstaunt.
„Mich haben Sie sicher nicht erwartet“, begrüßte sie den Polizisten.
„Ehrlich gesagt, habe ich mich noch nie mit einer V-Frau, sondern immer nur mit V-Männern getroffen. Bisher!“, antwortete immer noch überrascht Rieder. „Aber warum sollte sich nicht auch in dieser Branche die Gleichberechtigung durchsetzen?“
Beate Wunderlich lächelte.
„Hier hat Nemzov übrigens früher gedient, bevor er von der Fahne gegangen ist“, erklärte die Frau. „Er kennt jeden Winkel in dem Objekt.“ Sie ging ein paar Schritte wieder in Richtung der Ruine und zeigte auf eine Metalltür. „Das ist das Quartier seiner beiden Bodyguards Sascha und Aljoscha. Aber die beiden sind weg. Seit gestern. Fahndung wäre ziemlich sinnlos, nehme ich an.“
Rieder griff trotzdem an die Klinke der Tür. Verschlossen. „Wäre auch eher ein Zufall gewesen, wenn in diesem Fall mal etwas nicht schiefgehen würde“, meinte Rieder enttäuscht. „C’est la vie. Aber wie sind Sie V-Frau geworden?“, wandte er sich wieder an Beate Wunderlich.
„Ich war schon beim alten Stein Sekretärin, nach seinem Tod auch bei Peter Stein. Als er die Firma an Nemzov verkaufte, war es eine Bedingung von Stein, dass ich bliebe als Kontrolle. Nemzov hat sich daran nicht gestört. Er war froh, jemanden zu haben, der alle kannte und ihm auch Türen öffnen konnte. Irgendwann stand dann mal das LKA in meiner Wohnung in Sassnitz. Ihnen waren die Aktivitäten von Nemzov nicht unbekannt geblieben. Sie halten Nemzov für einen Statthalter der russischen Mafia auf Rügen. Und da geht es nicht um Türen. Die Geschichte hat er Ihnen doch sicher erzählt.“
Rieder nickte.
„Herzerweichend. Nicht wahr?“, fragte sie mit ironischem Tonfall. „Aber Juri hat es faustdick hinter den Ohren. Nach den Türen kamen Autos, Lebensmittel, Computer und, und, und ... Seine russischen Kumpel schickten das Geld, und er besorgte dafür die Ware. Sie wurde in Container verladen, Leute im Hafen und auf den Schiffen geschmiert, und schon nahm die Ware am Zoll im Fährhafen Mukran vorbei ihren Weg nach Russland.“
„Aber er baut doch auch eine Menge Häuser, Hotels und was weiß ich“, entgegnete Rieder. „Reicht ihm das nicht?“
„Ja, klar. Er baut eine Menge“, antwortete Frau Wunderlich, „aber nur dank der Hilfe von Peter Stein. Dafür bekam Stein weiter ein schönes Stück vom Kuchen. Bis er aus der Reihe tanzte.“
„Können Sie Klartext reden?“, bat Rieder.
„Kann ich.“ Sie nahm ihr Rad. „Lassen Sie uns nach vorn gehen zum Parkplatz. Ich muss dann auch nach Hause. Mein Mann wartet.“
Sie gingen langsam den Weg zurück. „Schon lange wollte Herr Stein diese, Ostseetherme‘ auf Hiddensee bauen. Aber er hatte nicht das Geld dafür. Da hat Nemzov seine Kontakte spielen lassen. Es gab genügend russische Investoren, die ihr Geld dort anlegen wollten.“
„Schwarzgeld?“
„Sie sagen es. Geld aus Bordellen, durch Schutzgelderpressung. Sie wollten auf Hiddensee ihr Geld waschen. Aber dann ließ Stein das Projekt platzen. Ich weiß noch, wie Nemzov getobt hat, als ihm Stein das gesagt hat.“
„Wann war das?“
„So vor zwei Wochen. Erst hat er geschrien, dann Stein angefleht. Aber Stein blieb hart. Nemzov hat ihm gedroht, doch Stein blieb ganz ruhig und meinte nur, er hätte genügend Beweise, um Nemzov hinter Schloss und Riegel zu bringen. Juri lachte erst noch, aber dann hat Stein etwas von Papieren und Unterlagen erzählt sowie von einem tödlichen Arbeitsunfall auf der Baustelle der neuen Rügenbrücke. Ich habe den Namen nicht verstanden. Jedenfalls ist da jemand nicht ganz freiwillig in die Tiefe gestürzt.“
Rieder fiel etwas ein: „War der Name vielleicht Knoop?“
„Genau. Knoop.“
Rieder berichtete, was Karin Knoop passiert war und spekulierte, dass der Überfall auf sie mit diesen Papieren zusammenhängen könnte, mit denen Stein Nemzov erpresst hätte. Rieder war sich sicher, dass Nemzov dafür verantwortlich war, denn immerhin war dafür ein Auto seiner Firma verwendet worden.
„Wer hat den Lada Niva abgeholt?“
„Sascha und Aljoscha.“
„Sind sie damit auch gefahren?“
Die Frau zuckte mit den Schultern. „Vom Büro kann ich den Parkplatz nicht sehen. Aber Nemzov ist wirklich erst gestern wiedergekommen. Was er dazwischen gemacht hat, kann ich nicht sagen.“
„Woher wissen Sie das eigentlich alles über Stein und Nemzov?“, fragte Rieder verwundert. „Sind Sie bei den Gesprächen dabei?“
Sie schüttelte den Kopf: „Ich höre ihn ab.“
Rieder verschlug es die Sprache. „Was tun Sie?“ Er blieb stehen. „Sie hören ihn ab?“, fragte er nochmal, völlig konsterniert.
Beate Wunderlich nickte. „Das LKA hat in seinem Büro eine Wanze installiert, die in meinem Kopfhörer vom Headset endet. Da ich das Ding den ganzen Tag aufhabe, bekomme ich alles zu hören, was drinnen gesprochen wird. Irgendwie muss ich ja an die Informationen kommen, für die ich mein Geld bekomme.“
Rieder staunte über diese Kaltblütigkeit.
„Um auf Nemzov zurückzukommen: Juri sitzt ziemlich in der Tinte“, erzählte Beate Wunderlich weiter. „Seine Freunde machen Druck. Sie wollen das Geschäft mit der Therme. Außerdem hat Juri auch bereits eine nette Provision kassiert, die er aber nicht zurückzahlen kann, sollte das Projekt geerdet werden.“
„Aber eben haben Sie mir doch erzählt, dass Stein und er so gut verdient haben?“, warf Rieder ein.
„Verdienen: ja, haben: nein.“
„Kommen Sie! Das Auto, dieser Jeep und ein Haus in Binz, das frisst beides doch nicht Millionen?“
„Stimmt. Aber Frauen aushalten, Leute schmieren und vor allem pokern, das kostet. Juri hat nicht viel, jedenfalls nicht genug für die Rückzahlung, wenn die, Ostseetherme‘ nicht gebaut wird. Auch weil der Zinssatz bei diesen Jungs recht hoch ist. Er musste Stein überzeugen, die Therme zu bauen oder ihm wenigstens Geld geben.“
„Trauen Sie ihm den Mord an Peter Stein zu?“
Sie wiegte den Kopf hin und her. „Eigentlich ist er klug genug, um nicht das Huhn zu schlachten, das immer noch goldene Eier legt. Ohne Peter Stein hat er gar keine Chance, die Therme zu bauen. Oder glauben Sie wirklich, dass die bockigen Hiddenseer einem von draußen und dann noch einem Russen Tür und Tor öffnen?“
„Wahrscheinlich nicht.“
„Aber ich würde auch nicht meine Hand ins Feuer legen, dass Juri nichts mit dem Tod von Peter Stein zu tun hat.“
Sie waren am Parkplatz angekommen.
„Ich muss Sie noch mal fragen. Warum machen Sie das?“
„Das Geld ist nicht zu verachten. Mein Mann ist seit der Wende arbeitslos und jetzt Rentner. Da können wir jeden Cent brauchen. Ich muss jetzt los“, drängte Beate Wunderlich.
Sie verabschiedete sich von Rieder, setzte sich auf ihr Rad, drehte sich dann aber noch mal um: „Und zu niemanden ein Wort!“ Sie klang nicht mehr so selbstbewusst. Rieder hob zwei Finger seiner rechten Hand: „Ich schwöre es.“