XLV

Malte hatte bisher Damp nicht verraten, wo er Durk entdeckt hatte. Er war vor zehn Minuten im Revier aufgetaucht und hatte den Polizisten aufgefordert, mitzukommen.

Damp ließ den Motor des Polizeiwagens an. „Und wo lang?“, fragte er genervt.

„Nach links. Nach Kloster.“

Damp lenkte das Auto auf die Straße und rollte langsam in Richtung der nördlichen Inselgemeinde. Die Straße war menschenleer. Trotzdem klappte Malte die Sonnenblende nach unten. Er wollte nicht mit Damp gesehen werden. Auf den Wiesen zwischen Ostsee und Boddendeich hatten Tausende von Wildgänsen auch heute wieder ihr Nachtquartier aufgeschlagen. Das Geschnatter der Vögel war bis ins Auto zu hören. Am Nationalparkhaus duckte sich plötzlich Malte.

Nationalparkchef Thomas Förster kam ihnen auf seinem Fahrrad entgegen. Er winkte Damp. Der Polizist bremste.

„Halt auf keinen Fall an!“, kam es aus den Tiefen des Beifahrersitzes.

Damp lächelte gezwungen nach draußen und erwiderte den Gruß, stoppte aber nicht. Förster sah ihm verwundert hinterher.

Malte tauchte wieder auf, setzte sich wieder auf den Beifahrersitz. Kurz vor Kloster wies er an: „Fahr unten rum, nicht durch den Ort und dann Richtung Leuchtturm über den Plattenweg.“

Damp bog in den Weißen Weg ein.

„Nicht so schnell. Es muss so aussehen, als wärst du auf Patrouille.“

„Kannst du mir nicht endlich sagen, wo Durk steckt?“

„Könnte ich. Will ich aber nicht.“

Damp war auf den Plattenweg zum Leuchtturm Dornbusch eingebogen. Längst lagen die alten Betonschwellen nicht mehr in Reih und Glied, wie sie einst die Nationale Volksarmee vor Jahrzehnten verlegt hatte. Die Stoßdämpfer mussten Schwerstarbeit leisten. Die Scheinwerfer zielten in eine tiefschwarze Nacht. Rechts und links des Weges standen Ginsterbüsche und bildeten eine natürliche Leitplanke. Damp bremste scharf. Ein Fuchs stand mitten auf dem Weg. Seine Augen leuchteten. Dann trabte er seines Weges.

„Also, mit dir zu fahren ist echt kein Vergnügen“, klagte Fittkau. „Vorn an der Kreuzung musst du nach links.“

Da ging es zum Ausflugsrestaurant „Klausner“. Damp sah Fittkau verwundert an: „Durk hat sich im, Klausner‘ versteckt?“

„Wart’s ab“, meinte Malte nur. „Fahr einfach nach links.“

Langsam rollte der Wagen den Waldweg entlang. Damp schaute angestrengt durch die Windschutzscheibe. Außer Bäumen konnte er im Scheinwerferlicht nichts entdecken. Dann kam links ein Zaun. Hier gab es noch ein Grundstück, erinnerte sich Damp. Am Zaun hing ein großes Plakat des Imkerverbandes Mecklenburg-Vorpommern. Auf dem Gelände standen zwei große alte Wagen mit Bienenstöcken und eine alte Hütte.

„Halt an!“, befahl Malte. „Wir sind da.“

Sie stiegen aus. „Durks Vater war ein begeisterter Imker. Er hat das Grundstück hier damals gepachtet“, erzählte Malte Fittkau. „Ich kann mich noch an seine Auftritte im Heimatkundeunterricht und in Biologie erinnern. Dann machten wir Wandertag hierher, zu den Bienenstöcken. Micha war mal nicht der Außenseiter, der Zugereiste. Einmal gehörte er dazu. Wenn er freihatte und wir mal wieder nicht mit ihm spielen wollten, hockte er hier oben bei seinem Alten. Das ist auch das Einzige, was er von seinem Vater behalten hat – die beiden Bienenwagen und die alte Hütte.“

Malte und Damp waren an einem Gartentor angekommen. In Damps Brusttasche brummte sein Handy. Er zog es heraus. Irgendwie musste es sich bei der Rauferei mit Durk und Krenz auf Vibrationsalarm geschaltet haben. Die Batterie war auch schon schwach. Es war die Mailbox. „Da muss ich mal rangehen“, erklärte er Malte, der die Augen verdrehte. Damp hörte den eingegangenen Anruf ab. „ Es war Rieder“, berichtete er. „Ich soll Durk und von Krenz nach dem Telefon der Knoop fragen. Es ist ihr wohl geklaut worden, und die beiden waren Zeugen.“

„Hoffentlich kannste Durk noch fragen“, entgegnete Malte sarkastisch. „Der Durk ist fertig mit der Welt.“

Damp riss die Augen auf: „Mach keinen Quatsch.“

„Dann komm jetzt!“

Malte schob das Tor auf. Damp folgte ihm. In der Hütte brannte Licht. Als Malte die Tür öffnete, schlug ihnen der süße Geruch von Honig entgegen. Auf dem Tisch brannten mehrere Bienenwachskerzen. Ihre Stümpfe waren schon recht klein. Daneben standen zwei leere Flaschen „Küstennebel“ und einige Bierflaschen. Auf einer Holzbank lag Durk und schnarchte. Damp fiel ein Stein vom Herzen.

Das Gewehr lehnte an der Wand. Damp stürzte sich drauf und knickte den Doppellauf ab. Es waren keine Patronen drin. Also blinder Alarm!

Malte rüttelte Durk. Das Schnarchen stockte. Der Mann hob langsam die Lider.

„Was issen los?“, lallte er. Zuerst sah er Malte. „Ach, du bist es schon wieder. Mensch, Malte, du bist der einzige wirkliche Freund.“

Dann entdeckte er Damp. „Was machst du hier, Damp?“ Durk richtete sich mit Mühe auf. „Ich bin mit Licht hier hochgefahren. Kannst gucken draußen. Der Dynamo klemmt noch am Rad. Da kannste deinen Block steckenlassen, Inselbulle! Gibt’s noch was zu trinken?“

Malte hielt eine der leeren Schnapsflaschen hoch und schüttelte den Kopf: „Alles alle. Wir wollten dich auch abholen und nach Hause bringen.“

„Nach Hause?“, fragte Durk. Ihm stieß so heftig auf, dass er beinah wieder umkippte. Doch er fing sich wieder.

„Nach Hause?“, fragte er noch einmal. „Wo issen das?“

„Unten in der Dünenheide. Dein Haus am Strand“, redete Malte auf ihn ein.

„Hier ist mein Zuhause. Diese alte Bude.“ Durk versuchte seinen Arm auszustrecken, konnte aber wieder nur knapp das Gleichgewicht halten. „Das Haus da unten gehört der Bank. Der Bank! Habt ihr mich verstanden?“

Durk lehnte sich zurück. Ihm fielen wieder die Augen zu. Damp wollte ihn wachhalten. Er stellte die Frage, die ihn seit seinem Gespräch mit Lotti Stoll vom Nachmittag bewegte. „Herr Durk, wo waren Sie am Montagabend?“

„Montagabend?“

„Was haben Sie gemacht, nachdem Sie sich mit Stein am Telefon über das Grundstück am Zeltkino gestritten haben?“

„Grundstück am Zeltkino?“, fragte Durk mit unsicherer Stimme. Dann schien er sich zu erinnern. „Der Stein hat es mir geschenkt, das Grundstück vom alten Godglück. Geschenkt!“, rief er aus. „Jedenfalls wollte er das“, setzte der ehemalige Bürgermeister noch flüsternd dazu. „Aber dann ... dann ... dann hat er es sich anders überlegt. Hat alles abgesagt. Den Bau dieser Scheißtherme. Des neuen Kinos. Einfach alles. Und auch das Grundstück wollte er behalten.“ Durk stand auf und torkelte auf Malte zu, stützte sich mit beiden Armen auf dessen Schultern. „So geht es doch nicht! Nicht wahr, Malte? Versprochen ist versprochen!“

Malte nickte: „Klar, Micha.“

„Das hat doch keinen Zweck“, wandte er sich dann an Damp. „Lass ihn uns runter in seine Bude bringen.“

Damp wollte aber die Situation nutzen. Durk stützte sich mit Schwung bei Malte Fittkau ab und taumelte drei, vier Schritte zurück, ruderte dabei mit den Armen, bis er wieder einigermaßen festen Stand hatte.

„Versprochen ist versprochen, und der Stein hat es gebrochen. Versprochen, gebrochen. So heißt’s doch. Nicht wahr, Inselbulle?“

Damp nickte etwas verunsichert.

„Der Stein“, brabbelte Durk weiter. „Durch den Stein bin ich voll am Arsch. Kredite aufgenommen, Verträge abgeschlossen, und dann kommt der und sagt: ‚April, April‘. Was hättest du da gemacht, Damp?“

„Mit ihm geredet.“

„Geredet? Hab’ ich“, erzählte Durk mit schwerer Zunge weiter. „Aber der hat gelacht. Immer nur gelacht. ‚Mensch, Durk‘, hat er gesagt, ‚nur was du schwarz auf weiß besitzt, kannste nach Hause tragen. Haste was schwarz auf weiß, dass dir das Grundstück am Zeltkino gehört? Haste nicht.‘ Dann hat er gelacht ...“ Durk machte eine Pause und ließ sich wieder auf seine Bank fallen. „Alles nur wegen der Tusse! Und ihrem Scheißnaturschutz! Früher haben Stein weder Bäume, Enten noch sonst was interessiert. Und dann kommt diese Tusse“, er spuckte das Wort richtig aus, „und bekehrt ihn zum Grünen.“ Durk machte eine Pause in seinem Monolog. „Aber die haben bekommen, was sie verdienen. Alle beide. Und auch der blöde Krenz. Aber da musstest du ja aufkreuzen, Inselbulle. Ich hätte den Fatzke zu Brei geschlagen.“

Damp wurde hellhörig. Auch Malte schaute erschrocken auf. Was sollte das heißen? Hatte Durk also doch mit dem Mord an Peter Stein und dem Überfall auf Karin Knoop zu tun?

Nach seinen letzten Worten war Durk wieder auf die Seite gekippt und drohte einzuschlafen. Schon waren die ersten Schnarchgeräusche zu hören.

„Ich muss sofort Rieder anrufen“, erklärte Damp.

„Und was soll der tun?“, entgegnete Malte.

„Herkommen.“ Damp holte sein Handy aus der Brusttasche der Uniformjacke, aber es war aus, weil mittlerweile die Batterie leer war.

Malte trat unterdessen ans Fenster. Draußen war es dunkle Nacht. Kein Mond, kein Stern. Nicht mal die Bäume waren zu sehen. Alles finster. „Heute kommt der eh nicht mehr. Wenn ich mich nicht täusche, zieht jetzt auch noch Nebel auf.“

„Aber du hast doch gehört, was er gesagt hat“, beharrte Damp.

„Ja. Habe ich. Trotzdem, lass uns Durk nach unten in sein Haus bringen und ihn seinen Rausch ausschlafen. Von da kannste auch Stefan anrufen. Außerdem musste ihn doch auch noch nach diesem Telefon von Karin fragen.“

Das hatte Damp schon beinahe wieder vergessen. „Ich kann ihn doch jetzt nicht allein in sein Haus gehen lassen. Da besteht doch Fluchtgefahr.“ Damp überlegte kurz: „Er könnte doch bei dir bleiben.“

Malte lachte auf: „Ich bin doch nicht euer Ersatzknast oder das Asylantenheim. Jan Stein hockt schon bei mir. Jetzt auch noch Durk?“ Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Vergiss es! Nimm ihn doch mit zu dir.“

Das war nun wieder Damp peinlich, als er an seine schäbige Bude dachte.

„So blau wie der ist, pennt der bestimmt bis in die Puppen morgen. Da kannst du ihn früh in seiner Buchte einsammeln.“

„Na gut“, gab sich Damp geschlagen.

Sie setzten Durk wieder aufrecht, griffen ihm unter die Arme und schleppten ihn zum Polizeiauto. Damp öffnete die hintere Tür auf der Beifahrerseite. Malte schob Durk auf die Sitzbank.

Dann fuhren sie in Richtung Kloster. Vom Rücksitz hinten war inbrünstiges Schnarchen zu hören. Als sie den Aussichtspunkt „Inselblick“ passierten, sahen sie, wie sich Nebelwolken von der Ostsee langsam über die Insel schoben und im Tal alles hinter einem weißen Schleier verschwand.