Zwei blaue Kinderaugen sahen Rieder an, als er aufwachte. Woher kam das Kind? Ein blonder, ungefähr dreijähriger Junge starrte ihn an. In der Hand hatte er einen Traktor. „Wer bist du?“, fragte der kleine Junge.
Rieder rieb sich die Augen.
„Ich bin Stefan. Und wer bist du?“
„Lukas.“
Dann steckte ihm das Kind den Traktor entgegen. „Spielst du mit mir?“
„Lukas, komm in die Küche. Lass Stefan in Ruhe!“, rief Nelly aus der Küche. Rieder hörte das Hantieren mit Tassen, Tellern und Besteck. Es roch nach frischem Toast.
Lukas zog enttäuscht, aber ohne Widerspruch ab. In der Küche hörte ihn Rieder den Traktormotor imitieren.
Rieder zog sich seine Jeans an. Er warf einen kurzen Blick auf sein Handy. Eine SMS von Damp. Er wollte dringend einen Rückruf wegen Durk. Das Observationsteam hatte drei Uhr in der Nacht vermeldet, dass Jana Büchel das Haus von Juri Nemzov verlassen hatte. Keine Nachricht dagegen von Charlotte, nicht mal eine Antwort auf seine SMS von gestern Abend. Auch keine Nachricht von ihr auf seiner Mailbox. Sie war offensichtlich immer noch sauer auf ihn. Da wurde ihm bewusst, was er letzte Nacht getan hatte. Mit Nelly. Sein Herz begann zu rasen. Er bekam kaum Luft.
Rieder versuchte trotzdem, Charlotte zu erreichen, landete aber wieder nur auf ihrer Mailbox. So freundlich wie möglich wünschte er ihr einen „Guten Morgen“, sprach davon, wie sehr er sie vermisse. Das stimmte und war zugleich eine Lüge für die Zeit, in der er mit Nelly geschlafen hatte.
Als er in die Küche kam, lächelte ihn Nelly an. Lukas rutschte über die Fliesen mit seinem Traktor. „Ihr beide habt euch ja schon bekanntgemacht.“
Der Junge schaute nach oben. „Kannst du nicht vielleicht doch etwas mit mir spielen? Mit meinen Autos und meinem Bauernhof?“
Rieder war verwirrt über die Situation. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. „Äh, du ... ich muss mal schauen, was ich arbeiten muss ... Ich habe viel zu tun ...“
„Wie Mutti“, erwiderte Lukas traurig. „Sie hat auch immer viel zu tun.“ Er schlich aus der Küche.
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Rieder.
„Du konntest nicht wissen, dass ich einen Sohn habe.“
Nelly und Rieder schauten sich an, wussten aber offenbar beide nicht, was sie sagen sollten.
„Kann ich duschen?“ Mehr fiel Rieder nicht ein.
Nelly nickte. „Ich habe dir ein Handtuch hingelegt.“
Dann wandte sie sich wieder ihrer Küchenarbeit zu. Sie bestrich Weißbrotscheiben mit Butter und Leberwurst. Daneben stand eine Plastikbüchse. Wahrscheinlich war es das Frühstück für ihren Sohn.
Rieder machte sich auf den Weg ins Bad, da klingelte sein Handy. Es war einer der Beamten des Observationsteams vor Nemzovs Haus. Er war völlig außer Atem. „Nemzov ist wahrscheinlich weg!“
„Was?“, rief Rieder in das Telefon.
„Gerade war ein Kurier oder Bote an seiner Tür und hat geklingelt. Aber niemand hat aufgemacht. Daraufhin haben wir die Müllabfuhr gebeten, die gerade die Tonnen entleert, bei ihm zu klingeln. Auch da keine Reaktion.“
„Sein Auto?“
„Steht wie gestern Abend vor der Tür.“
Rieder schaute auf die Uhr. Es war erst sieben Uhr dreißig. Nelly hatte aufgehört, Brote zu schmieren. Sie hatte mitbekommen, dass etwas passiert sein musste.
„Ich komme“, erklärte Rieder und legte auf. Er stürmte zurück ins Wohnzimmer und zog sich seine restlichen Sachen an.
„Wie wäre es mit: ‚Wir kommen‘?“, entrüstete sich Nelly, die ihm gefolgt war. Hinter ihrem Rücken erschien Lukas. Er hielt sich mit einer Hand an der Schürze seiner Mutter fest.
Rieder wies mit einem Seitenblick auf den Jungen. „Du musst doch Lukas sicher erst in den Kindergarten bringen.“
Sie schaute kurz runter zu ihrem Sohn. „Ich könnte schnell meine Mutter bitten, dass sie ihn abholt.“
Rieder sah, wie sich die Miene des Jungen verfinsterte. Wahrscheinlich war er glücklich über jeden Moment mit seiner Mutter. Jetzt verstand Rieder auch die heimlichen Telefonate. Sie musste nebenher die Betreuung organisieren, wenn die Einsätze länger dauerten als erwartet. So ehrgeizig, wie er Nelly kennengelernt hatte, war es für sie ein großer Spagat zwischen Beruf und Mutterpflichten. Rieder überlegte.
„Wie wäre es, wenn ich schnell mit deinem Auto die Lage in Binz peile, du inzwischen mit Lukas in Ruhe frühstückst, ihn in den Kindergarten bringst und ich dich dann abhole.“
Lukas’ Gesicht hellte sich auf. Wahrscheinlich war das Frühstück oft die einzige Zeit, die er mit seiner Mutter am Tag verbringen konnte. Er schaute erwartungsvoll zu Nelly hoch, sie frustriert zu ihm nach unten.
„Okay“, seufzte sie, „dann machen wir es so.“
Rieder fuhr zügig, aber ohne Blaulicht nach Binz. Auch über Rügen hatte sich in der Nacht der Nebel gelegt. Allerdings ging es noch mit der Sichtweite auf den Straßen. Die weißen Schwaden lagen mehr auf den Feldern und zwischen den Bäumen. Er hatte das Fernster leicht geöffnet und genoss die frische Herbstluft.
In Binz parkte Rieder das Auto direkt vor dem Haus von Nemzov. Dann ging er zu den Beamten, die in ihrem Zivilfahrzeug saßen. Er klopfte kurz an die Scheibe und setzte sich dann auf die Rückbank.
Es hatte sich nichts weiter getan. War Nemzov noch in seinem Haus? Konnte oder wollte er nicht öffnen? Hatte er das Haus verlassen, ohne dass es die beiden Polizisten bemerkt hatten? Mit diesen Fragen bestürmte er die beiden Beamten. Sie schworen Stein und Bein, keine Minute das Haus aus den Augen gelassen zu haben. Auch als sie sich kurz vor Mitternacht noch etwas zu essen und frischen Kaffee besorgt hatten, war einer im Auto geblieben. Schon auf der Fahrt nach Binz hatte Rieder Behm angerufen und ihn gebeten, Nemzovs Handy zu orten. Der Spurensicherer meldete sich jetzt. Das Handy des Bauunternehmers sei abgeschaltet. Das letzte Signal war von der Funkzelle des Providers in Binz registriert worden. Rieder beschloss, sich das Haus mal näher anzusehen. Er betrat das Grundstück. Aber nichts regte sich. Kein Vorhang wurde bewegt. Er schaute durch die Fenster ins Innere, konnte aber auch nicht viel erkennen. Hinter dem Haus gab es eine Terrasse, die man vom Haus aus über eine breite Glasschiebetür betreten konnte. Rieder rüttelte daran. Sie war verschlossen. Einen Kellereingang gab es nicht. Allerdings begann hinter dem Grundstück sofort der Wald der Granitz. Sollte Nemzov auf diesem Weg das Haus verlassen haben, dann hätten es die beiden Beamten nicht sehen können.
Rieder ging zurück zu seinen Kollegen und stieg wieder ein. „Wann hat Jana Büchel das Haus verlassen?“
„So gegen fünf“, antwortete einer der Beamten. Zum Beweis holte er sein Smartphone heraus und zeigte Rieder die Aufnahme. „Sie ist den Klünderberg hochgegangen. Wenig später fuhr auch ein Auto davon.“
„Zum Klünderberg?“ Aber Jana Büchel wohnte doch in der entgegengesetzten Richtung, in den Neubauten am Ortausgang in Richtung Prora. Rieder wurde klar, wie es gelaufen war. Jana Büchel hatte Nemzov nach hinten aus dem Haus gelassen und war dann selbst vorn herausgegangen. Wahrscheinlich hatten sich dann beide auf dem Parkplatz im Wald, oberhalb der Tennisplätze, getroffen und waren mit dem Auto von Jana Büchel weggefahren. Rieder ahnte, was Nemzovs Plan war. Er wollte nach Hiddensee, um sich Steins angebliche Millionen zu holen, entweder um seine Schulden zu zahlen oder für einen Neustart im Leben. Mit oder ohne Jana Büchel.
Rieder schaute auf das Display im Armaturenbrett des Autos. Kurz nach acht Uhr. Nemzov hatte drei Stunden Vorsprung. Genug Zeit, um von hier, auf welchem Weg auch immer, nach Hiddensee zu kommen und zurück. Aber ohne den Code konnte er den Tresor nicht knacken. Wenn er keinen wissenden Helfer auf der Insel hatte, dann brauchte er richtiges Werkzeug, um den Safe zu öffnen. Ein Schweißgerät.
Rieder wählte die Nummer von Damp.
Müde meldete sich der Inselpolizist. Er hatte die Nacht in seinem Polizeiwagen vor dem Haus von Durk verbracht.
„Mensch, Rieder, warum melden Sie sich denn nicht zurück?“, fragte er missmutig.
„Das könnte ich Sie auch fragen!“, blaffte Rieder zurück.
Damp ging darauf nicht ein. Er berichtete, was gestern alles auf Hiddensee passiert war. Durks Absetzung, die Suche nach ihm.
„Damit hat Durk so gut wie ein Geständnis abgelegt, Peter Stein umgebracht zu haben. Wahrscheinlich hat er auch den Überfall auf Karin Knoop verübt.“
„Durk soll das alles gemacht haben?“, fragte Rieder. „Aber warum hat er dann die ganze Geschichte mit diesem Aufruf inszeniert?“, entgegnete er Damp.
„Ein Ablenkungsmanöver.“
„Hm“, antwortete Rieder. Er konnte nicht abstreiten, dass Damps Verdacht gegen Durk von den vorliegenden Fakten her durchaus einleuchtend war. Aber jetzt ging es darum, Nemzov zu stoppen.
„Das klingt sehr überzeugend“, meinte Rieder. Eigentlich hatte er nur sagen wollen: „Das klingt sehr interessant.“ Aber er musste seinen Kollegen bei Laune halten. „Ich versuche, so schnell wie möglich nach Hiddensee zu kommen, damit wir dem Verdacht gegen Durk nachgehen und ihn vernehmen. Aber jetzt haben wir noch ein anderes Problem.“
Er erzählte Damp von dem Bargeld in Steins Tresor und von seiner Vermutung, dass sich Nemzov auf dem Weg nach Hiddensee, wenn nicht schon auf der Insel, befände, um an das Geld heranzukommen.
„Wie soll ich ihn stoppen? Allein?“, fragte Damp.
„Ich könnte bei Bökemüller Gebauer mit seinen Leuten als Verstärkung anfordern.“
„Ich glaube kaum, dass das klappt“, erwiderte Damp.
„Bökemüller hat mir seine volle Unterstützung ...“
„Das kann er durchaus getan haben, aber hier ist dicker Nebel“, fiel ihm Damp ins Wort. „Ich schätze, dass bei dieser Suppe Gebauer in Stralsund nicht auslaufen wird. Der Fährverkehr ist sicher auch eingestellt bei dem Wetter. Wie sollte also dieser Nemzov auf die Insel kommen?“
Auf Rügen war der Nebel nicht ganz so dicht. Aber das musste nichts heißen. Oft unterschied sich die Wetterlage auf Hiddensee von der auf der großen Nachbarinsel erheblich.
„Gehen wirklich keine Fähren?“, fragte Rieder noch einmal nach.
„Ich erkundige mich.“
„Fahren Sie doch mal an Steins Haus vorbei und schauen, ob die Siegel gebrochen sind oder sonst irgendetwas nicht stimmt. Aber versuchen Sie keine Alleingänge. Nemzov ist sicher bewaffnet.“
Damp wunderte sich über die neue Fürsorglichkeit seines Kollegen. Er hatte aber auch so keine Lust, den Helden zu spielen. „Ich warte lieber, bis Sie hier sind.“
„Und was machen wir mit Durk?“
„Hat er ein Boot?“
„Soweit ich weiß, nicht.“
„Dann kann er eigentlich auch nicht von der Insel, wenn keine Fähre geht.“
„Stimmt.“
Nachdem er aufgelegt hatte, bat er die beiden Bergener Beamten, weiter vor Nemzovs Haus die Stellung zu halten. Bis auf Widerruf. Sie sollten ihm auch jede Veränderung sofort melden.
Er ging zurück zu Nelly Blohms Auto. Eigentlich wollte er sein Versprechen einhalten und seine Kollegin in Bergen abholen, aber vorher hatte er noch etwas anderes vor. Er rief Nelly an, unterrichtete sie kurz über den Stand der Dinge. Rieder spürte, dass Nelly es nicht abwarten konnte, endlich wieder an den Ermittlungen teilzunehmen. Im Hintergrund hörte Rieder Lukas toben. Der Junge genoss offenbar, dass er einmal seine Mutter an einem Morgen länger als üblich mit Beschlag belegen konnte.
„Ich hol’ Dich so schnell wie möglich ab“, versprach er, verschwieg allerdings, dass er auf dem Weg nach Bergen noch einen Zwischenstopp bei Jana Büchel einlegen würde. Während er den Wagen durch Binz lenkte, informierte er Bökemüller über das Verschwinden von Nemzov und auch über Damps Verdacht gegen Durk. Bökemüller bestätigte Rieder, dass es mit Verstärkung für Damp auf Hiddensee schlecht aussehe. Der Nebel sei so dicht, dass momentan kein Boot auslaufen könne. Laut der Prognosen des Wetterdienstes im Radio würde diese Wetterlage auch den Tag über anhalten, sich vielleicht sogar noch verschlechtern. Bökemüller garantierte ihm nur, Nelly Blohm weiter für die Ermittlungen abzustellen. Behm stände ihm in der Direktion für Recherchen vom Schreibtisch zur Verfügung.
Rieder war mittlerweile vor dem Haus in Binz angekommen, in dem Jana Büchel wohnte. Er beendete das Gespräch mit seinem Chef und stieg aus. Als er vor der Haustür stand, verließ gerade eine Frau das Haus. Rieder fing die Tür auf und ging hinein. Eine Hürde hatte er schon genommen. Sollte Jana Büchel da sein, konnte sie ihm wenigstens nicht auf dem Weg zwischen Haus- und Wohnungstür entwischen. Er klingelte an ihrer Wohnung, drückte sich aber so an die Wand des Treppenaufgangs, dass sie ihn durch den Spion nicht sehen konnte. Er hörte Schritte in der Wohnung, dann die Nachfrage von Jana Büchel über die Gegensprechanlage. Als sie keine Antwort bekam, hörte er Geräusche an der Wohnungstür. Wahrscheinlich schaute sie jetzt durch den Spion. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür. Er sah den Kopf von Jana Büchel auftauchen. Rieder sprang die beiden Stufen herab. Er nutzte die Schrecksekunde. Bevor Jana Büchel die Tür wieder zuwerfen konnte, hatte er einen Fuß zwischen Tür und Rahmen geschoben. Er drückte die Tür auf.
„Was soll das?“, fauchte sie.
„Guten Morgen! Ich hätte nur eine Frage an Sie: Wo ist Juri Nemzov?“