Das Brummen des Motors durchbrach die Stille des Nebels über dem Bodden. Gemächlich rollte die Bugwelle aus, die der Kiel von Maltes Boot in die spiegelglatte Wasseroberfläche schnitt. Rieder starrte geradeaus, sah aber nichts durch die Nebelwand. Ihm war der Motor zu laut. Wenn man schon nichts sehen konnte, dann aber vielleicht hören. Das war aber nicht zu ändern. Malte saß an der Pinne, völlig entspannt. Trotz des Nebels schien er ohne Schwierigkeiten den Weg nach Vitte zu finden. Er hatte die Fahrrinne zwischen Schaprode und Hiddensee genau an der Stelle gekreuzt, wo er es auch vor zwei Tagen getan hatte. Rieder hatte es an den Nummern der Tonnen für die Begrenzung des Schifffahrtsweges erkannt. Es war ihm ein Rätsel, wie sich sein Nachbar bei diesem Wetter orientieren konnte.
Zu Maltes Füßen lag ein Paket. Er hatte es unter die Sitzbank geschoben, damit es nicht nass würde. Darin befanden sich fünf Filmrollen. Malte hatte sie geradezu liebevoll in eine wasserdichte Zeltplane eingeschlagen, nachdem sie ihm der Kurier übergeben hatte. Der Fahrer der Filmfirma und der Streifenwagen aus Bergen waren zur gleichen Zeit in Seehof eingetroffen. So hatte es keine weiteren Verzögerungen gegeben.
Seit ihrer Abfahrt von Seehof hatten Rieder und Fittkau kaum ein Wort gesprochen. Der Polizist wollte nicht noch einmal seinen Verdacht gegen Jan Stein wiederholen. Er fürchtete, Malte erneut zu verärgern. Als sich jetzt aber die Silhouette der Fährinsel aus dem Nebel schälte, hatte er eine Idee. Malte steuerte gerade das Boot nach Steuerbord, um dann nah am Boddenufer südlich von Vitte entlangzufahren.
„Kannst du mich am Liegeplatz deines Paddelbootes absetzen?“
Malte runzelte die Stirn: „Da ist es zu flach.“ „Dann spring’ ich da schnell ins Wasser. So tief ist es dort doch nicht.“
„Bei dem Wetter?“
„Das ist kein Problem.“
„Von mir aus.“
Wenige Minuten später drosselte Malte das Tempo und ging noch weiter unter Land. „Der Wind dreht. Jetzt kommt er aus Osten und drückt die ganze Suppe wieder zurück“, meinte er.
Rieder bemerkte es jetzt auch. Der Bodden war nicht mehr spiegelglatt. Kleine Wellen zeigten sich und bewegten sich in Richtung Hiddensee. Der Nebel jedoch blieb so dicht wie bisher.
Die Schilffelder am Ufer wurden im Dunst sichtbar. Dann kamen die Umrisse eines kleinen Schuppens in Sicht. Das war der Liegeplatz von Maltes Paddelboot. Hier konnten die Urlauber ohne Probleme den Zweier zu Wasser lassen.
Malte schaltete den Motor ab: „Na dann.“
Rieder rutschte über die Bootskante und ließ sich ins Wasser gleiten. Doch bevor er festen Boden unter den Füßen hatte, stand er bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Die Nässe ließ ihn erzittern. Malte nahm davon keine weitere Notiz. Er warf den Motor wieder an und fuhr weiter. Als sich Rieder rumdrehte, war er schon in den Nebelschwaden verschwunden.
Rieder watete an Land. Da lag der graue Bootskörper von Maltes Paddelboot. Er fasste mit der Hand auf die elastische Bootshaut. Sie war nass. Rieder drehte das Boot um. Auch der blaue Stoffbezug zeigte an den Rändern feuchte Spuren. Sie konnten vom Spritzwasser stammen. Er zog die beiden Paddel heraus. Auch auf dem Holz lag ein feuchter Film. Rieder hatte keine Latexhandschuhe dabei und keine Asservatentüte, um die Paddel als mögliches Beweismittel sicherzustellen. Er war sich gewiss, dass das Boot heute schon von Jan Stein benutzt worden war, um Juri Nemzov von Seehof nach Hiddensee zu holen. Er kniete sich neben das Boot und durchsuchte das Innere des schmalen Bootskörpers nach weiteren Spuren. Er störte aber nur ein paar Spinnen und Ohrenkneifer auf, die es sich im Bug und im Heck bequem gemacht hatten und nun noch tiefer in den Bug und das Heck flüchteten.
Rieder drehte das Boot wieder herum. Die Nässe in seinen Hosenbeinen, Strümpfen und Schuhen ließ ihn frieren. Um warm zu werden, rannte er den Weg zum Deich hoch, dann bis zum Liegeplatz von Maltes Motorboot. Da standen Damp und Dora Ekkehard. Sie sahen zu, wie Malte das Paket mit den Filmrollen vorsichtig auslud und zum Handwagen der Kinofrau trug.
„Hallo, Herr Rieder!“, begrüßte sie den Polizisten. Damp nickte ihm nur zu.
„Sie kommen doch heute Abend auch zur Abschiedsvorstellung? Charlotte macht das Büffet.“
Der Name seiner Freundin versetzte Rieder einen Stich. „Wieso eigentlich Abschiedsvorstellung?“
„Der Vorhang fällt.“ Dora zog ein zusammengefaltetes Papier aus ihrer Jackentasche und reichte es Rieder. Er wollte sich hier nicht festquatschen, fühlte sich aber der Kinofrau gegenüber verpflichtet.
„Ich dachte, die Dinge hätten sich nun vielleicht geändert, wenn Durk als Bürgermeister abgesetzt ist und Ulrike Stein vielleicht erbt“, entgegnete er, während er anfing zu lesen. Es war ein Schreiben des Ordnungsamtes des Landkreisamtes Rügen.
„Tja, aber die Bürokratie lässt nicht Gnade vor Recht ergehen“, bemerkte sie resigniert.
In dem Schreiben wurden zahlreiche Auflagen für den weiteren Betrieb des Zeltkinos gemacht. Nach 22 Uhr durften keine Vorführungen mehr erfolgen, und bei Windstärke vier musste der Kinobetrieb eingestellt werden. Das war praktisch das Todesurteil für das Zeltkino. Denn Wind ging auf Hiddensee immer und nur selten weniger als Windstärke vier. Ohne Abendvorstellungen war das Geschäft für Dora nicht mehr rentabel. Gerade im Sommer kamen die meisten Gäste erst zu den Spätvorstellungen ab 20 Uhr 30.
„Kann man da nicht noch mal was machen? Vielleicht kann sich der neue Bürgermeister dafür einsetzen?“, schlug Rieder vor.
Dora schüttelte den Kopf. „Man muss wissen, wann man den Krieg verloren hat.“
„Ich versuche zu kommen“, versprach Rieder. „Welchen Film gibt es zum Abschied?“
„Solo Sunny.“
Nichts anderes als einen DDR-Kultfilm hatte Rieder erwartet, dazu noch einen über eine Frau, die um ihren eigenen Weg kämpfte und am Ende auch scheiterte. Dora hatte ihn sicher nicht ohne Bedacht ausgesucht.
„Und dazu gibt’s ein Ossi-Buffet. Soljanka aus dem Kessel. Karlsbader Schnitten. Bockwurst mit Brötchen. Charlotte räumt ihre Bestände. Sie macht ja auch zu.“
Rieder nickte. Er gab Damp ein Zeichen zum Aufbruch. Da meldete sich Malte: „Und? Was ist mit dem Boot?“
„Die Bootshaut war nass“, erklärte Rieder.
„Was beweist das bei dem Wetter? Gar nichts. Der Nebel legt sich überall drauf.“
„Malte, es tut mir leid, aber ich glaube, dass Jan Stein ...“
„Und ich glaube es nicht!“, blaffte Malte zurück. „Paddelboote haben noch mehr auf der Insel.“ Er drehte sich um und stapfte davon.
Damp schaute ihm mit Dora verdutzt hinter her.
„Können wir?“, fragte Rieder ungeduldig seinen Kollegen.
„Was sollte das? Worum geht es eigentlich?“, fragte Damp ziemlich ungehalten, „darf ich das auch mal erfahren, oder spiele ich wieder den Trottel vom Dienst?“
„Ich verabschiede mich mal“, warf Dora ein, griff nach ihrem Handwagen und lief davon.
„Ich erkläre es Ihnen, aber fahren wir erst mal los. Wo ist eigentlich die Akte von der ‚Ostseetherme‘?“
„Bei der Sparkasse im Tresor.“