Rieder und Damp holten die Akte von der Sparkasse in Vitte ab. Der Angestellte bestätigte Rieder die Bargeschäfte von Peter Stein. Es wäre immer nur so viel Geld auf den Konten gewesen, wie er gebraucht hätte, um die laufenden Kosten für die Firma ‚Inselbau‘ und seine Angestellten zu bezahlen. Kam Geld rein, hatte es Stein immer sofort abgehoben.
Während Damp langsam in Richtung Süderende fuhr, blätterte Rieder in den Unterlagen. Irgendwo musste der Code für den Safe versteckt sein. Aber wo auf den mehreren hundert Seiten? Rieder blätterte jede Seite um. Dann hatte er gefunden, was er suchte. Die Wetterangaben für das Gutachten für die „Ostseetherme Hiddensee“. Die Reihenfolge der Durchschnittswerte. Juli, November, April. Logischer wäre es doch, den April zuerst anzugeben. Außerdem konnten die Werte nur für Juli und November annähernd stimmen. Aber für das Frühjahr waren fünfzehn Grad eindeutig zu hoch. Das war Rieder schon aufgefallen, als er zum ersten Mal die Werte gelesen hatte.
„Hier ist es!“, rief er. Er zeigte Damp das Blatt, der vorsichtig herüberschielte. Er hatte Angst, bei dem Nebel auch nur einen Moment den Blick von der Windschutzscheibe zu wenden.
„Was soll das sein?“
„Die Kombination für den Safe von Peter Stein.“
„Wenn ihn Steins Bruder und der Russe nicht schon geknackt haben“, wandte Damp ein und bremste den Optimismus seines Kollegen. Rieder hatte ihm von seinem Verdacht gegen Jan Stein und seinen Beobachtungen am Paddelboot von Malte Fittkau erzählt.
Rieder riss das Blatt aus dem Ordner, faltete es zusammen und steckte es in seine Brusttasche.
Damp parkte den Streifenwagen wieder am alten Transformatorhäuschen. Heute wirkten die Grafitti-Ungeheuer noch bedrohlicher.
Sie schlichen über den Deich und bewegten sich leicht geduckt im Schutz der Anlage bis zum Haus Peter Steins an der Stranddüne. Schnell wechselten sie die Seite und versteckten sich hinter dem Zaun. Sie glaubten sich geschützt durch die hohen Kiefern, die auch unten an ihren Stämmen dichtes Geäst besaßen. Rieder schaute in Richtung Haus. Nirgends war Licht zu sehen.
Er zog seine Waffe. Damp tat es ihm gleich. Sie rückten in der Hocke vor bis zum Zauntor. Es stand offen. Dann sprinteten beide bis zur Hauswand. Damp war davon schon völlig außer Atem, abgesehen davon, dass sein riesiger Körper selbst in diesem Nebel auffiel. Sie versteckten sich unter dem Fenster des Hauses auf der Ostseite. Rieder spürte, wie seine Aufregung wuchs. Er versuchte sich durch leises Ausatmen zu beruhigen. Vorsichtig blickte er um die Ecke. Die Haustür stand auf. Er zog den Kopf zurück. „Sie sind drin“, flüsterte er Damp zu.
„Sollen wir nicht Verstärkung holen?“
„Erstens gibt es keine Verstärkung, zweitens sind wir wie die zu zweit. Das sollte wohl zu schaffen sein.“
Sie robbten weiter bis zur Haustür. Rieder gab Damp ein Zeichen, dass er ins Haus gehen würde und er ihm im Notfall mit seiner Schusswaffe Deckung geben sollte. Damp nickte zögernd. Sie entsicherten ihre Waffen.
Rieder sprang durch die geöffnete Tür in den Flur, versteckte sich hinterm Treppenabsatz und rief: „Polizei! Kommen Sie heraus! Mit erhobenen Händen!“
Nichts passierte. Rieder winkte Damp mit der Pistole, bis zu ihm aufzurücken. Sein Kollege robbte heran. Dann wand sich Rieder um das Treppengeländer, schob sich an der Wand nach oben und ging langsam Stufe für Stufe hinauf, die Waffe immer im Anschlag. Damp folgte ihm. Als er auf den oberen Flur schauen konnte, sah er jemanden in Steins Schlafzimmer in einem Sessel sitzen. Er nahm noch eine Stufe. Es musste Nemzov sein. Aber warum reagierte er nicht auf Rieders Rufen?
Rieder ging wieder eine Stufe zurück und flüsterte Damp seine Beobachtung ins Ohr. Rieder schlug einen Überraschungsangriff vor. Sie wollten zusammen die Treppe hinaufstürmen. Damit würden sie nur kurz im Schusswinkel Nemzovs sein oder einer Person, die sich noch in diesem Zimmer versteckt halten konnte. Damp verzog das Gesicht, stimmte aber zu. Dann zählte Rieder lautlos von drei herunter und rief: „Los!“ Beide Polizisten sprinteten nach oben. Die Stufen ächzten unter den schweren Schritten von Damp. Dann pressten sie sich an die Wand neben der Schlafzimmertür. Noch immer regte sich nichts. Rieder schaute sich um. Das Arbeitszimmer mit dem großen Fenster auf die Ostsee hinaus schien leer zu sein. Die Tür zum Bad war verschlossen. Nur die Tür zum Schlafzimmer war geöffnet. Er blickte durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen ins Schlafzimmer. Dort saß immer noch Nemzov mit dem Rücken zur Tür. Er hatte sich bisher nicht einmal gerührt. Rieder nahm all seinen Mut zusammen, machte einen großen Schritt in das Zimmer, hielt die Waffe auf Nemzovs Hinterkopf gerichtet: „Herr Nemzov, nehmen Sie die Hände hoch!“
Keine Reaktion. Damp war gefolgt und zielte nun auf Nemzov, während Rieder langsam um den sitzenden Mann herumging. Nemzovs Augen waren aufgerissen. Aus seinem offenen Mund rann ein schmales Blutgerinnsel. Auf seinem Hemd breitete sich um einen dunklen Punkt in der Herzgegend ein dunkelroter feuchter Fleck aus.
„Der ist tot“, erklärte Rieder. Ohne die Waffe aus der Hand zu legen, fühlte er mit der linken Hand an Nemzovs Hals. Kein Puls. Aber er war noch warm. Damp ließ die Waffe sinken und atmete aus. Die ganze Spannung schien aus seinem Körper zu entweichen. Es war nochmal alles gut gegangen. Rieder schaute sich um. Das Bücherregal war von der Wand abgerückt. Offenbar gab es einen Mechanismus, mit dem man einen Flügel vorziehen konnte. Dahinter befand sich in der Wand ein Tresor mit Brandspuren an der Tür. Auf dem Boden davor lag ein tragbares Schweißgerät. Scheinbar eine Miniaturausführung. Rieder hockte sich hin, klopfte an die Flaschen. Leer.
„Da ist ihm wohl die Luft ausgegangen“, sagte er im Aufstehen und spürte plötzlich in seinem Genick kaltes Metall. Eine Pistolenmündung. Er wollte sich rumdrehen zu Damp, sah aber aus den Augenwinkeln, wie der zusammenbrach. Er hatte keinen Schuss gehört. Rieder riss seinen linken Arm hoch und versuchte, dem Angreifer die Pistole wegzuschlagen. Doch sein Gegner hatte das geahnt und war einen Schritt zurückgetreten, so dass sein Schlag ins Leere ging. Vor ihm standen zwei dunkle Gestalten mit weißen Masken. Wie auf dem Radarfoto! Einer richtete seine Pistole direkt auf ihn. Der andere hatte auch eine Waffe in der Hand. Er blickte zu Damp, der sich am Boden wälzte. Er schien getroffen zu sein. Seine Pistole war ihm entglitten und wurde von seinem Gegner für ihn unerreichbar zur Seite geschoben. Rieder hielt seine Waffe noch in der Hand, umfasste sie fester, spannte die Muskeln an, wollte sich hochreißen und sofort abdrücken. Doch sein Gegenüber drückte ihm die Mündung der Pistole auf die Stirn. „Waffe weg!“, nuschelte es durch die Maske. Rieder zögerte.
„Herr Rieder, spielen Sie nicht den Helden. Ich würde keine Sekunde zögern, Sie zu töten.“
Die Stimme war kaum zu verstehen. Es war eine Frau. Das war deutlich an den Brüsten unter der eng anliegenden Kleidung zu erkennen. Die Maskierte winkte noch einmal auffordernd mit ihrer Waffe. Rieder erkannte das Modell. Eine Makarow. Die Waffe war entsichert. Er ließ seine Pistole auf den Boden gleiten. Der zweite Maskierte, von der Figur her ein Mann, sammelte sie sofort ein, bedrohte dann damit Damp, der sich immer noch auf dem Boden wand.
Dann riss die Frau sich die Maske herunter. Rieder sah in das grinsende Gesicht von Ulrike Stein. „Überrascht?“, fragte sie ihn.
Rieder zuckte mit den Achseln. „Und wer ist Ihr Begleiter? Ich schätze, Jan Stein.“
Auch der Mann riss seine Maske ab: „Falsch geraten. Gestatten, von Krenz“, grüßte er übertrieben freundlich.
„Was haben Sie mit Damp gemacht?“
Von Krenz zog aus dem Gürtel seiner schwarzen Hose ein pistolenartiges Gerät und betätigte den Abzug. Statt eines Schusses zuckten Blitze an der Spitze des Laufes. „Ein Elektroschocker. 15.000 Volt haben unseren Freund erst mal schachmatt gesetzt. Aber die Wirkung lässt bald nach. Dann ist er fast wieder der Alte.“
„Sie haben uns ganz schön warten lassen“, bemerkte Ulrike Stein. „Juri hatte einen ziemlichen Vorsprung. Aber, wie sagten Sie so schön, ihm ist die Luft ausgegangen mit seinem kleinen Schweißgerät. Darf ich also um den Code bitten?“
Rieder tat verdutzt: „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
„Die Kombination zum Tresor. Sie befindet sich irgendwo an Ihrem Körper, und wenn Sie nicht scharf darauf sind, mit Damp die Erfahrung eines tausendfachen Stromstoßes zu teilen, sollten Sie den Zettel jetzt herausholen.“
„Keine Ahnung, wovon Sie sprechen“, versuchte Rieder die Frau hinzuhalten.
„Letzte Warnung, Rieder! Kleiner Tipp: Unser Elektronikgenie hat gestern bei Damp in der Uniform eine Wanze positioniert, als er seine Anzeige aufgegeben hat. Die funkt uns alles zu. Auch wie Sie das Blatt mit dem Code aus dem Hefter mit den Unterlagen der, Ostseetherme‘ gerissen haben. Also, wird’s bald?“
Von Krenz unterstrich die Drohung, indem er wieder zweimal den Auslöser des Elektroschockers drückte.
Rieder zog den Zettel aus seiner Hemdtasche und gab ihn Ulrike Stein. Sie reichte ihn gleich weiter an Andreas von Krenz, der sich übereifrig daran machte, damit den Tresor zu öffnen.
„Was ich nicht verstehe ...“
Weiter kam Rieder nicht. „Sie verstehen gar nichts, Rieder! Sie wissen nicht, wie es ist, nach dreißig Jahren aufs tote Gleis geschoben zu werden, nur weil Ihr Ehemann plötzlich in seinen Lenden eine Midlife-Krise spürt, sich in eine Nutte verliebt und alles den Bach runtergeht, was Sie geplant und sich aufgebaut haben. Die ,Ostseetherme Norderende‘ war meine Idee. Peter sollte sie nur umsetzen. Und dann kommt diese Nutte daher, und alles ist Makulatur. Er rennt ihr hinterher wie ein läufiger Hund, selbst als sie ihn schon abgeschossen hat.“
Ulrike Stein redete sich in Rage und gestikulierte dabei mit der entsicherten Waffe. Da unterbrach sie von Krenz: „Die Tür ist auf!“
Rieder drehte sich um. Nemzov hatte nicht gelogen. Im Tresor türmten sich die Geldscheinbündel. Es mussten Millionen sein.
„Hol die Taschen!“, befahl Ulrike Stein. „Aber zuerst fesseln wir die beiden. Nimm dazu ihre Handschellen.“
Von Krenz zog bei Rieder und dem stöhnenden, wehrlosen Damp die Handschellen aus den Etuis an den Gürteln und legte sie ihnen an.
„Setzen Sie sich neben Damp, da können Sie ihn ein bisschen trösten“, wies die Frau an. Von Krenz holte aus dem Untergeschoss mehrere Reisetaschen und begann, das Geld aus dem Safe einzupacken. Dabei lachte er vor Glück.
„Sie haben sowieso keine Chance“, bemerkte Rieder. „Irgendwann wird Verstärkung eintreffen, wenn wir uns nicht melden.“
„Leider können Sie sich nicht melden“, erklärte Ulrike Stein ironisch. „Niemand kann sich von Hiddensee melden oder hier anrufen.“ Sie deutete mit dem Kopf wieder auf von Krenz. „Er hat den Funkmast lahmgelegt. Wie heißt das Gerät, Andreas?“
Von Krenz hielt kurz inne. „Ich habe einen Jammer aufgebaut und damit das Funksignal des Mastes geblockt.“
„Was haben Sie aufgebaut?“
„Einen Störsender.“
Rieder schüttelte den Kopf. Zum einen konnte er nicht fassen, was hier passierte und wie hilflos er war. Zum anderen fragte er sich, was Ulrike Stein und Andreas von Krenz vereinte.
„Wir sind eine Interessengemeinschaft.“ Ulrike Stein schien Rieders Gedanken erraten zu haben. „Peter hat ihm Karin Knoop ausgespannt, und Peter hat mich gegen Karin Knoop ausgetauscht. Dafür mussten nun beide büßen.“
„Und welche Rolle spielt Juri Nemzov?“
„Er gehörte auch zu der Interessengemeinschaft. Bis vor kurzem.“ Sie lächelte wieder gehässig. „Karin Knoop hat in ihrem Haus Unterlagen gefunden, die beweisen, dass Juri seine Bauarbeiter nicht immer nach ganz legalen Methoden rekrutierte. Ihr Mann hatte sie vor seinem Tod unterm Dach im ‚Gasthaus Norderende‘ versteckt. Sie hat es Peter erzählt, und er hat damit Juri unter Druck gesetzt. Kein feiner Zug. Außerdem war auch Juri nicht gerade begeistert vom Ende des ‚Projekts Norderende‘. Ihm war die russische Mafia auf den Fersen. Einige von diesen Leuten wollten ihr Geld dort investieren, hatten Juri eine Provision gezahlt, aber nun hatte er nicht geliefert. Wir hatten auch mal was miteinander. Nun ist er jedenfalls ausgeschieden. Nicht ganz freiwillig, aber immerhin mit seiner eigenen Waffe. Er hat mir die Makarow mal geschenkt.“ Sie lachte auf über ihren Witz.
„Und wie haben Sie es bei ihrem Mann gemacht?“
„Ich kann verstehen, dass Sie nicht unwissend sterben wollen“, lästerte sie. „Andreas hat das Handy geklaut, ich habe die SMS geschrieben, als ich bei den Zabels im Hotel ‚Enddorn’ angekommen bin. Peter antwortete sofort und sagte das Treffen zu. So hörig war er seiner Karin. Dann bin ich in mein Paddelboot in Grieben gestiegen, bis nach Vitte gepaddelt. Wozu war ich mal DDR-Jugendmeisterin im Zweier-Kajak? Vielleicht wäre ich noch Olympiasiegerin geworden, wenn Peter nicht das Auto gegen den Baum gesetzt und mich vorher noch geschwängert hätte. Ich habe am Ziegelort angelegt und bin mit meinem Paddel zum Kino-Wäldchen gewandert. Dann habe ich bei dem alten Kahn gewartet. Peter war etwas überrascht, mich statt Karin zu sehen. Leider konnte er dazu nicht mehr viel sagen, denn da traf ihn schon das Paddel an der Schläfe. Dank meiner Grundausbildung in Nahkampf bei der Zivilverteidigung in der DDR wusste ich, wo ich ihn treffen musste. Ich habe noch gewartet, bis er richtig tot war und bin dann auf dem gleichen Weg zurück.“
„Dann haben die Zabels also gelogen, dass Sie den ganzen Abend bei Ihnen in Grieben waren?“
Sie lächelte. „Mehr als eine Anklage wegen Falschaussage wird sie kaum treffen. Wenn überhaupt.“
„Es könnte auch Beihilfe zum Mord werden ...“
„Haben Sie Beweise?“
Hatte er nicht, musste sich Rieder eingestehen.
„Welche Rolle spielt eigentlich Jan Stein?“
„Keine. Er kam uns nur in die Quere. Andreas suchte am Dienstagabend in Peters Haus nach seinem Testament und nach der Akte, Ostseetherme‘. Ich kannte die Angewohnheit meines Mannes, den Safe-Code immer in der wichtigsten Akte zu verstecken. Aber da erschien besoffen Jan, und Andreas musste sich mit leeren Händen verdrücken.“
„Wo ist Jan Stein jetzt?“
„Keine Ahnung.“
„Er wollte zu Ihnen heute Morgen.“
Ulrike Stein zuckte mit den Schultern: „Würde mich nicht wundern, wenn Sie ihn zwischen Vitte und Kloster irgendwo besoffen finden würden.“ Sie lachte kurz auf: „Oh, sorry: Sie ja nicht mehr!“
Damp stöhnte leise auf. Er schien keine Krämpfe mehr zu haben. Dafür wirkte er schläfrig. Seine Lider waren halboffen. Er atmete stoßweise.
„Und Karin Knoop?“
„Sie brauchte Geld, nachdem sie dem großzügigen Spender Peter den Laufpass gegeben hatte. Sie wurde wieder aktiv als ‚Küstenschwalbe‘. Klingt das nicht süß? ‚Küstenschwalbe‘!“ Ulrike Stein prustete. „Ich wusste von ihrem Nebenjob als Nutte durch Juri. Wir wollen die Dinge doch mal beim Namen nennen. Da habe ich den Freier gespielt, mich verabredet. Ich bin dann mit dem Paddelboot nach Seehof. So habe ich heute übrigens auch Nemzov abgeholt.“ Sie machte eine Pause, zog aus einer Schachtel Zigaretten in ihrer Hosentasche eine filterlose Zigarette. Es handelte sich um dieselbe Marke wie die Kippe, die Rieder auf dem Autohof Nemzovs gefunden hatte. Nachdem sie sich die Zigarette angezündet hatte, ohne dabei die Pistole von den Polizisten zu wenden, bot sie Rieder auch eine an. Er lehnte ab. „Dann nicht. Wo waren wir stehengeblieben?“, überlegte sie kurz. „Ach ja. Jedenfalls, am Mittwoch haben wir ‚Kleiner Fährverkehr‘ gespielt. Seine beiden Knechte sind mit meinem Boot zurück nach Vitte und haben in Knoops Haus und Kneipe nach den Papieren von ihrem Mann gesucht und nach dem Testament von Peter. Leider vergeblich. Ich bin unterdessen mit dem Jeep der beiden nach Binz, zu Karin ins Hotel. Irgendwie brachte ich es aber nicht übers Herz, ihr völlig das Licht auszuknipsen. War ein Fehler.“
Rieder hoffte, dass Ulrike vielleicht kurz unaufmerksam werden würde und er aufspringen und ihr die Waffe aus der Hand schlagen könnte. Dazu wäre es sicher am besten, das Gespräch am Laufen halten. „Wer hat denn eigentlich versucht, bei Charlotte einzubrechen?“
„Ich!“, erklärte Ulrike Stein.
„Aber Sie haben sich doch am Abend mit Jan Stein getroffen, in Ihrem Haus in Kloster.“
„Stimmt, aber nachdem er weg war, bin ich mit dem Boot nach Neuendorf. Ich brauche da eine knappe Stunde. Leider waren Sie noch wach, sonst hätte ich mir die Unterlagen schnappen können, und wir müssten hier nicht mehr dieses Theater spielen, sondern wären schon über alle Berge.“
Wie aufs Stichwort verkündete von Krenz: „Fertig mit Einpacken!“
Ulrike Stein schaute auf die Uhr.
„Wir liegen gut in der Zeit. Eigentlich wollten wir bis zum Einbruch der Dunkelheit warten, aber vielleicht ist es besser, wir nutzen den Nebel und verlieren nicht weiter Zeit.“
Sie wandte sich an Rieder und Damp: „Meine Herren, es geht auf Ihre letzte Reise. Los, aufstehen!“
Rieder quälte sich auf die Beine. Damp war unfähig, aufzustehen. Er litt noch deutlich unter den Folgen des Stromschlags.
„Helfen Sie Ihrem Kollegen!“
„Wie soll ich ihm helfen mit gefesselten Händen?“
Sie rief von Krenz nach, der die Taschen mit dem Geld nach unten brachte, er solle einen Eimer Wasser mit nach oben bringen.
Als er damit erschien, wies sie ihn an, das Wasser über Damp zu kippen. Der schüttelte sich nach dem Guss. Seine Lebensgeister schienen zu erwachen. Von Krenz zog ihn mit Mühe auf die Beine.
„Alles verladen?“, fragte Ulrike Stein ihren Komplizen.
Von Krenz nickte: „Wir können los.“ Er schaute auf den toten Nemzov. „Was machen wir mit ihm?“
„Nichts, oder willst du ihn als Handgepäck aufgeben?“
„Aber ...“
„Nichts ‚aber‘! Los jetzt! Nimm ihre Waffen und ziel auf sie, damit sie uns nicht ausbüchsen.“
Dann befahlen sie Damp und Rieder, die Treppe nach unten zu gehen. Vor der Haustür mussten sie stehenbleiben. Ulrike Stein schaute hinaus, ob die Luft rein ist. Sie war einen Moment weg. Als sich Rieder umschaute, um eine Fluchtmöglichkeit zu suchen, bekam er von Krenz einen Schlag auf den Hinterkopf: „Keine Bewegung!“
Ulrike Stein kam wieder zurück. „Keine Sau unterwegs bei dem Wetter. Vorwärts!“, kommandierte sie.
Im Gänsemarsch gingen sie aus dem Haus auf einem Trampelpfad über die Düne hinunter zum Strand. Rieder hatte im Stillen gehofft, dass Nelly vielleicht doch mit Verstärkung auf die Insel gekommen sei, weil er sich so lange nicht gemeldet hatte, und eine Befreiungsaktion starten würde. Doch nichts tat sich. Er musste der Tatsache ins Auge sehen, dass Damp und er ihrem Schicksal überlassen blieben. Ulrike Stein kannte keine Gnade. Das hatte sie bei ihrem Mann, Karin Knoop und Juri Nemzov bewiesen. Sie war voller Hass. Andreas von Krenz war ihr Werkzeug. Auch von ihm hatten Damp und er keine Hilfe zu erwarten. Sein Kollege torkelte hinter ihm, immer wieder durch Schläge mit der Pistole von Ulrike Stein angetrieben. Am Ende des Trupps zog von Krenz eine Sackkarre hinter sich her, auf die er die Taschen mit dem Geld geschnallt hatte.
Am Strand lag es! Das Paddelboot, Marke „Pouch“. Daneben die Paddel mit der roten Kante. Rieder machte sich Vorwürfe. Er erinnerte sich an die Begegnung im Hafen, nach der Verhaftung von Dora Ekkehard. Damals war Ulrike Stein nicht Richtung Kloster, sondern zum Hafen gegangen. Warum hatte er sich nie gefragt, wie sie an diesem Tag nach Kloster zurückgekommen sei? Nun war es zu spät. Aber eines bewegte ihn noch: „Wie sind eigentlich die Ruder zum Zeltkino gekommen? Denn Sie haben Ihren Mann mit Ihrem eigenen Paddel erschlagen.“
Ulrike Stein grinste ihn an. „Die Ruder waren noch im Angelkahn. Als Möselbeck am Morgen in der Kapelle davon faselte, wie Peter erschlagen worden sei, kam mir die Idee, die Sache Dora in die Schuhe zu schieben und sie damit auch loszuwerden.“ Sie nickte mit dem Kopf zu von Krenz. „Ich habe Andreas angerufen, und er hat die Ruder geholt und bei Dora versteckt. Ich hatte ja schon genug damit zu tun, Jan Stein das Handy unterzuschieben. Nun wollen wir aber keine Zeit mehr verlieren.“
Ulrike Stein befahl den Polizisten, stehenzubleiben. „Sie haben Glück. Wenn es weiter Westwind gegeben hätte, dann hätten wir Sie gleich im Haus erledigt“, erklärte sie. „Aber nun bläst ein schöner ablandiger Wind. So sollen Sie eine Chance bekommen. Andreas, bring das Boot ins Wasser!“, wies sie von Krenz an. „Schön weit raus, damit es auch schwimmt mit unseren beiden Passagieren.“
Von Krenz schleppte das Boot in die Ostsee, bis er knietief im Wasser stand. „Darf ich bitten, meine Herren!“, befahl Ulrike Stein. „Würden Sie im Boot Platz nehmen?“
Rieder und Damp gingen ins Wasser. Rieder spürte kaum die Kälte der See. Sein Körper fieberte vor Angst. Er überlegte, noch einen Versuch zu wagen, Ulrike Stein zum Aufgeben zu überreden, doch ein Blick in ihre kalten Augen reichte, davon Abstand zu nehmen. Damp musste, weil er größer war, vorn einsteigen. Rieder hinten. Einen Moment lang glomm in Rieder etwas Hoffnung auf. Die Steueranlage. Sie stand direkt vor seinen Füßen. Er berührte sie mit seinen Fußsohlen, probierte, ob sie sich bewegte. Doch Ulrike Stein hatte es gesehen.
Ihr Komplize kappte die Leinen zwischen dem Steuer im Boot und dem Ruder an seinem Heck. Dann gab er dem Paddelboot einen heftigen Schub. Langsam trieben Rieder und Damp an den Buhnen vorbei auf das offene Meer.
„Gute Reise!“, rief ihnen Ulrike Stein noch nach. Von Krenz lachte laut. Schnell trieb das leichte Boot trotz des Gewichts der beiden Polizisten über die Buhnen hinaus auf die offene See. Dann fiel ein Schuss. Rieder drehte sich um. Von Krenz sank in die Knie, kippte zur Seite und klatschte ins Wasser.
„Was war das?“ Der Knall hatte Damp aus seinem Dämmerzustand geweckt.
„Frau Stein hat auch ihre Interessengemeinschaft mit von Krenz gerade gekündigt.“
Sie hörten, wie Ulrike Stein lachte und aus dem Wasser watete. Rieder schaute noch einmal. Die Frau nahm die Sackkarre mit den Geldtaschen und verschwand in den Dünen.
„Ob sie uns jetzt auch erledigt? Von hinten?“
Rieder hörte die Angst in der Stimme von Damp. ‚Eigentlich sind wir das doch schon‘, dachte er sich. Auch wenn der Wellengang bisher nicht besonders hoch war, aber im Nebel und der hereinbrechenden Dunkelheit waren sie mit dem Paddelboot praktisch unsichtbar. Die Schiffe auf hoher See würden es nicht mal spüren, wenn sie das Boot rammten und unter Wasser drückten.
Laut sagte er: „Ich glaube nicht. Sie ist weg.“
„Ist auch egal“, stöhnte Damp. „Von Krenz hat mir erzählt, wie viele Schiffe da draußen auf der Ostsee hin- und herfahren. Eins wird uns schon erwischen.“ Er schien Rieder Gedanken erraten zu haben.
„Wir dürfen nicht aufgeben“, erwiderte Rieder, hörte aber selbst, dass es nicht überzeugend klang.
Der Wind drehte leicht Richtung Nordwest. Sie waren schon zu weit draußen, um noch am Fuße der Steilküste des Dornbusches im Norden der Insel zu stranden. Der Nebel löste sich langsam auf. Übers Meer hörte man Tonfetzen vom Zeltkino in Norderende.
Charlotte! Rieder dachte an seine Freundin. Sie war jetzt dort am Zeltkino, mit ihrem Lachen, dem wippenden Pferdeschwanz, ihren strahlenden Augen. Sein Betrug ihr gegenüber machte ihm selbst jetzt, in dieser aussichtslosen Situation, ein schlechtes Gewissen. Diese Sünde würde ihm nicht mehr vergeben werden.
Irgendwann war Hiddensee nicht mehr zu sehen. Endlos erschien das Meer. Nahezu lautlos glitt das Boot über die Ostsee dahin. Nur manchmal gluckste das Wasser unter dem Kiel, wenn es ein Wellental durchschnitt und das Gestänge des Bootskörpers ächzte. Durch die Bootshaut spürten Rieder und Damp mehr und mehr die Kälte des Meeres. Über ihnen breitete sich ein dunkler Himmel aus. Ohne Sterne. Ohne Mond. Nur ein schwacher Strahl strich regelmäßig über die schwarzglänzende See und das Boot mit den Polizisten. Rieder drehte sich noch einmal um. Das Letzte, was er von Hiddensee sah, war das Licht des Leuchtturms.