Wie der Sternenhimmel über der Ostsee – so funkelte das Licht der alten Laterne durch die kleinen Löcher im Stoff des Zeltkinos in Vitte. Auf der nicht mehr ganz taufrischen Leinwand umwarb ein brummiger Gerard Depardieu eine kesse Blondine. „Chanson d’amour“ stand auf dem Programm. Der Film war ganz nach dem Geschmack des Publikums. Jedenfalls war der erste Auftritt Depardieus von einem Chor wollüstiger Seufzer des nahezu ausschließlich weiblichen Publikums aufgenommen worden. In dicke Fleecejacken und knallgelbe Ostfriesennerze gehüllt, drängten sie sich auf dem harten Kinogestühl. Dazu lag ein Hauch von Mückenschutzmittel in der Luft. Die warmen Körper in der feuchten Nachtluft des späten Septembers lockten die Quälgeister in Scharen herbei und ließen sie satte Beute machen.

Die Zeit des Altweibersommers war die Saison der alleinstehenden Frauen auf Hiddensee. In Scharen strömten sie auf die Ostseeinsel. Im Sommer hatten sie auf Urlaub verzichtet, damit Familien mit Kindern in die Ferien fahren konnten. Single-Männer zog es offenbar nicht gleichermaßen zum Inselurlaub. Sie waren jetzt zum Leidwesen der zahlreichen Touristinnen auf der Insel Mangelware.

Fast uniform waren die Frisuren der Frauen im Publikum. Halblang, gern etwas asymmetrisch geschnitten, pflegeleicht und praktisch für jedes Wetter, das die Insel jetzt bot: Sonnenschein, Sturm und Regen. Dazu baumelte einseitig an den Ohren bunter Modeschmuck in Form geometrischer Figuren: Kreise, Dreiecke oder Filzgebilde.

Birte war die Ausnahme. Sie war die einzige Frau, die an diesem Abend ein kurzes Sommerkleid trug. Und sie war mit einem Mann erschienen. Ihr war es egal, ob sich der französische Barde auf der Leinwandbühne noch zu einem Happy End sang. Ihr Interesse galt ausschließlich Markus. Seit die Lichter ausgegangen waren, knutschten sie wie Teenager, stießen sich dabei ihre Rippen an den harten Lehnen des Kinogestühls und ließen sich auch nicht vom kritischen Räuspern und Hüsteln ihrer Hinterfrauen stören.

Birte spürte, wie ihr die Erregung ins Gesicht stieg. Markus hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt und strich mit seinen Fingerspitzen, scheinbar zufällig, über die Seite ihrer linken Brust. Schwärme von Schmetterlingen durchzogen Birtes Bauch. Ein Gefühl, das sie seit Jahren vermisst hatte.

Der Abspann ertönte. Während die Namen der Darsteller über die Leinwand flimmerten, ging langsam das Licht an. Die Kinobeleuchtung bestand aus alten DDR-Wandlampen und warf nur Dämmerlicht in das Kinozelt. Das Publikum schälte sich aus den engen Sitzen. Beine und Arme wurden mit leisem Stöhnen gestreckt. Den Blick nach unten gerichtet, um nicht auf dem Kopfsteinpflaster zu stolpern, strömte man dem Ausgang entgegen.

Birte und Markus saßen noch. Sie schauten sich in die Augen. Ihre Gesichter waren verschwitzt.

„Und was jetzt? Zu Sebastian und Katharina zurück?“, fragte Markus.

Sebastian und Katharina waren ein Freundespaar, das Birte und Markus getrennt voneinander vor Jahren kennengelernt hatten. Sie besaßen ein kleines Ferienhaus in der Dünenheide zwischen Vitte und Neuendorf. Sie hatten die beiden eingeladen, einen Teil des Urlaubs mit ihnen auf Hiddensee zu verbringen. Dort hatten sich Birte und Markus das erste Mal gesehen und waren sofort füreinander entflammt. Markus war ein Mittvierziger, nahezu einsneunzig groß, muskulös mit dichtem schwarzen Haar, das hier und da von grauen Strähnen durchzogen wurde. Ein Mann im besten Alter. Er arbeitete als Politikberater in Berlin. Markus war geschieden. Er litt unter der Trennung von seinen beiden Kindern. Aber hier auf der Insel hatten sich seine Sorgen in Luft aufgelöst. Der Grund war Birte. Sie hatte Kulturwissenschaft studiert, arbeitete als freischaffende Fotografin. Mehr schlecht als recht schlug sie sich durchs Leben. Mit Aufträgen für Design- und Hotelfotografie kam sie gerade so über die Runden. Sie musste deshalb ab und zu eine Hochzeitsfeier ablichten, um weiter die Miete zahlen zu können. Knapp bei Kasse, konnte sie sich eigentlich keinen Urlaub leisten. So kam ihr die Einladung auf die Insel gerade recht.

Seit Markus vor drei Tagen auf der Insel erschienen war, schwebte die kleine blonde Frau mit dem lockigen Kurzhaarschnitt geradezu über die holprigen Straßen von Hiddensee.

Allerdings spürten Birte und Markus, dass die Situation für ihre Gastgeber nicht ganz einfach war. Nachdem sich die beiden nun seit zweieinhalb Tagen anschmachteten, kam eigentlich kein vernünftiges Gespräch mehr zustande. Sebastian und Katharina wirkten angespannt und überfordert. Vielleicht waren sie auch bloß eifersüchtig auf das junge Glück.

Deshalb wäre es nicht gut, dachte sich Birte, jetzt zu Sebastian und Katharina zu fahren und sie als Ohrenzeugen an ihrer zweiten Liebesnacht teilhaben zu lassen. Die beiden Schlafzimmer im Obergeschoss des Ferienhauses waren lediglich durch eine dünne Wand getrennt. Privatsphäre gab es praktisch nicht.

„Wir könnten noch was unternehmen“, schlug Birte vor. „Sebastian und Katharina werden uns wahrscheinlich nicht vermissen.“

Markus zog die Augenbrauen nach oben.

„Ganz sicher nicht! Denen geht unser Flirtalarm nämlich total auf die Nerven. Vielleicht brauchen sie mal ’ne Pause.“

„Habe ich gar nicht mitbekommen ... Also zurück an den Strand?“

Dort hatten sie vor dem Kino lange Zeit eng umschlungen gesessen und dem Anschlagen der Wellen zugeschaut.

Birte schlug die Augen nieder. Sie bohrte ihre Schuhspitze in eine der Sandfugen zwischen den Pflastersteinen des Kinobodens. „Ich habe da vorhin einen kleinen Abzweig kurz hinter der Düne gesehen. Da liegt ein altes Ruderboot. Ist vielleicht ein ganz nettes Plätzchen für ...“

Markus grinste: „Gute Idee.“

Draußen nahm sie Markus an die Hand. Sie gingen am Kino vorbei in Richtung Strand. Der Weg war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Orientierung bot nur das Glitzern der Ostsee im Mondschein. Kurz vor dem asphaltierten Dünenweg zog Birte Markus nach rechts. Sie zwängten sich an Sanddornsträuchern vorbei in das kleine Strandwäldchen. Dort lag das alte Ruderboot, den Kiel nach oben. Markus setzte sich und nahm Birte auf den Schoß. Sie schlang ihre Beine um seine Hüften. Die beiden begannen sich heftig zu küssen. Markus schob seine Hände unter Birtes Kleid und fühlte ihre nackten Beine.

Sie versuchte, seine Hose zu öffnen. Er hielt sie kurz zurück.

„Warte mal. Ich steh’ mal kurz auf.“

Während Markus seine Hose auszog, ging Birte etwas zur Seite. So ein großer Mann brauchte einen großen Bewegungsspielraum. Plötzlich spürte sie an ihren Waden einen Widerstand. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte mit wedelnden Armen nach hinten, fiel aber weich auf eine Art Stoffballen. Zuerst dachte sie, es wäre vielleicht ein Fischernetz. Doch als sie sich mit ihren Händen abstützen wollte, um wieder aufzustehen, spürte sie menschliche Haut. Birtes Schrei durchschnitt die laue Herbstnacht.